In ihren TV-Shows reden Väter über depressive Söhne und Frauen über Eheprobleme. Oh Eun Young hat ein Millionenpublikum – aber nicht nur Bewunderer.

Ein Jugendlicher, der sich wegen Angstattacken nicht aus seinem Zimmer wagt, ein Mädchen mit einer schweren Essstörung oder ein Bub, der notorisch seine Eltern bestiehlt: Die Psychiaterin Oh Eun Young behandelt eine breite Palette von psychischen Störungen, Beziehungs- und Erziehungsproblemen im Fernsehen.

Ihre Sendungen heissen «Meine goldigen Kinder» oder «Ehehölle», und die Kamera ist immer ganz nah dran. Sie fängt Bilder von kleineren und grösseren Dramen ein, die sich hinter den Vorhängen koreanischer Wohnungen abspielen. Es wird geheult, geschrien, getröstet.

Eine Frau mit einer Mission

Die auf Kinder und Jugendliche spezialisierte Psychiaterin besuchte ihre Klienten in der Anfangsphase der TV-Shows zu Hause. Nach Ausbruch der Pandemie fuhr nur noch ein Kamerateam hin. Die Protagonisten schauen sich später im Studio die Filmsequenzen mit Dr. Oh an. Die Psychiaterin kommentiert, stellt Fragen und erteilt Ratschläge.

Neben ihrer Fernseharbeit führt die 58-jährige Oh im schicken Seouler Stadtteil Gangnam eine Praxis. Dort suchen sie Patienten auf, die kein Scheinwerferlicht mögen. Im selben Bürogebäude befinden sich ein Juwelier und ein Haushaltsgeschäft, das Salatschleudern anpreist. Aufgeregte Kinderstimmen ertönen aus dem Therapiezentrum.

Ohs Behandlungszimmer gleicht einem Spielzimmer. Plüschelefanten, Walfische mit offenen Mäulern und zottelige Schafe stehen auf einem Gestell für junge Patienten bereit. Oh – Dauerwelle, hohe Absätze, mit einem Dauerlächeln – legt Wert darauf, zunächst ihren Werdegang ausführlich zu schildern.

Die Mutter eines erwachsenen Sohnes studierte an der Universität Yonsei in Seoul Medizin und Psychiatrie. Später wurde sie eine der jüngsten Professorinnen Koreas. Schon früh fiel ihr das ungenügende Behandlungsangebot auf. Und sie stellte fest, dass psychische Leiden absolute Tabuthemen waren.

In Korea hält sich der Irrglaube, wonach psychische Störungen vor allem schwache Menschen beträfen, ebenso hartnäckig wie andere Vorurteile. Darüber zu reden, ist schwierig. Oh erklärt das Schweigen über psychische Probleme auch als Folge der konfuzianischen Kultur, die Korea seit 500 Jahren präge. «Koreanerinnen und Koreanern fällt es schwer, das Herz gegenüber andern zu öffnen und Dinge zu erzählen, die sie belasten.»

Das Bewusstsein für psychische Gesundheit zu schärfen, ist Ohs Mission. Sie meint das durchaus auch in einem religiösen Sinn. Oh streicht die christlichen Wurzeln ihrer Alma Mater hervor. Daraus leitet sie ihr gesellschaftliches Engagement für das psychische Wohlergehen der Nation ab. Das Fernsehen sei dafür das ideale Medium. «Wir leben in einem Medienzeitalter.» 2005 startete sie ihre TV-Karriere.

In einer ihrer frühen Sendungen sammelte Dr. Oh, wie sie in Korea alle nennen, in einer Wohnung Stromkabel, Schuhlöffel und Fliegenklatsche ein. Eltern hatten damit ihre Kinder gezüchtigt. Koreas bekannteste Therapeutin hat die Körperstrafe-Utensilien demonstrativ entsorgt.

Oh lehnt physische Strafen dezidiert ab. Doch will sie die Eltern deswegen nicht pauschal verurteilen. «Sie greifen zu Körperstrafen, weil sie ihre Kinder gerne haben und verhindern wollen, dass sie auf eine falsche Bahn geraten. Körperstrafen sind die einzige Methode, die sie kennen, um ein Fehlverhalten zu korrigieren.» In ihrer TV-Therapie will Oh aufzeigen, dass das auch anders geht: «Statt sich anzuschreien, müssen Eltern und Kinder oder Ehepartner wieder lernen, fruchtbare Gespräche zu führen.»

In Folge 63 von «Ehehölle» berät Oh einen Ehemann, der schnell aus der Haut fährt. In Nr. 64 hat sie mit einem Paar zu tun, das gemeinsam eine Metzgerei betreibt, aber wegen des unterschiedlichen Temperaments der Eheleute häufig aneinandergerät. Sie sagt, er sei fahrig und ein Hitzkopf. Er sagt, sie sei langsam und uninspiriert.

Die Star-Psychiaterin der Nation

Behandelte Oh zunächst Erziehungs- und Eheprobleme, weitete sie ihr Themenspektrum kontinuierlich aus. In einer Sendung packen Alkoholiker aus. Ein anderes Format thematisiert Südkoreas Nachwuchskrise: Was muss getan werden, damit die Frauen wieder mehr Kinder wollen? Das Land hat eine der tiefsten Geburtenraten der Welt.

Ohs Sendungen werden über Streamingdienste, soziale Netzwerke und andere Kanäle verbreitet. Die mediale Omnipräsenz – Oh schreibt auch Bücher und Kolumnen oder hält Vorträge – hat ihr zu einem grossen Bekanntheitsgrad verholfen. So macht sie Werbung für einen Krankenversicherer oder lächelt im Namen einer Telekommunikationsfirma von Plakaten.

Die auf allen Kanälen tätige Psychiaterin erhält in Fachkreisen viel Zuspruch. Viele Koreaner nähmen sie wie eine Mutter wahr, der sie sich öffnen könnten, sagte die koreanisch-amerikanische Psychiaterin Yesie Yoon der «New York Times». Ihre Popularität habe auch dazu beigetragen, dass sich viele Koreanerinnen und Koreaner nicht mehr schämten, bei psychischen Problemen Hilfe zu holen.

Statistiken deuten diesbezüglich auf einen enormen Nachholbedarf hin. Laut dem Nationalen Zentrum für psychische Gesundheit leidet jeder Fünfte in Korea während der Lebenszeit einmal unter psychischen Störungen. Allerdings begibt sich nur eine von 55 Personen in Behandlung.

Südkorea hat die höchste Suizidrate unter den Industriestaaten

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Wenig erstaunlich, verzeichnet Südkorea eine der höchsten Suizidraten weltweit. Stark betroffen sind junge Erwachsene: In ihrer Altersgruppe geht mehr als die Hälfte der Todesfälle auf Suizid zurück. Im Urteil von Fachleuten kommen viele mit den Ansprüchen der extrem leistungsorientierten Gesellschaft Koreas nicht zurecht.

Ohs Kritiker nennen ihre Ansätze «zu simplifizierend»

Ohs Medienarbeit ist jedoch nicht unbestritten und hat schon heftige Kontroversen ausgelöst. In einer Folge betatschte ein Stiefvater die siebenjährige Tochter vor laufenden Kameras. Der Psychiaterin wurde vorgehalten, sie sei nicht gegen diese sexuelle Belästigung eingeschritten. Es hagelte Beschwerden an die koreanische Medienaufsicht.

Die Psychiaterin rechtfertigte sich damit, dass einzelne Sequenzen herausgeschnitten worden seien und daher das Publikum keinen adäquaten Eindruck davon erhalten habe, was sich tatsächlich zugetragen habe. Als Reaktion auf den Skandal wurde die Sendung für zwei Wochen ausgesetzt.

Lee Yoon Kyang, sie präsidiert eine südkoreanische Elternvereinigung, anerkennt zwar, dass es Oh durch ihre Shows gelungen ist, psychische Probleme zu enttabuisieren. Andererseits sagt sie: «Oft werden Patentrezepte präsentiert, mir ist das zu simplifizierend.» Zudem beobachtet sie, dass Eltern Ohs Ratschläge oft wie eine göttliche Botschaft aufsaugen.

Die problematischen Seiten der TV-Therapie

Beim Interview in ihrem Therapiezentrum geht sie gelassen auf die Kritik ein; nur ein tiefes Einatmen zwischendurch lässt vermuten, dass sie viele Anwürfe für ungerechtfertigt hält. Sie verteidigt zum Beispiel die Praxis, die Gesichter von Kindern und anderen Personen auch in hochemotionalen Szenen nicht zu verpixeln. «Menschen, deren Gesichter unkenntlich gemacht werden, nimmt das Publikum als suspekt, wenn nicht sogar als kriminell wahr.»

Die Psychiaterin stellt nicht in Abrede, dass ihre «Fernsehtherapie» problematische Seiten hat. Aber sie versuche, diese zu minimieren. Grundsätzliche Zweifel hegt sie nicht. «Meine Sendungen sensibilisieren die Bevölkerung für das Thema psychische Gesundheit.» Eine unverfängliche Aussage, der kaum jemand widersprechen dürfte.

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