In Zürich-West hat der Kanton Zürich einst der linken Stadt seinen Willen aufgezwungen. Dreissig Jahre später begehren drei Männer dagegen auf. Mit Erfolg.

Sie haben sich nichts Geringeres vorgenommen, als die Stadt zu retten.

Sie – das sind drei Männer namens Seiz, Hofer und Gantenbein, die sich gerade konzentriert an Zürich-West abarbeiten, in kurzer Zeit eine Idee nach der anderen zur Umgestaltung dieses Stadtteils lancieren. Mehr Wohnungen wollen sie, mehr Grün. Und obwohl sie sich klar links verorten, nehmen sie es auch mit dem linken Stadtrat auf.

Niemand macht den Fehler, diese drei Pensionäre zu belächeln. Letzten Herbst hängte ein Liegenschaftenbesitzer gar ein sechs Stockwerke hohes Plakat auf, um vor ihnen zu warnen.

Denn im Gegensatz zu den üblichen Hobby-Revolutionären verfügen sie über die flüssigen Mittel, die Strategie und die Kontakte, um etwas zu bewegen.

Vor allem aber haben sie konkrete Erfolge vorzuweisen. Sie haben ein grosses privates Bauprojekt verhindert, das ihnen nicht passte, und die Stadt dazu gezwungen, eine weit fortgeschrittene Planung über den Haufen zu werfen. Etwas, das normalerweise in Zürich nicht passiert.

Wer sind diese drei Männer, die es auf ihre alten Tage nochmals wissen wollen?

Der Holzhändler, der zum Mäzen wurde

Zwei von ihnen sind bereit, zu erzählen. Der Dritte im Bunde, Martin Seiz, ist notorisch öffentlichkeitsscheu und weigert sich, am Gespräch mit der NZZ teilzunehmen. Er würde sich zu sehr aufregen, lässt er ausrichten.

So sitzen am Tisch: Jakob «Köbi» Gantenbein, Schnauz, Dreitagebart, Glatze und Filzhut, Typus gemütlicher Bündner. Und Martin Hofer, weiss gewelltes Haar, weites, kragenloses Hemd, eindringlicher Blick, Typus exzentrischer Kreativer.

Die beiden Männer sind beide 68 Jahre alt. Sie haben sich ein Berufsleben lang mit Zürich-West auseinandergesetzt. Sie kennen sich seit 30 Jahren. Und sie sind Freunde.

Der studierte Architekt Hofer hat sich einen Namen gemacht, als er das Unternehmen Wüest Partner vor über 30 Jahren mitbegründete. Dieses mischte den Immobilienmarkt auf, indem es die Angebotspreise – davor eine Black Box – systematisch sammelte und zu Analysen verdichtete. Wüest Partner ist seit Jahrzehnten eine Grösse in diesem Geschäft. Und Hofer mit allen in der Branche per Du.

Hofer sagt: «Studien zu Zürich-West hat es viele gegeben, aber kaum eine hat etwas ausgelöst.» Bewegung schaffe man nur mit konkreten Ideen, die man gut verkaufe.

Gantenbein, von Haus aus Soziologe, war in den achtziger Jahren ebenfalls Mitgründer, in seinem Fall der Zeitschrift «Hochparterre»: ein Magazin, das sich der Architektur und der Stadtplanung verschrieben hat und dessen Urteil Gewicht hat in der Branche. Immer wieder stösst es Debatten an und mischt sich ein.

«Interventionistisch» nennt Gantenbein diesen Ansatz: nicht nur sagen, wie es ist, sondern wie es sein soll.

Der Abwesende, Martin Seiz, ist 86 Jahre alt. Er ist der Mann im Hintergrund mit den finanziellen Mitteln. Seiz war Inhaber der traditionsreichen Zürcher Holzhandlung Hartwag. Die Firma gibt es immer noch, sie ist aber aus der Stadt nach Buchs, Kanton Zürich, gezogen. Seiz wurde Immobilienbesitzer und Mäzen.

1988 gründete er die Hamasil-Stiftung, die sich für Nachhaltigkeit einsetzt. Es ist das Jahr, als die Uno den Weltklimarat ins Leben ruft; vier Jahre später unterzeichnen 178 Staaten in Rio de Janeiro die Agenda 21. All das hat grossen Einfluss auf Seiz.

Der Holzhändler, der sich den Wäldern verbunden fühlt, unterstützt Aufforstungsprojekte in Bhutan ebenso wie einen Klima-Wanderweg von Ilanz bis Genf. Der Name Hamasil setzt sich zusammen aus dem Firmennamen Hartwag sowie den Vornamen von Martin Seitz und seiner Frau Silvia.

Ganz besonders interessiert er sich aber für Zürich-West. Hier besitzt er viele seiner Liegenschaften. Schon Ende der neunziger Jahre macht er sich Sorgen, dass sich das Quartier in die falsche Richtung entwickelt: zu viel Beton, zu wenige Wohnungen, zu wenig Leben.

Er wendet sich an Hofer, und der bestärkt seinen Verdacht. 30 Prozent Wohnanteil seien das Minimum für ein lebendiges Quartier, rechnet er aus. In Zürich-West komme man maximal auf 20 Prozent. Fazit: «Das Quartier ist zu einem bestimmten Grad bereits verloren.»

Seiz will das nicht hinnehmen, doch mit seinem Engagement eckt er an. Bei der Stadt gilt er bald als mühsamer Querschläger. Er stemmt sich gegen den Bau des Prime Tower, heute ein Wahrzeichen des Quartiers, und er bekämpft vor Gericht auch die Tramverbindungen über die Hardbrücke. Der geplante Schienenverlauf stört ihn. Beides tut er ohne Erfolg.

Martin Hofer weist auf Seiz’ Errungenschaften für das Quartier hin: Seine Siedlung «Kulturpark» ist eine der wenigen Wohnsiedlungen, die es dort gibt. Auch das Restaurant «Les Halles», seit Jahrzehnten wichtig für die Belebung von Zürich-West, ist bei ihm eingemietet.

Wenn man Seiz Eigennutz unterstellt, da er die Aufwertung seiner eigenen Liegenschaften im Sinn habe, widerspricht Köbi Gantenbein: Seiz sei ein «Gesinnungstäter», der die Welt mit seinen Mitteln verbessern wolle. Der höhere Wohnanteil, für den er kämpfe, sei ein gemeinnütziges Anliegen.

Der Kampf um Zürich-West

Weshalb sich die drei Männer ausgerechnet ins ehemalige Industriequartier Zürich-West verbissen haben, liegt auf der Hand. Es ist ein Ort, der Stadtplaner und Architekten jucken muss – vor allem, wenn sie aus der linken Ecke stammen. Der Kampf um diesen Stadtteil, das ist heute fast vergessen, war einmal ein knallharter Politthriller. Er riss damals Wunden auf, die bei der politischen Linken nie ganz verheilt sind.

Ende der achtziger Jahre kehren prägende Firmen dem alten Industriegebiet den Rücken: Steinfels, Sulzer, Schöller, Maag. Die Grundeigentümer wittern ihre Chance: Sie wollen einen modernen Finanzdistrikt hochziehen. Bürotürme statt Turbinen – der bürgerliche Stadtrat steht dahinter. Die Linken, die von einem durchmischten Gebiet mit Wohnungen und Parks träumen, stehen auf verlorenem Posten.

Doch 1990 ereignet sich ein politisches Erdbeben. Die Linke gewinnt die Wahlen, stellt zusammen mit der Mitte plötzlich die Mehrheit in Stadtrat und Parlament. Und die SP-Hochbauvorsteherin Ursula Koch, als erklärte Spekulationsgegnerin ein rotes Tuch für viele Grundeigentümer, schlägt einen neuen Kurs ein.

Zwei Jahre später gelingt ihr ein Coup: Sie bringt an der Urne eine Bau- und Zonenordnung durch, die den Umbau von Zürich-West stoppt. Obwohl sie alle Parteien ausser SP und Grünen gegen sich hat, alle Wirtschaftsverbände und alle Zeitungen. Die Industriezonen sollen Industriezonen bleiben. Koch erhofft sich so mehr Verhandlungsmacht: Wer etwas anderes bauen will, muss Konzessionen eingehen.

Die Gegenseite tobt. Es kommt zu Hunderten von Rekursen und – weil sich keine Seite durchsetzen kann – zur totalen Blockade. Drei Jahre später gelingt den Verlierern der überraschende Gegenschlag. Der kantonale SVP-Baudirektor Hans Hofmann zwingt der Stadt wegen verpasster Fristen eine andere Bau- und Zonenordnung auf. Sie erfüllt die alten Wünsche der Grundeigentümer und Investoren: Büros, Hochhäuser, mehr Dichte.

Ende der neunziger Jahre kommt es zwar zu Annäherungsversuchen und Kompromissen zwischen den zerstrittenen Lagern, aber eine verbindende Gesamtvision für Zürich-West kommt nie mehr zustande. Jeder Eigentümer schaut auf die eigene Parzelle, und linke Organisationen stören, wo sie können.

Das Ergebnis finden nicht nur die notorischen Nörgler unbefriedigend. Sogar der damalige Chef von Mobimo, einer der grossen Immobilienfirmen, die in Zürich-West aktiv sind, wird dieses Jahre später deutlich kritisieren: Dem Quartier fehle es an Leben, es habe eine ordnende Hand gefehlt.

Wenig überraschend, dass sich Typen wie Gantenbein und Hofer berufen fühlen, diesen Job zu übernehmen. Schon vor 20 Jahren erschien ein Hochparterre-Themenheft mit dem provokativen Titel: «Reisst die Hardbrücke nieder».

Eigentlich befanden sie sich inzwischen im Vorruhestand und waren bereit, das Feld anderen zu überlassen. Hofer wohnt nicht mehr in Zürich-West, sondern in Gockhausen. Und Gantenbein hat der Stadt, in der er 39 Jahre lang lebte, vor drei Jahren den Rücken gekehrt und für sein Magazin eine Stiftung gegründet, die seinen Nachfolgern gehört. Er zog in seine Heimat, die Bündner Herrschaft.

Dort erreichte ihn im Frühjahr 2022 ein Anruf, Martin Seiz am Apparat: Man müsse jetzt endlich etwas unternehmen, Zürich-West entwickle sich noch immer in die falsche Richtung. So erzählt es Gantenbein. «Ich sagte: ‹Hör zu, ich weiss nicht einmal mehr, wie man Zürich schreibt.›» Doch er besann sich um, auch aus alter Loyalität zu Seiz, der ihn bei vielen Projekten finanziell unterstützt hatte.

Wenn die drei spätberufenen Revoluzzer Einfluss auf ein fremdes Areal in Zürich-West nehmen wollen, folgen sie immer dem gleichen Muster.

Zuerst lassen sie ihr grosses persönliches Netzwerk spielen. Sie laden Leute, die sie interessant finden, zu einem Brainstorming ein: Raumentwicklerinnen, Landschaftsarchitekten und Soziologen, aber zum Beispiel auch junge Beizer. Zwei Vormittage à drei Stunden. Der Auftrag dieses intensiven Mini-Think-Tanks: ein konkreter Vorschlag für mehr Wohnanteil.

Dann feilen sie an den Details, bis alles wasserdicht ist. Dazu gehören auch kostspielige Gutachten, die sie sich nur dank Seiz leisten können. Das sei entscheidend, sagt Gantenbein. «Wir gehen nicht wie junge Stiere auf die Leute los – die Fachleute dürfen sich auf keinen Fall einen Schranz in den Bauch lachen.»

Steht das Projekt, werden ausgewählte Figuren der Lokalpolitik umgarnt. Und Gantenbein stellt ein Themenheft von «Hochparterre» zusammen. Jede dieser Nummern soll ein Manifest sein, das einen Wirkungstreffer erzielt.

Ein ungeschriebenes Gesetz wird gebrochen

In der breiteren Öffentlichkeit tritt die Gruppe, die sich Interessengemeinschaft Zentrum Hardbrücke nennt, erstmals im Oktober 2023 in Erscheinung. Da manövrieren sie die Mächtigen dieser Stadt in deren eigenem Spiel erfolgreich aus.

Sie brechen ein ungeschriebenes Gesetz. Es besagt: Der Stadtrat bestimmt, was in Zürich auf städtischem Land gebaut wird. Und er wirft eine jahrelange Planung gewiss nicht im letzten Moment über den Haufen, nur weil irgendjemand meint, es besser zu wissen.

Und doch passiert genau das. Kurz vor dem Architekturwettbewerb fürs Josef-Areal in Zürich-West tritt diese Gruppe von Einzelpersonen ohne politisches Mandat auf den Plan und sagt im Wesentlichen: Alles falsch. Man müsse dort nicht nur 130 Wohnungen bauen, sondern 600.

Ein Affront gegen den Stadtrat. Aber der politische Druck wird so gross, dass dieser sich schliesslich beugen muss.

Beim Maag-Areal agiert sie nicht nur mittels PR-Kampagne, sondern auch mit gerichtlichen Einsprachen. Sie verhindert dort einen Neubau der Firma Welti-Furrer. Die Wohnungen, die geplant seien, seien zu klein und die Architektur zu monoton. Dagegen wiederum wehrt sich der Bauherr Welti-Furrer mit einem grossen Plakat: «Hamasil verhindert hier Wohnungen für tausend Franken». Zuletzt hat die Gruppe im Juni die Idee lanciert, auf dem Autobahnzubringer der Pfingstweidstrasse Bäume zu pflanzen, Spuren abzubauen und Tempo 30 einzuführen.

Vier Ideen hat die Gruppe bisher formuliert. Ausser auf das Josef-Areal, die Pfingstweidstrasse und das Maag-Areal zielt sie auf das Gebiet unter der Hardbrücke. Eine Art blinder Fleck, ein Ort, an dem heute in erster Linie Parkplätze zu finden sind. Was genau sie dort vorhaben, geben die drei Männer noch nicht preis. Es soll nicht der letzte Streich der Gruppe sein. «Wir müssen ja die Stadt retten», sagt Jakob Gantenbein.

Er sagt das mit einem Augenzwinkern, von dem man sich nicht täuschen lassen darf.

Es ist ihnen absolut ernst damit.

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