Sonntag, Januar 19

Die Verhängung des Kriegsrechts und die Amtsenthebung von Präsident Yoon Suk Yeol spalten Südkorea zunehmend. Nach dem gewaltsamen Sturm eines Gerichts wurden 86 Personen verhaftet.

Nach der kurzzeitigen Verhängung des Kriegsrechts erlebt Südkorea Schock um Schock. Kaum hatte das zuständige Bezirksgericht Seoul West am Sonntagmorgen um 2 Uhr 59 (Ortszeit) eine Haftverlängerung für den angeklagten Präsidenten Yoon Suk Yeol bewilligt, drangen mehrere hundert Anhänger des Präsidenten in das Gebäude ein und verwüsteten es. Erst um sechs Uhr morgens meldete die Polizei, die Lage sei wieder unter Kontrolle.

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Die konservative Tageszeitung «Chosun Ilbo» nannte das Geschehen «drei Stunden ‹Amoklauf im Gericht›.» Fernsehbilder zeigen, wie Demonstranten die Polizeikette am Eingang mit Feuerlöschern besprühen, Türen einschlagen und Büros zerstören. Doch die Bilder untertrieben, meint Chun Dae Yup vom Obersten Gerichtshof des Landes nach einem Besuch des Gerichts.

Die Situation sei «10 bis 20 Mal schrecklicher als das, was ich im Fernsehen gesehen habe», sagte Chun nach einer Besichtigung des Bezirksgerichts Seoul West. So etwas habe er in seiner Laufbahn noch nicht erlebt. Es handle sich um eine Verletzung der Rechtsstaatlichkeit und «ein schweres Verbrechen». 86 Demonstranten wurden vor Ort festgenommen.

Eskalation nach Verhängung des Kriegsrechts

Es ist der erste grosse Gewaltausbruch, nachdem Yoon am 3. Dezember 2024 überraschend das Kriegsrecht verhängt hat. Sein Versuch, das Parlament auszuschalten, scheiterte nach wenigen Stunden friedlich. Auch die Entscheidung des Parlaments, ihn seines Amtes zu entheben, löste keine Gewalt aus. Doch seit er vergangene Woche als erster amtierender Präsident Südkoreas verhaftet wurde, eskaliert die Stimmung.

Yoon selbst weist die Ermittlungen des Amts für Korruptionsermittlungen für hochrangige Beamte (CIO) gegen ihn als rechtswidrig zurück und verweigert auch in Haft weiterhin die Aussage. Stattdessen erklärte er am Mittwoch in einer handschriftlichen Erklärung, dass er mit dem Kriegsrecht lediglich die liberale Demokratie gegen Staatsfeinde verteidigen und angeblichen Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen im Frühjahr 2024 nachweisen wollte.

Damals gewann die oppositionelle Demokratische Partei die absolute Mehrheit, und sie blockiert seitdem die Regierung nach Kräften. Hieb- und stichfeste Beweise für einen grossangelegten Wahlbetrug gibt es aber bis jetzt nicht, eine Parallele zur Wahlbetrugslüge von US-Präsident Donald Trump über die amerikanischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020.

Bei seinen Anhängern aus dem rechten Lager scheint Yoon damit allerdings gut anzukommen. Am Samstag demonstrierten nach Polizeiangaben 44 000 Anhänger des Präsidenten vor dem Gerichtsgebäude für seine Freilassung und gegen die Amtsenthebung. Dabei schlugen die Emotionen hoch, bis sie in der Nacht in Gewalt eskalierten. Der Chef der Demokraten, Lee Jae Myung, verurteilte die Ausschreitungen als «unentschuldbare Handlungen», die die Justiz und die Demokratie gefährden würden.

Die Beteiligten appellieren an Frieden und den Rechtsstaat

Der Schock sitzt tief. Sowohl der Interimspräsident Choi Sang Mok als auch Yoon riefen zur Deeskalation auf. «Ich bedauere zutiefst die Gewalt, die in einer demokratischen Gesellschaft unvorstellbar ist», teilte Choi in einer Erklärung mit. Er forderte die Polizei auf, «diesen Vorfall, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit untergräbt, im Einklang mit dem Gesetz und den Prinzipien gründlich zu untersuchen» und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Auch Yoon meldete sich aus der Haft zu Wort. «Ich rufe die Menschen auf, ihre Meinung friedlich zu äussern», so wurde er von seinen Anwälten zitiert. Der Präsident sei zutiefst überrascht und traurig gewesen, als er von der Situation erfahren habe, die sich heute Morgen im Bezirksgericht West ereignet habe.

Er sei besonders betrübt über die Nachricht, dass eine grosse Anzahl junger Menschen beteiligt gewesen sei, und befürchte, dass der Versuch, das Problem mit physischen Mitteln zu lösen, nicht nur für das Land, sondern auch für den Einzelnen sehr verletzend sein könne.

Auch Richter Chun vom Obersten Gerichtshof rief zur Besonnenheit auf. «Ich weiss, dass die öffentliche Meinung gespalten ist», sagte er. Aber die Fragen müssten in dem von der Verfassung vorgeschriebenen Gerichtsverfahren geklärt werden, um das Land zu schützen. «Wir bitten um Verständnis.»

Das Konfliktpotenzial bleibt hoch

Ob die Appelle ausreichen, um die wachsenden politischen Spannungen in Südkorea zu beruhigen, bleibt abzuwarten. Denn die Fronten bleiben verhärtet, und die juristische Aufarbeitung von Kriegsrecht und Amtsenthebung könnte immer wieder zu Protesten von Yoons Gegnern und Anhängern führen.

Kurzfristig wird die Verhaftung Yoons die Gemüter bewegen. Das Amt für Korruptionsermittlungen gegen hochrangige Beamte ermittelt gegen ihn wegen der Verhängung des Kriegsrechts. Nach dem erneuten Haftbefehl hat es nun bis zum 26. Januar Zeit, den Präsidenten zu verhören, bevor der Fall an die Staatsanwaltschaft übergeben wird.

Es wird erwartet, dass die Staatsanwälte ihren ehemaligen Kollegen Yoon dann nach spätestens weiteren zehn Tagen offiziell anklagen werden. Es gibt also genügend Gründe für neue Proteste, um Yoon in seiner Verweigerungshaltung zu unterstützen. Denn der ehemalige Generalstaatsanwalt Südkoreas weigert sich bis anhin, auszusagen, und ficht die Rechtmässigkeit der Ermittlungen und des Amtsenthebungsverfahrens an.

Gleichzeitig läuft das Amtsenthebungsverfahren gegen Yoon weiter. Das Verfassungsgericht muss in den nächsten knapp 140 Tagen letztinstanzlich über den Antrag des Parlaments entscheiden. Nur wenn sechs der offiziell neun Richterinnen und Richter dem Amtsenthebungsantrag zustimmen, ist Yoon endgültig abgesetzt.

60 Tage nach dem Beschluss würde dann der Präsident neu gewählt. Die Anhörungen im Verfahren haben vergangene Woche begonnen. Auch hier könnten sich die politischen Spannungen weiter verschärfen. Denn die Parteien laufen sich bereits für den möglichen Präsidentschaftswahlkampf warm, der schon im Mai stattfinden könnte.

Die linken Demokraten können immer weniger von Yoons Putschversuch profitieren. Laut einer Umfrage von letzter Woche hat Yoons konservative People Power Party die Demokraten sogar knapp überholt. Es bleibt also spannend in Südkorea.

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