Zu Lebzeiten nicht mehr als ein Gerücht, hat die vor hundert Jahren geborene Autorin ein bedeutendes Werk hinterlassen, das die Traumata ihres Lebens in Verse formte. Der Schatz wurde erst nach ihrem Tod gehoben.

Als im Jahr 1985 der Band mit ausgewählten Gedichten von Inge Müller unter dem Titel «Wenn ich schon sterben muss» erschien, war dies ein Ereignis. Nicht allein aus dem Grund, dass Publikationen in der DDR häufig aufgrund von Papiermangel um ein paar Jahre verschoben werden mussten, sondern weil hier ein lyrisches Werk gehoben wurde, das seit den 1960er Jahren im Giftschrank des Aufbau-Verlages gelegen hatte. Erst Mitte der 1980er Jahre lockerte sich die Zensur. Ein solches Buch im Laden zu bekommen, war keine Selbstverständlichkeit.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Ich erinnere mich daran, als ich das erste Mal ein Gedicht von Inge Müller las. Es stand im Programmheft des Deutschen Theaters, und es muss im Herbst 1987 gewesen sein: «Wie kann man Gedichte machen / Leiser als der Atem von Mund zu Mund / Härter als Leben / Weich wie Wasser, das den Stein überlebt? / Wie kann man keine Gedichte machen?» Gerade siebzehnjährig geworden, war ich beeindruckt, geradezu ergriffen. Ich hatte damals bereits begonnen, meinen Idolen auf einer alten Schreibmaschine nachzueifern. Inge Müller, plötzlich wie aus dem Nichts erschienen, gehörte fortan zu dieser Garde.

Was ich über Inge Müller erfuhr, fügte sich über viele Jahre erst langsam zu einem Bild zusammen, von dem immer Ausschnitte fehlen werden, so wie von einem zerbrochenen Spiegel Scherben übrigbleiben, die nicht wieder zusammengefügt werden können. Das im Leben von Inge Müller entscheidende Ereignis geschah kurz vor Kriegsende. Im Mai 1945 ist sie drei Tage lang, zusammen mit einem schwarzen Schäferhund, in einem Hohlraum unter den Trümmern eines Wohnhauses in der Schwedter Strasse im Berliner Prenzlauer Berg verschüttet.

In diesen letzten Kriegstagen ist sie als Flakhelferin nahe der Schönhauser Allee im Einsatz und gehört zum sogenannt letzten Aufgebot in einem sinnlosen und längst verlorenen Krieg. Aus den Trümmern befreit, kann sie ihre Eltern nur noch tot bergen. Als sie nach einer Karre sucht und wenig später zurückkommt, ist der Ringfinger der Mutter samt Ring abgeschnitten. Die sterblichen Überreste bringt sie zu einem Massengrab.

Last des Überlebens

Dieses Trauma hat Inge Müller in drei Gedichten mit dem Titel «Unterm Schutt I–III» sprichwörtlich aus den Trümmern zusammengetragen. Im dritten Teil erzählt sie von ihrem Schicksal und dem des Schäferhundes: «Als ich Wasser holte fiel ein Haus auf mich / Wir haben das Haus getragen / Der vergessene Hund und ich. / Fragt mich nicht wie / Ich erinnere mich nicht. / Fragt den Hund wie.»

Es ist der kürzeste aus der Reihe dieser drei Texte. Aufs Äusserste reduziert, man könnte meinen roh wie das zusammengestürzte Gemäuer und nackt wie alles Überleben in einer Katastrophensituation, spricht das Gedicht von jenem Moment, als Inge Müller durch die Keller lief, um Wasser für die Flakbatterie zu holen. Wie überlebt man, wenn man dem Tode geweiht ist? Überleben evoziert hier auch etwas Unwirkliches: übriggeblieben zu sein neben Millionen von Opfern. Wie soll diese Last der Erinnerung zu tragen sein?

Ingeborg Meyer wird am 13. März 1925 in Berlin in einfachen Verhältnissen geboren. Ihre Mutter ist eine strenge preussische Offizierstochter, die das Kind züchtigt und die aus der Familie ausgestossen wird, weil sie einen mittellosen Aussiedler aus Schlesien geheiratet hat. Das Mädchen wächst hinein in den Nationalsozialismus, wird später Krieg und Töten, Kadavergehorsam und Denunziantentum in ihren Texten geisseln: «Führerbefehl: Die deutsche Frau raucht nicht. (Die Rote Armee stand vor Danzig.) In der Zeitung stand: weibliche Ehrenpflicht Einberufen. Jahrgang fünfundzwanzig.»

Nach dem Krieg heiratet Inge Müller aus Panik einen Schulfreund und bringt einen Sohn zur Welt. Kurz darauf lässt sie sich scheiden. Ihr neuer Ehemann, Direktor des berühmten Friedrichstadt-Palasts, Herbert Schwenkner, ebnet ihr den Weg zur Arbeit an Kinderrevuen. Darauf macht sie Bekanntschaft mit dem vier Jahre jüngeren Autor Heiner Müller, in den sie sich verliebt. Gemeinsam unternehmen sie Recherchefahrten in die sozialistische Grossindustrie, die sich im Aufbau befindet.

Bald folgt die Trennung von Schwenkner, und die Zusammenarbeit mit Heiner Müller an Texten intensiviert sich. Die beiden heiraten. Inge Müller schreibt Kinderbücher. 1961 wird Heiner Müllers Stück «Die Umsiedlerin» verboten, es folgen der Rauswurf aus dem Schriftstellerverband und ein Berufsverbot. Die Familie gerät in finanzielle Not und Isolation. Inge Müller verdient mit Auftragsarbeiten den Notgroschen.

Im Juni 1966 nimmt sie sich im Alter von einundvierzig Jahren das Leben. Noch Dekaden später geistert sie durch die Texte von Heiner Müller. Im Theaterstück «Die Hamletmaschine» kehrt sie als Ophelia zurück: «Die Frau am Strick, (. . .) die Frau mit dem Kopf im Gasherd. Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern.»

Heiner Müllers Versäumnis

Wer war diese Wiedergängerin, die zu Lebzeiten allenfalls als Kinderbuch- und Hörspielautorin in der DDR bekannt war? Wie ihre Biografin Ines Geipel erzählt, fragte man sich in den Underground-Kneipen von Ostberlin kurz nach 1989, wer die dunkle Schöne an der Seite des Stückeschreibers war und wo ihre Texte verblieben sind, von denen niemand so recht wusste. Durch die Theaterkantinen ging ein Raunen, wenn jemand ihren Namen erwähnte. Sie war ein Gerücht und blieb ein Geheimtipp.

Ihr Nachlass lag Jahrzehnte brach. Heiner Müller hatte kein Interesse, ihn zu sichten, geschweige denn zu publizieren. Aus Ignoranz oder Kalkül? Eine schlüssige Antwort gibt es nicht. Ebenso wird niemand je genau erfahren, welchen Anteil Inge Müller am Stück «Der Lohndrücker» hatte, das 1956 aufgeführt wurde und das Ostdeutschlands Theater radikal verändert hat. Sie sei «eine Säule im Unternehmen Heiner Müller» gewesen, schreibt Richard Pietrass, Herausgeber der Nachlasspublikation, die irgendwann nicht mehr gebraucht worden sei und sich zurückgezogen habe in Alkohol und Einsamkeit.

«ICH STEH MIT EINEM BEIN IM GRAB / Was mach ich mit dem zweiten. / Ich muss dich doch begleiten. / Ich hack das zweite ab.» Auf dem Akkordeon spielte sie sich das Lied vom Tod und übte jahrelang den Freitod mit Rasierklingen, Tabletten und Gas. Zerbrochene Liebe, zerstörte Sehnsüchte und das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, wurden bestimmend in ihrem Leben.

Wahr ist auch, dass Inge Müller bitter begreifen musste, dass sie als Stückeschreiberin ihrem Mann nicht ebenbürtig war. Blieben die poetischen Texte, häufig gereimt, gestisch die Hand ausstreckend, die niemand nahm. Geschult an Bertolt Brecht, erst als Kinderlied und später im freien Vers. Das Einfache, das so schwer ist, wenn es nicht banal sein will. Silben aus Schmerz und mitunter ein Aufbegehren gegen die Duckmäuser, den alten und den neuen Staat.

Ihre Gedichte besitzen die Schönheit der Morgenröte. Sie hat sie kaum jemandem gezeigt, eine Zeitlang hielten sie sie am Leben. Wer sie gelesen hat, ist nicht mehr derselbe, der er war. Zu tief gehen die Schnitte und Ritzungen. Inge Müllers Gedichte sind Brandlöcher im Erinnerten. Sie gehören zu den seltenen Schätzen, die man von Zeit zu Zeit zur Hand nimmt, wenn man nicht weiterweiss. Dann liest man wieder und versteht, was sie sah, als sie schrieb: «Es ist viel / Wenn sie sich erinnern / Und keine Literatur.»

Die Geschichte hört nicht auf

So man von der Poesie als Ausdruck eines Mutes der Schwachen spricht, findet man hier das Exemplarische: Jenes dünne, brüchige Eis der Existenz, über das wenige gehen und gegangen sind, wird das Terrain ihrer Dichtung. Die Spanne zwischen Leben und Tod dabei immer geringer. Ihr Werk ist jedoch nicht vom Endpunkt, dem Suizid, zu lesen, sondern von der Zahl 45, die sich im Titel mehrerer Gedichte findet: als Signal und Chiffre für das Ungeheure.

Für Inge Müller hatten der Krieg und das Grauen nicht einfach aufgehört, sie war in ihrem «Jetztmorgengestern» gefangen, sie blieb die Verschüttete, die sich immer wieder aus den Trümmern herausgraben musste. Dass mit ihrem Werk etwas überdauert, länger hält als ein einzelnes Leben, zeigen die Gedichte auf wundersame Weise. Zu verdanken ist dies auch der Autorin Ines Geipel, die gegen alle Widerstände den Nachlass der Dichterin aufgestöbert hat und 1996 in dem umfangreichen Band «Irgendwo, noch einmal möcht ich sehn» einer grösseren Leserschaft zugänglich gemacht hat.

Wenn man es in einem Satz sagen müsste, dann in diesem: «Die Wahrheit leise und unerträglich.» Was häufig ungenau als Stunde null bezeichnet wurde, tritt uns in Inge Müllers Gedichten entgegen als Zäsur und Einschluss in Zeit und Raum, auch als Eingemauertsein einer Frau in den Hohlraum einer repressiven Nachkriegsgesellschaft. Sie schrieb gegen das Verdrängen dessen, was Krieg für den eigenen Körper und die Psyche bedeutet.

In Zeiten neuer Kriege und des Terrors sind ihre Verse wichtiger denn je. Sie stellen sich gegen das Vergessen und Verschweigen, sie halten die Wunde offen. Inge Müller gilt heute, nicht nur im Osten Deutschlands, als eine Ikone der Lyrik des 20. Jahrhunderts. Gerade das Authentische, nicht als Modewort aus Werbung und Medien, sondern als etwas Wahrhaftiges, als Übereinstimmung von Inhalt und Form, Ethik und Ästhetik, Sinn und Klang, durchzieht diese Texte und macht sie einzigartig.

Sie schrieb einige der berührendsten Verse aus der Mitte des letzten Jahrhunderts: «MOND NEUMOND DEINE SICHEL / Mäht unsre Zeit wie Gras / Wir stehn aufrecht am Himmel / Auf dünnem Stundenglas. / Der Stern geht seine Wege / Wir suchen unsern Weg / Wenn ich mich niederlege / Geh über mich hinweg.»

Tom Schulz ist Schriftsteller und lebt in Deutschland und Italien. Zuletzt erschien 2024 sein Gedichtband «Die Erde hebt uns auf» im Verlag Poetenladen.

Exit mobile version