Sonntag, September 29

Mit Muriel Furrer stirbt zum zweiten Mal innert 15 Monaten eine Schweizer Nachwuchshoffnung des Radsports. Die Fahrer trauern, verdrängen – und alle fragen sich: Wie konnte das passieren?

Samstagmittag in Uster. Die sechs Fahrerinnen des Schweizer Nationalteams stehen Arm in Arm an der Startlinie zum WM-Strassenrennen. Die orangen Regenjacken leuchten im Dauerregen dieses düsteren Tages. Eine Fahrerin weint. Es läuft eine Schweigeminute für ihre Teamkollegin. Muriel Furrer erlag am Freitag im Alter von 18 Jahren den schweren Kopfverletzungen, die sie tags davor bei einem Sturz im Rennen der Juniorinnen erlitten hatte.

Die Involvierten der Rad- und Para-Cycling-WM in Zürich meistern in diesen Tagen einen schwierigen Spagat: Eine junge Fahrerin verliert am siebten Renntag ihr Leben, dennoch gehen die Wettkämpfe weiter, es wird um Weltmeistertitel gekämpft.

Es sind Tage zwischen Hoffnung und Trauer. Zwischen Betroffenheit und dem Versuch, im Weitermachen Sinn zu finden. Der Swiss-Cycling-Geschäftsführer Thomas Peter sagt: «Wir leben wie in zwei Welten.»

Es sind auch Tage mit vielen offenen Fragen.

Donnerstagabend, 18 Uhr 30. Die Organisatoren teilen mit, die U-19-Fahrerin Muriel Furrer sei aus noch ungeklärten Gründen in einem Waldstück gestürzt. Sie habe ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten und befinde sich in einem sehr kritischen Zustand. Sie wurde mit dem Rettungshelikopter ins Unispital Zürich geflogen und notoperiert.

Das Rennen der Juniorinnen hatte zwischen 10 und 12 Uhr stattgefunden. Bis zum Zeitpunkt der Erklärung sickerten nie Informationen über einen schweren Unfall durch; Swiss Cycling erfuhr im Verlaufe des Nachmittags, wie gravierend die Verletzungen von Furrer waren, worauf zuerst die verschiedenen Teams im Einsatz informiert wurden.

Wie Furrer zu Fall kam und was in der Zeit danach passiert ist, bleibt das grosse Rätsel der Tragödie. Nach heutigem Stand wurde der Sturz von niemandem beobachtet, Furrer war zu diesem Zeitpunkt wohl allein unterwegs. Die zuständige Kantonspolizei und die Staatsanwaltschaft ermitteln zum Unfallhergang; die Organisatoren und der Weltverband UCI lehnen unter Verweis auf die laufenden Ermittlungen jede Stellungnahme dazu ab.

Klar ist, in welchem Waldstück Furrer verunglückt ist. Die Strasse zieht sich dort geschwungen durch den Wald vor dem Küsnachter Ortseingang. Sie ist steil, aber die Kurven gelten nicht als heikel. Während des Rennens regnete es heftig, die Strasse dürfte rutschig gewesen sein. Furrer ist nur wenige Kilometer entfernt in Egg aufgewachsen, sie kennt jede Strasse in der Nähe in- und auswendig.

Im Video der Übertragung eines späteren Rennens sieht man an einer Stelle im Wald zwei Krankenwagen und Polizeiautos stehen. Der «Blick» brachte als Erstes die Vermutung auf, dass Furrer längere Zeit unentdeckt im Wald gelegen habe. Zuschauer in der Region hätten während des ganzen Rennens der Juniorinnen keinen Rettungseinsatz beobachtet. Es gibt Hinweise, die diese Vermutung stützen.

Die Erstversorgung von Furrer geschah durch einen Krankenwagen, später kam die Rega. Die Flug-Tracker-Website Flightaware verzeichnet einen Helikoptereinsatz nach Küsnacht um 12 Uhr 52. Die Rega bestätigte auf Anfrage der NZZ, dass ein Helikopter am Donnerstag zu diesem Zeitpunkt einen Einsatz ab Zürich geflogen sei. Es war der erste an diesem Tag. Um diese Uhrzeit war das Rennen der Juniorinnen aber bereits seit einer Stunde zu Ende.

Bei der Zeitmessung nach der ersten Runde am Sechseläutenplatz, welche die Fahrerinnen ungefähr eine Stunde vor der Zieleinfahrt passierten, kam Furrer gemäss der UCI-Analyse des Rennens nie vorbei; das deutet darauf hin, dass sie in der ersten Runde gestürzt ist.

Wie kann es sein, dass eine Fahrerin während eines WM-Rennens verschwindet? Dass keine Mitfahrerin, kein Streckenposten, kein Begleitauto den Sturz bemerkt hat? Anders als bei Rennen der World Tour sind die Fahrerinnen an Weltmeisterschaften nicht per Funk mit den Trainern im Teamauto verbunden. Das könnte beim zerstückelten Feld die Übersicht über das Renngeschehen erschwert haben. Die Velos sind zwar mit einem GPS-Tracker ausgestattet, dessen Informationen dienen aber primär der TV-Berichterstattung. Auch sie werden von der Polizei ausgewertet.

Der Donnerstag: Erinnerungen an Gino Mäder

Als am Donnerstagabend über den kritischen Zustand von Furrer informiert wird, sammeln sich unter ihrem letzten Eintrag auf Instagram rasch Genesungswünsche. Auch Sandra Mäder wünscht der Familie Furrer viel Kraft. Sie ist die Mutter von Gino Mäder, dem Schweizer Radfahrer, der im Juni 2023 an der Tour de Suisse tödlich verunglückt ist. Er stürzte bei der Abfahrt vom Albulapass. Auch bei ihm war es eine Strasse, die er davor unzählige Male gefahren war.

Mäder ist allgegenwärtig in diesen Tagen in Zürich. In der Nähe von Furrers Unfallstelle ziert Mäders Name die Strasse, Fans hatten ihn vor einer Tour-de-Suisse-Etappe dorthin gemalt. Nach Mäders Tod gab es statt einer Etappe eine Gedenkfahrt, danach wurde das Rennen fortgeführt. Viele Fahrer stiegen aus, einige wollten in einer ersten Reaktion nie mehr Velo fahren. Anderen tat die gewohnte Struktur eines Rennens gut, sie fuhren weiter.

Dass der Schweizer Radsport innerhalb von 15 Monaten zweimal eine Zukunftshoffnung verloren hat, ist schwer zu fassen. Wie bei jedem Unfall stellt sich sofort die Frage zur Sicherheit im Radsport. Die Fahrerinnen und Fahrer sind heute schneller unterwegs als früher, auch wegen Verbesserungen des Materials. Wenige Tage nach Mäders Unfall im Juni 2023 kamen Funktionäre und Organisatoren mit Team- und Fahrervertretern zusammen und gelangten zu dem Schluss, beim Thema Sicherheit müsse etwas passieren. Tatsächlich passiert ist bisher aber wenig. Das liegt auch daran, dass es zahlreiche Ursachen von Stürzen gibt.

Bei Swiss Cycling hat Mäders Tod konkrete Aktionen ausgelöst. Mit der Universität Bern und der UCI arbeitet man derzeit daran, ein Studiendesign aufzubauen, um individualisierte Helme zu entwickeln. Der Swiss-Cycling-Geschäftsführer Thomas Peter sagte gegenüber SRF, man hoffe, in den kommenden Jahren die ersten Prototypen fertigen zu können.

Der Freitag: die traurige Gewissheit

Freitagmorgen, 8 Uhr 25, die nächste Mitteilung: Der Zustand von Furrer sei weiterhin sehr kritisch. Doch die WM werden gemäss Rennprogramm fortgesetzt, «nach Absprache mit und im Sinne der Familie». Swiss Cycling steht in jenen Tagen vor allem mit dem Vater in Kontakt. Dieser wünscht sich auch, dass möglichst viele Schweizerinnen und Schweizer am Start der weiteren Rennen stehen.

Dass am Freitag kein Frauenrennen stattfindet, gibt dem Verband die Chance, durchzuatmen. Schon seit Donnerstagnachmittag steht den Fahrerinnen und Fahrern im Teamhotel in Kloten dasselbe Care-Team zur Verfügung, das der Verband auch schon nach Mäders Tod aufgeboten hat. Swiss Cycling lässt es den Fahrerinnen und dem Staff offen, ob sie weiterhin im Einsatz sein möchten.

Das Frauen-Nationalteam begibt sich um 11 Uhr auf eine lockere Fahrt auf der WM-Strecke, inklusive des City Circuits, sie passieren auch die Unfallstelle. Im betroffenen Abschnitt im Wald haben die Organisatoren unterdessen die Sicherheitsvorkehrungen ausgebaut: mehr Streckenposten, Bäume mit Matten abgedeckt; Waldwege sind in der Nähe der vermuteten Unfallstelle durch ein Band abgesperrt, um Schaulustige abzuhalten.

Um 14 Uhr 47 kommt die Mitteilung, dass Muriel Furrer ihren schweren Kopfverletzungen erlegen ist. Das SRF lässt die Übertragung des U-23-Rennens der Männer ohne Kommentar weiterlaufen. Jan Christen, einer der hoffnungsvollsten Nachwuchsfahrer der Schweiz, kämpft lange allein vor dem Feld um den Sieg. Wenige Kilometer vor dem Ziel wird er schliesslich gestellt, er wird Vierter. «Ich habe heute alles, was ich hatte, für Muriel da draussen gelassen», schreibt er später in den sozialen Netzwerken.

Die Zeremonie wird verkürzt, findet vor bedrückten Zuschauern statt. Die Fahnen hängen für den Rest der WM auf halbmast, Veranstaltungen des Rahmenprogramms werden abgesagt.

Gleichzeitig nehmen sich wenige Meter daneben im Kongresshaus der WM-Rennleiter Olivier Senn und der UCI-Sportdirektor Peter Van Den Abeele ein paar Minuten Zeit für Fragen der Journalisten. Die meisten können sie nicht beantworten, immer wieder wird auf die Ermittlungen der Behörden verwiesen. Am Laptop von Senn klebt ein Sticker der «Ride for Gino»-Bewegung, einer Spendensammlung, die nach Mäders Tod ins Leben gerufen wurde. Senn war auch damals an vorderster Front dabei, er ist Direktor der Tour de Suisse, er vermittelte und kommunizierte, entschied und organisierte.

Im Internet drückt die Schweizer Sportwelt ihre Betroffenheit aus: Bundesrätin und Sportministerin Viola Amherd, die Olympiasieger Fabian Cancellara und Nino Schurter reagieren mit Entsetzen auf den Tod der jungen Athletin.

Furrer war eine äusserst vielseitige und technisch versierte Fahrerin. Sie profilierte sich vor allem als Mountainbikerin und Radquerfahrerin, war aber auch schon Schweizer Meisterin auf der Bahn und in allen Disziplinen für internationale Meisterschaften aufgeboten. Im Mai dieses Jahres holte sie mit der Staffel Bronze an den Junioren-EM im Cross-Country, im Einzel wurde sie Fünfte.

Auf ihrem Instagram-Profil nimmt man Furrer als junge Frau wahr, die trainings- und lernfreudig war und aus jedem Rennwochenende etwas Positives ziehen konnte. Sie teilte ihre Gedanken mit ihren Followern und schrieb auch, wie ihr der Glaube an Gott half. Swiss Cycling und ihre Teamkolleginnen bezeichnen sie in ihrem Abschied als warmherzige, positive und bescheidene junge Frau, die immer ein Lächeln auf ihrem Gesicht hatte.

Nach ihrem Tod steht erneut die Frage im Raum: Wie weiter? Nochmals bekräftigt die Familie Furrer, dass die Rennen stattfinden sollen. Wäre es anders gewesen, hätte sich Swiss Cycling bei der UCI und dem OK für einen Abbruch eingesetzt.

Der Samstag: Rennen fahren für Muriel

Samstagvormittag, 9 Uhr 30. Es regnet, schon wieder. Marc Hirschi sagt im Video-Call aus dem Teamhotel, er habe die letzten Tage auf Mallorca verbracht, um sich nicht zu erkälten. Vor dem grossen Rennen am Sonntag, in dem er Weltmeister werden will. Er spricht über die Taktik, seine Aussenseiter-Favoritenrolle, wie er es nennt. Über Muriel Furrer möchte er nicht reden. Jede und jeder im Schweizer Team gehe anders mit der schwierigen Situation um, sagt Thomas Peter, es müsse Raum für alles geben. Als Verband versuchten sie, für die Fahrer das Optimum herauszuholen, sich von der Situation nicht überwältigen zu lassen.

Am Samstagnachmittag richtet das Organisationskomitee unweit der WM-Strecke an der Wasserkirche in Zürich einen Trauerort ein. Gegen 17 Uhr kommen nach vier Stunden im Regen die Frauen des Eliterennens ins Ziel. Beste Schweizerin wird Noemi Rüegg als Elfte. Gerne wäre sie gegen die Siegerin Lotte Kopecky ums Podest mitgefahren, doch die letzten zwei Tage hätten wieder einmal gezeigt, dass es Wichtigeres gebe als Resultate. «Es war schön, ins Ziel zu kommen und meine Familie zu umarmen.»

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