Mittwoch, Oktober 2

Ausbrecher zeigen Schwachstellen auf, Behörden hinken hinterher – dies hat in Uitikon Irritation ausgelöst: In einem Eltern-Chat herrscht Aufregung, und auf einem Dach wird Nato-Draht installiert.

Zwei Mal innert eines Jahres bricht ein Teenager aus Basel mit Komplizen auf fast identische Weise aus dem Massnahmezentrum Uitikon aus. Ein paar Billardkugeln und ein Stuhlbein – mehr brauchte er nicht, um ein Fenster einzuschlagen und aus der geschlossenen Abteilung zu entkommen. In demselben Zeitraum gelang anderen Insassen noch ein dritter Ausbruch.

Uitikon ist die Heimat von Wohlhabenden aus der ganzen Welt, die ein Idyll in Stadtnähe suchen. Sonnenhang, Riegelhäuser, eine Steuerkraft auf Goldküstenniveau und Englisch als vierte Landessprache. Ernsthaft aus der Ruhe bringen lässt man sich hier nicht schnell, und doch gab der neuerliche Vorfall im Mai im Dorf zu reden.

Das Massnahmezentrum liegt zwar etwas ausserhalb, an einem Hügel, auf dem ein barockes Schlösschen thront, aber es sind nur wenige hundert Meter bis ins Zentrum. Eine Frau, die dort gerade aus der Bäckerei kommt, ist erstaunt, wie leicht man den jugendlichen Straftätern den Ausbruch machte. Eine junge Mutter mit Kinderwagen erzählt, dass es nach dem zweiten Ausbruch im Mai in einem Eltern-Chat tagelang besorgte Diskussionen gegeben habe. Fazit: «Gar nicht gut, dass so etwas passiert.»

Nach dem jüngsten Ausbruch hat das Amt für Justizvollzug eine «vertiefte Schwachstellenanalyse durch Fachleute» versprochen. Diese sei noch im Gang, und die Ergebnisse würden aus Sicherheitsgründen unter Verschluss gehalten – die Justizbehörden wollen niemanden auf Ideen bringen.

Die Ereignisse im Massnahmezentrum Uitikon werfen aber die Frage auf, warum eine solche Analyse erst nach mehreren Entweichungen angeordnet wurde und die Ausbruchsicherheit solcher Anlagen nicht systematisch getestet wird.

In anderen heiklen Branchen ist dies Standard. IT-Firmen engagieren professionelle Hacker für sogenannte Penetrationstests. Diese greifen die sicherheitskritische Infrastruktur an, um Schwachstellen aufzudecken, bevor andere Hacker dies tun.

Vergleichbare Angebote gibt es im europäischen Ausland auch für Gefängnisse. In Grossbritannien etwa setzt ein Unternehmen dazu Parkour-Profis ein: besonders klettergewandte Athleten, die sich auf das Überwinden von Hindernissen spezialisiert haben.

Justizvollzug verzichtet auf Stresstests

Der Zürcher Justizvollzug verzichtet auf solche Stresstests durch spezialisierte Unternehmen. Um die Ausbruchsicherheit zu gewährleisten, arbeiten die Gefängnisleitungen laut einem Sprecher mit «verschiedenen Fachpersonen» zusammen, teilweise auch mit externen Planungsfachleuten.

In Uitikon, so macht es den Eindruck, wurde dieser Job an die Gefangenen ausgelagert: Sie decken Schwachstellen auf, die Behörden reagieren. Im Juli 2023 entkamen der eingangs erwähnte Teenager und weitere Insassen durch ein rückwärtiges Fenster im ersten Obergeschoss, worauf sie über den Zaun kletterten, der das Gebäude umfriedet. In der Folge wurde die Oberkante des Zauns mit Nato-Draht versehen.

Beim neuerlichen Ausbruch Anfang Mai zeigten die Gefangenen aber, dass diese Massnahme nicht zu Ende gedacht war: Sie entwichen durch ein Fenster im gleichen Raum, wählten aber nicht mehr die alte Fluchtroute über den Zaun. Stattdessen bewegten sie sich auf einem Schneefänger seitwärts über das Dach und überwanden so gefahrlos den Zaun, der unterhalb der Dachkante an der Gebäudewand endet.

Erneut haben die Behörden Lehren daraus gezogen: Inzwischen ist auch der Weg über das Dach mit einer Rolle Nato-Draht versperrt worden, wie ein Augenschein vor Ort zeigt. Laut einem Sprecher des Amts für Justizvollzug werden bald auch die Fenster der geschlossenen Abteilung, die aus Sicherheitsglas bestehen, mit einem Gitter zusätzlich verstärkt.

Die Betreiberin einer Boutique im Dorfzentrum lässt sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Sie erhielt nach dem Ausbruch im Mai einen Anruf von einer besorgten Freundin: Sie solle abends im Haus bleiben. Nicht nötig, antwortete sie. Wenn einer ausbricht, flüchtet er in die andere Richtung, in die Anonymität des dichtbesiedelten Limmattals.

Darauf verlassen sich in Uitikon alle – auch der Gemeindepräsident. «Wir hatten über all die Jahre nie ernsthafte Probleme mit flüchtigen Personen aus dem Massnahmezentrum», sagt Chris Linder. Natürlich werfe die Ausbruchserie Fragen auf.

Doch nach Gesprächen mit den Verantwortlichen sei er überzeugt, dass jetzt die nötigen Schlüsse gezogen worden seien. «Sie haben uns gezeigt, was sie vorhaben, und sie gehen das gründlich an.» Solche Versprechen gab es zwar schon in der Vergangenheit. Doch das Zentrum habe seit kurzem einen neuen Direktor, und dieser sei nicht vorbelastet.

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