Donnerstag, November 6

Noch nie starben in den USA so viele Menschen an Drogen wie heute. Fentanyl und andere Opioide fordern Todesopfer quer durch alle Bevölkerungsschichten. Aber die Politik hält immer noch an veralteten Konzepten von Stigmatisierung und Strafe fest. Streetworker kämpfen dagegen an.

Nirgendwo in Illinois sterben so viele Leute an einer Überdosis wie im Chicagoer Stadtteil Westside. Eines der am stärksten betroffenen Quartiere dort ist Austin. Das arme, hauptsächlich von Schwarzen bewohnte Viertel wird von Gangs kontrolliert; Kriminalität und Drogensucht grassieren. Viele Dealer treiben sich an der Kreuzung Madison/Lockwood herum. Von aussen wirkt der Ort unauffällig. Ein Grüppchen junger Männer und Frauen in abgetragenen, schmutzigen Kleidern steht vor dem Schnellimbiss «Red Snapper», ein anderes vor einem Geschäft für Perücken und Haarverlängerung. Alle Fenster sind vergittert.

Abgesehen von den Süchtigen, die wie Gespenster vorbeihuschen, ist kaum jemand auf der Strasse. Das liegt nicht nur am kalten Wetter. Immer wieder werden hier bei Schiessereien auch Unbeteiligte getroffen, sogar viele Kinderspielplätze sind aus Sicherheitsgründen geschlossen. Auch die Dealer stehen nicht lange herum. Sie sitzen diskret im Auto und zeigen sich nur kurz, wenn ein Kunde auftaucht.

Wegen Fentanyl ist Drogenkonsum wie russisches Roulette

Auf dem Trottoir haben ein paar Leute ein Tischchen mit Narcan-Sprays aufgestellt. Sie sind von der West Side Heroin/Opioid Task Force. Ein Stoss mit dem Spray in die Nase genügt, um die durch eine Opioid-Überdosis blockierte Atmung freizumachen. Das Mittel wurde anfangs von Erste-Hilfe-Teams und der Polizei eingesetzt. Die Task-Force versucht, es auch unter den Süchtigen selbst bekannt zu machen. Einer der Mitarbeiter, Keith Davis, spricht einen ziemlich heruntergekommen wirkenden Mann an. «Kennst du Narcan?» – «Ja, gute Sache. Mehr Leute sollten davon erfahren, Mann.» Davis will ihm noch sagen, er solle seine Drogen nicht alleine konsumieren, damit ihm bei einer Überdosis jemand helfen könne, aber er ist schon wieder weg.

Der 57-jährige Keith Davis war selbst über ein Jahrzehnt lang von Heroin abhängig, hat seine Sucht aber seit 1995 überwunden. Er kennt viele der Leute auf der Strasse, er spricht dieselbe Sprache wie sie. «Das Wichtigste ist Connection», sagt er – Verbindung aufzubauen. Der Spray ist ein guter Einstieg für Gespräche. Das andere sind die Fentanyl-Teststreifen, die die Task-Force verteilt. Weil vielen Drogen Fentanyl beigemischt wird, das etwa hundertmal so stark wie Heroin ist, ist jeder Drogenkonsum lebensgefährlich geworden. «Am Anfang hatten die Konsumenten Angst vor Fentanyl», sagt Davis. «Aber jetzt verlangen sie danach, weil der Kick stärker ist.»

Davis versucht nicht, die Leute zu einem Entzug zu bewegen. Der Ansatz der Task-Force nennt sich «Harm Reduction», also Schadensminderung. Aber ein wichtiger Aspekt ist der Kontakt. «Sucht geht mit Isolation einher», sagt er. «Der menschliche Kontakt vieler Süchtiger beschränkt sich auf die Interaktion mit dem Dealer und den Passanten, von denen sie Geld schnorren.» Mit den Leuten von der Task-Force können sie über ihre gesundheitlichen Probleme reden, über die Wohnsituation und irgendwann auch über Behandlungen. «Aber das Timing ist wichtig», sagt Keith. «Letztlich muss die Initiative von ihnen kommen, du kannst ihnen die Hand reichen, aber du kannst es nicht forcieren.»

«Das ist kein Ort für euch»

Gerade eben haben sich zwei Leute zum Methadon-Programm entschlossen. Davis kennt sie seit Jahren und hat die Möglichkeit immer wieder einmal erwähnt. Nun begleitet er sie zum Lieferwagen der Organisation Family Guidance Centers auf der anderen Strassenseite. Dort können sie mit einer Krankenpflegerin und einem Arzt sprechen. Innerhalb einer halben Stunde erhalten sie ihre erste Dosis Methadon und ein Busticket, mit dem sie am folgenden Tag zur Abgabestelle in einer Klinik fahren können.

Einem jungen Mann in einem roten Trainingsanzug passt die Anwesenheit des Journalisten offenbar nicht. Er fingert an der Kamera am Hals des Fotografen herum. «Schöner Apparat», sagt er, zieht dann einen Cutter hervor und fährt langsam die Klinge aus. «Das ist kein Ort für euch.» Zeit zu gehen.

«Sucht wird als moralisches Versagen gesehen»

Wenn man mit Lee Rusch, dem Mitbegründer der West Side Heroin/Opioid Task Force, spricht, hat man den Eindruck, dass die Drogendiskussion in den USA etwa so verläuft wie in der Schweiz vor dreissig Jahren, bevor man die Lehren aus dem Platzspitz- und Letten-Debakel zog. Ginge es nach Rusch, würde er den «Harm Reduction»-Ansatz gerne ausdehnen, überwachte Drogenkonsumräume (analog zu den «Fixerstuben» in der Schweiz) einrichten, wo sterile Spritzen und Drogentests erhältlich sowie eine kontrollierte Drogenabgabe möglich wären. Aber das sind vorderhand Träume. In den ganzen USA gibt es lediglich zwei Drogenkonsumräume, und zwar in New York. Sie existieren erst seit anderthalb Jahren, stehen juristisch auf wackligen Beinen und müssen sich durch Spenden finanzieren.

Die Einstellung zu Drogen habe sich seit dem sogenannten «war on drugs» in den siebziger Jahren kaum geändert, sagt der 73-jährige Rusch, der seit Jahrzehnten in der Drogenarbeit tätig ist. «Eigentlich ist es immer noch die Mentalität aus der Prohibitionszeit; immer noch wird Sucht als eine Art moralisches Versagen gesehen», sagt er. «Der Schwerpunkt liegt auf Abschreckung, Verbot, Bestrafung und dem verordneten Entzug.» Dabei mangle es an entsprechenden Einrichtungen; die Verbreitung und Akzeptanz von medikamentös gestützter Therapie sei minimal, obwohl Forschungen zeigten, dass dies die Rückfallquote massiv senke.

«Risikominderung, wie wir sie betreiben, hat einen schweren Stand», sagt er. «Viele Leute glauben, damit fördere man letztlich den Drogenkonsum, weil man den Süchtigen das Leben erleichtere.» Diese Haltung präge auch die Politik. Dabei sei das Gegenteil wahr. Instrumente wie Narcan, Drogentests oder saubere Spritzen seien Möglichkeiten, mit den Süchtigen ins Gespräch zu kommen und ihnen Auswege aus dem Elend zu zeigen oder ihnen wenigstens beim Überleben zu helfen, bis sie für einen Ausstieg bereit seien.

Vorbildliche Schweiz

Studien zeigen, dass – entgegen den Befürchtungen in der Bevölkerung – die positiven Effekte von Drogenkonsumräumen überwiegen: Todesfälle wegen Überdosierungen, HIV- und Hepatitis-C-Ansteckungen sowie Notfalleinsätze nehmen ab, ebenso der Drogengebrauch in der Öffentlichkeit und die Verschmutzung der Umgebung mit gebrauchten Nadeln. Die Kriminalität sowie aggressives Verhalten im Umkreis der Räume reduzieren sich, die öffentliche Sicherheit verbessert sich. Vor allem nimmt die Bereitschaft zu Entzug und Therapie der Konsumenten zu und nicht ab, wie Skeptiker befürchten.

Manchmal zeigen Konservative in den USA warnend auf Städte wie Portland, wo harte Drogen entkriminalisiert wurden, was jedoch die Situation noch verschlimmerte. «Das Problem ist, dass die Entkriminalisierung nicht mit flankierenden Massnahmen einherging», sagt Rusch. «Man kann nicht einfach nur liberalisieren.» Was er als Idealmodell skizziert, ist ungefähr das, was in der Schweiz mit der «Vier-Säulen-Politik» praktiziert wird, also der Kombination aus Prävention, Schadensminderung, Therapie und Repression.

Oft hört man, dass insbesondere die Zusammenarbeit zwischen Medizinern, Sozialarbeitern und Polizisten schlecht funktioniere. Rusch kann das, zumindest was Chicago angeht, nicht bestätigen. «Viele Polizisten sind vielleicht auch mit diesem repressiven Verständnis gross geworden; aber gerade diejenigen, die in den Problemquartieren leben und arbeiten, sind durch die tägliche Erfahrung realistisch geworden. Sie merken, dass es so nicht weitergehen kann.» Die meisten Polizisten in Austin seien durchaus offen für den Ansatz der Task-Force.

Mit den Opioiden setzt ein Umdenken ein

Der Gouverneur von Illinois, J. B. Pritzker, sprach 2020 4,3 Millionen Dollar, um die Drogensituation in afroamerikanischen Quartieren wie Austin zu analysieren und zu verbessern. Im Rahmen dieses Programms führt die Task-Force gegenwärtig eine Erhebung durch, um die Akzeptanz von Drogenkonsumräumen abzuklären und zu verbessern. Laut Rusch zeigen sich Pritzker und auch der Bürgermeister von Chicago, Brandon Johnson, durchaus offen für solche Ansätze. Aber sie seien vorsichtig. Denn politisch begebe man sich mit solchen Vorstössen aufs Glatteis. Obwohl sich durch die Opioidkrise die Offenheit erhöht habe, sei die Zeit möglicherweise noch nicht reif.

Früher galten harte Drogen als typisch für arme, afroamerikanische Quartiere. Entsprechend nahm die Polizei vor allem Schwarze ins Visier. Die Opioide verbreiteten sich hingegen vor allem unter der weissen Mittelschichtsbevölkerung. Seit den späten 1990er Jahren sind etwa eine Million Amerikaner an Opioid-Überdosen gestorben. In den letzten Jahren hat sich die Situation wegen des Aufkommens von Fentanyl noch verschärft. Die Droge war verantwortlich für die Mehrheit der 110 000 Drogentoten in 2023. Das war eine Rekordzahl; Fentanyl ist inzwischen die häufigste Todesursache für Amerikaner unter 45 Jahren. Entsprechend ist nun auch unter Weissen und Konservativen die Bereitschaft gewachsen, Sucht nicht mehr nur als moralisches oder kriminelles Problem von Minderheiten zu sehen, sondern als allgemeines Problem der öffentlichen Gesundheit.

Die Szene wird immer extremer

Zurück auf den Gehsteig vor dem «Red Snapper». Die 68-jährige Gail Richardson erklärt den Gebrauch des Narcan-Sprays, den man jemandem verabreichen kann, der infolge einer Überdosis das Bewusstsein verloren hat. Sie warnt davor, dass man nach der Verabreichung sicherheitshalber einen Schritt zurücktreten soll. «Viele Süchtige sind nämlich nicht dankbar, dass man ihnen das Leben gerettet hat, wenn sie plötzlich wieder zu sich kommen, sondern wütend, dass man ihr High kaputtgemacht hat und sie nun eine neue Dosis kaufen müssen.»

Wie ihr Task-Force-Kollege Keith Davis war auch Richardson selbst drogenabhängig, hat ihre Sucht nun aber seit mehr als zwanzig Jahren überwunden. Lange hatte sie ihr Leben trotz Heroin mehr oder weniger im Griff und arbeitete während zwanzig Jahren in einer Telefongesellschaft. Aber irgendwann liess sich ihre Abhängigkeit nicht mehr verbergen, und ihr Chef drängte sie zu einer Behandlung. Da liess sie sich vorzeitig pensionieren, wie sie halb im Scherz sagt – und entschied sich, als Dealerin zu arbeiten.

Sie arbeitete für eine Gang in Austin, verdiente gut und konnte jeweils einen Teil des Stoffs für sich selbst abzweigen. «Ich schnupfte für 500 Dollar pro Tag Heroin», sagt sie. Das ging sieben Jahre lang einigermassen gut, bis die Polizei sie schnappte. Sie wurde zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Am härtesten für sie war, dass sie ihren Teenager-Sohn im Stich lassen musste. Nach dreizehn Jahren wurde sie entlassen. Das war 2016. «Nun arbeite ich für die andere Seite», sagt sie. Die Szene war immer hart, aber im Vergleich zur heutigen Fentanyl-Epidemie empfindet sie die alten Zeiten geradezu als idyllisch. Es gab weniger schwere Waffen, und der Stoff liess sich einigermassen dosieren. Sie zeigt auf jemanden, der sich im Fentanyl-Rausch heftig an den Kopf schlägt. «So etwas gab es nicht», sagt sie.

Und natürlich landet man auch im Gespräch mit Gail Richardson früher oder später wieder bei der Politik und bei Trumps Behauptung, nicht etwa die Pharmafirmen, die die Opioide skrupellos vermarkteten, sondern die illegalen Immigranten aus Mexiko seien verantwortlich für all die Drogentoten, weil sie das Fentanyl über die Grenze bringen und so das Blut der Amerikaner vergiften würden. «Die stecken sich den Stoff also in die Hosentasche, schwimmen über den Rio Grande und verkaufen die Ware auf der andern Flussseite? Come on!», sagt sie und fragt: «Warum muss man beim Thema Drogen immer einen Sündenbock suchen und die Probleme auf Slogans reduzieren? Können wir vielleicht einfach einmal für einen Moment das Stigmatisieren sein lassen und versuchen, sachlich zu bleiben?»

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