Hunderte von Kriminellen weltweit kommunizierten über das Programm Encrochat. 2024 nahm die Polizei einen der Betreiber in der Schweiz fest. Jetzt wehrt er sich gegen die Auslieferung – unter anderem, weil er mit seiner Frau noch ein Kind zeugen will.
Im April 2020 gelang französischen Ermittlern ein Coup. Sie konnten die Kommunikation zwischen Nutzern des Verschlüsselungsdienstes Encrochat, einer Art Whatsapp für Verbrecher, abfangen und entschlüsseln. In den Daten ging es um Waffen, Drogen und Geldwäscherei im grossen Stil.
Die Auswertung führte zu einer Kaskade von Ermittlungen, Beschlagnahmungen und Festnahmen, auch in der Schweiz. Im Juli 2024 nahm die Polizei im Kanton Zug eine der führenden Figuren von Encrochat fest. Es handelte sich um einen Kanadier, der seit wenigen Monaten in der Schweiz wohnte. Frankreich hatte die Schweiz ersucht, den Mann zu verhaften und auszuliefern.
Die französischen Behörden werfen dem Mann vor, Encrochat spätestens seit 2014 betrieben zu haben. Der Kanadier habe davon gewusst, dass das Programm hauptsächlich für illegale Zwecke verwendet worden sei. Das Geld aus den Verkäufen von Encrochat sei über zahlreiche Unternehmen in Europa und Asien geleitet worden, bevor es in das Encrochat-Netzwerk in Hongkong, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Spanien geflossen sei. Dabei seien gefälschte Rechnungen verwendet worden, um die Herkunft des Geldes zu verschleiern. Dies ist einem Entscheid der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts zu entnehmen, der am Dienstag veröffentlicht wurde.
Die Auswertung der Kommunikationsdaten habe gezeigt, dass Encrochat hauptsächlich von Kriminellen genutzt worden sei. Von den 574 Encrochat-Handys in Frankreich seien mindestens 528 in illegale Aktivitäten verwickelt gewesen. Laut einem Bericht der «Financial Times» kostete ein Encrochat-Handy 1000 Euro, dazu kamen Abo-Kosten von 1500 Euro pro Halbjahr.
Die Ermittler hätten die exakte Menge an Drogen, Waffen und gewaschenen Geldern feststellen können, die via Encrochat koordiniert worden seien. Dank den Daten haben laut Europol weltweit 270 Tonnen Betäubungsmittel, 900 Waffen, 900 Millionen Euro Bargeld, 970 Fahrzeuge, 83 Schiffe und 40 Flugzeuge sichergestellt werden können. Über 6600 Personen seien festgenommen worden.
Die Ermittlungen führten schliesslich zu drei Entwicklern, die das System entworfen und über eine komplexe Logistik über mehrere Länder in Europa und Asien vertrieben haben. Zu diesem Trio gehörte auch der damals 34-jährige Kanadier. Die französischen Behörden werfen dem Mann vor, Encrochat spätestens seit 2014 betrieben zu haben.
Er habe gewusst, dass Encrochat hauptsächlich für illegale Zwecke verwendet worden sei. Zusammen mit seinen beiden Mitstreitern habe er für seine Dienste in drei Jahren insgesamt 3 Millionen Dollar erhalten. Encrochat selber habe weder über eine juristische Existenz noch über ein Domizil oder Bankkonten verfügt. Zudem seien gefälschte Rechnungen verwendet worden, um die Herkunft des Geldes für den Verkauf der Handys und der Abos zu verschleiern.
In-vitro-Fertilisation geplant
Vier Tage vor der Festnahme hatte Frankreich die Schweizer Behörden ersucht, den Mann festzunehmen und auszuliefern. Im September 2024 bewilligte das Bundesamt für Justiz (BJ) die Auslieferung. Gegen diesen Entscheid legte der Mann Beschwerde ein. Er behauptete, das BJ habe wesentliche Argumente nicht berücksichtigt. So werde im Auslieferungsgesuch nicht erklärt, warum er von den kriminellen Taten gewusst haben solle, die über Encrochat abgewickelt worden seien. Die Entwicklung von Encrochat sei per se nicht kriminell.
Seine Festnahme sei vielmehr politisch motiviert. Das zeige der Umstand, dass er mit 5700 Fällen von Drogenhandel und Bandendiebstahl in Verbindung gebracht werde. Die französische Regierung habe Krypto-Chat-Anbieter gezielt kriminalisiert. Die französischen Behörden hätten eine Cyberwaffe des militärischen Geheimdienstes verwendet, um die Beweiskette zu verschleiern. Zugleich hätten die Behörden wesentliche Ergebnisse der Untersuchung vertuscht, wonach 90 Prozent der Chat-Inhalte keinen kriminellen Bezug gehabt hätten.
Der Kanadier führt auch sein Familienleben als Argument gegen die Auslieferung an. Komme er in französische Haft, werde sein Recht auf einen angemessenen Familienbesuch sowie das Recht auf Reproduktion missachtet. Gemäss eigenen Angaben ist der Kanadier seit 2021 mit einer Schweizerin verheiratet und hat einen mittlerweile einjährigen Sohn.
Seine Frau habe keine Ausbildung, sei arbeitslos und depressiv. Ein Gefängnisbesuch in Frankreich nehme mit An- und Abreise gut drei Tage in Anspruch. Für eine de facto alleinerziehende, arbeitslose Mutter seien solche Besuche unmöglich. Auch die In-vitro-Fertilisation, die er zusammen mit seiner Frau geplant habe, werde damit erschwert. Seine Frau müsse dauernd in seiner Nähe sein, damit sie den idealen Zeitpunkt in ihrem Hormonzyklus nicht verpassten.
Die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts hat die Beschwerde in allen Punkten abgewiesen. Die Beschwerde müsse «als aussichtslos bezeichnet werden». Der Kanadier hat die Beschwerde dennoch weitergezogen. Jetzt muss sich das Bundesgericht mit dem Fall befassen.