Freitag, Oktober 18

Ueslei Marcelino / Reuters

Der Schutz des Regenwaldes ergibt wenig Sinn, wenn er nicht mit dem Kampf gegen kriminelle Banden koordiniert wird. Denn diese tragen dazu bei, dass der Urwald so schnell vernichtet wird.

Vor 22 Jahren wurde die Spezialeinheit der Militärpolizei für das Amazonasgebiet (Rocam) gegründet. Die Elitetruppe sollte in Manaus, der Hauptstadt des Gliedstaates Amazonas, den Bankräubern das Handwerk legen. Diese sprengten damals Bankautomaten in Serie in die Luft – manchmal mehrere pro Woche.

Das komme kaum noch vor, erklärt Major Jackson, der Kommandant der Sondereinheit. Der 35-Jährige sitzt hinter seinem Schreibtisch im eiskalt klimatisierten Büro. In voller Montur trägt er Schutzweste, eine Pistole, zwei Magazine und Handschellen am Gürtel, das Buschmesser ist ans Bein geschnallt.

Heute seien die 300 Mitglieder der Einheit – von ihnen 20 Frauen – vor allem im Kampf gegen den Drogenhandel aktiv: «Fast alle schweren Verbrechen in Manaus finden heute im Zusammenhang mit Drogen und bei Streitigkeiten zwischen den Banden statt.» Die Auseinandersetzung mit den Kriminellen habe in wenigen Jahren ein ganz anderes Niveau erreicht: «Früher hatten die Banditen Messer und Revolver», sagt der 35-jährige Bataillons-Chef. «Heute benutzen sie Sprengstoff, Handgranaten und Maschinenpistolen.»

Die Kürzel der Drogenbanden kennt jedes Kind in Manaus

Die Rocam-Einheit befindet sich auf einem kasernenartigen Gelände nicht weit vom Zentrum von Manaus. Wenn Major Jackson seine tägliche Arbeit erklärt, erwähnt er ständig Kürzel wie PCC, CV, QDN, FDN, RDA. Das sind brasilianische Drogenbanden mit unterschiedlichen Wurzeln. In Manaus kennt jedes Kind diese Akronyme. Die Drogenbanden sind in der Stadt mit 2,5 Millionen Einwohnern präsent.

Sie herrschen über Stadtteile und Gefängnisse. Sie bekämpfen sich einmal blutig, dann wieder einigen sie sich für eine gewisse Zeit. Alle vereint sie der Ehrgeiz, zu international agierenden Mafiaclans zu werden. Einige von ihnen sind dabei schon vorangekommen.

In der Amazonasregion mischen sie alle mit beim rasant wachsenden Drogenschmuggel. Das ist ein Gebiet eineinhalbmal so gross wie Europa. Aus Kolumbien und Peru transportieren die Banden die Drogen – vor allem Kokain, aber auch Skunk, ein besonders starkes Marihuana.

Ein grosser Teil geht nach Europa, dem weltweit am schnellsten wachsenden Kokainmarkt. Die Flüsse im Amazonasgebiet sind zu wichtigen Schmuggelrouten zu den Atlantikhäfen geworden. Auch der lokale Markt Brasiliens und der Nachbarstaaten wird über die Amazonasregion beliefert.

Das hat weitreichende Folgen: Im World Drug Report der Uno von 2023 widmen die Experten dem Zusammenhang zwischen der wachsenden Präsenz des organisierten Verbrechens und der Regenwaldvernichtung ein ganzes Kapitel. Die zentrale These: Der Einfluss der Drogenmafia wirkt wie ein Brandbeschleuniger bei der Vernichtung des Regenwaldes.

Das funktioniert auf mehreren Ebenen: So unterwandert die organisierte Kriminalität den Staat. Ihr Einfluss wächst in der Lokalpolitik, den Behörden, der Justiz. Sie hebelt die staatliche Souveränität im Amazonasgebiet aus. Die Kontrollorgane verlieren an Durchsetzungskraft. Davon profitieren alle illegalen Akteure: Drogenbanden genauso wie Holzschmuggler oder Goldsucher.

Gleichzeitig wäscht die organisierte Kriminalität ihr Drogengeld mit anderen illegalen oder halblegalen Aktivitäten direkt im Amazonasgebiet. Auch das beschleunigt die Regenwaldvernichtung: Indem sie Sägewerke, Rinderfarmen oder Goldclaims finanziert oder sogar direkt in die Brandrodung und neue Weideflächen investiert – immer steigt der Druck auf den Regenwald. Die brasilianische Gewaltforscherin Ilona Szabó bezeichnet diese Vernichtung des Urwaldes deswegen als «narco-desmatamento», also als Regenwaldrodung durch die Drogenmafia.

Was gerade im Amazonasgebiet geschieht, ist wichtig für Europa

Die Experten Daniel Brombacher und Hector Fabio Santos kommen in dem Report zu dem Schluss, dass «die isolierten Ansätze der Uno-Drogenkontroll-, -Strafrechts- und -Verbrechensverhütungssysteme nicht mehr angemessen» seien. Es sei ineffizient, wenn auf der einen Seite Behörden wie der Zoll, die Drogenfahndung, die Polizei und das Militär für sich und unkoordiniert gegen die Kriminalität vorgingen – und auf der anderen Seite nationale und multinationale Behörden sowie NGO bei Sozialthemen, Umwelt- und Indigenenschutz ebenfalls nur ihre Ziele verfolgten. Das Silodenken müsse überwunden werden – beim Regenwaldschutz genauso wie bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität.

Das wäre auch im Interesse Europas: Der Amazonaswald bindet hohe Mengen an Kohlendioxid. Ein intakter Regenwald ist wichtig für das Weltklima. Und der wachsende Kokainkonsum in Europa führt dazu, dass die Drogenkartelle mit ihren hohen Einnahmen auch in Europa immer gewalttätiger auftreten und staatliche Institutionen infiltrieren.

Der Kokainkonsum steigt in Europa stetig an

Durchschnittliche Menge Benzoylecgonin in den Abwässern von 118 europäischen Städten, in Milligramm pro Tag und 1000 Einwohner

Es ist erschreckend, wie schnell sich die Drogenbanden im Amazonasgebiet ausgebreitet haben. Nach einer Untersuchung des brasilianischen Forums für Sicherheit werden von den 722 politischen Gemeinden im brasilianischen Amazonasstaat 178 von der Mafia kontrolliert. Im Amazonasgebiet leben rund 26 Millionen Menschen, die Hälfte von ihnen in Gebieten, in denen die Mafia das Sagen hat.

Aiala Colares Couto ist Geograf und Experte für die Ausbreitung der Drogenclans in der Amazonasregion. Er sagt, dass die Drogenbanden das staatliche Vakuum im Amazonasgebiet unter dem vorherigen Präsidenten Jair Bolsonaro genutzt hätten, um sich dort einzunisten. Den Rechtspopulisten interessierte der Regenwaldschutz nicht. Er unterstützte dagegen Farmer, Goldsucher und Holzfäller, seine Wähler.

Im Amazonasgebiet verwenden die Drogenbanden einerseits die bestehende illegale Logistik – vor allem der Goldschürfer: Landepisten für Flugzeuge, mobile Tankstellen für ihre Schnellboote, Versorgungslinien für Lebensmittel. Und als Personal nutzen sie oft lokale Indigene oder andere Flussanwohner, die sie bedrohen oder gegen Entgelt für sich arbeiten lassen.

Die Drogenkartelle infiltrieren die Politik

Gleichzeitig investieren die Kartelle ihre Drogengelder auch direkt in illegale Unternehmungen in der Region: Sie finanzieren Goldsucher, Fischer, Holzfäller, Tierschmuggler. Die Kriminalität in der Amazonasregion ist explodiert. Der Teilstaat Amazonas hat eine der höchsten Mordraten in Brasilien.

Die Drogenbanden waschen ihr Geld aber auch in der legalen Wirtschaft: in Rinderfarmen und beim Sojaanbau, in Immobilien, Supermärkten, Tankstellen und Schönheitssalons. Sie lassen sich in die Gemeindeparlamente wählen oder sitzen in den lokalen Behörden – und bekommen somit immer mehr Einfluss im Staat. Sie entscheiden, wer die Aufträge für die Müllentsorgung, die Schulspeisungen oder den öffentlichen Transport bekommt – alles Aktivitäten, bei denen sich gut Drogengelder waschen lassen.

Der Arm der Drogenkartelle reicht sogar bis in die Hauptstadt Brasilia: Kürzlich nahm die 37-jährige Luciane Barbosa im Ministerium für Menschenrechte an einem Anlass gegen Folter in der Hauptstadt Brasiliens teil. Sie trat auf als Präsidentin eines Instituts für die Freiheit des Amazonas. Es gibt zahlreiche Fotos von Barbosa mit Ministern und Abgeordneten.

Barbosa ist seit elf Jahren verheiratet mit dem Chef des Comando Vermelho, des mächtigsten Drogenkartells in der Amazonasregion. Ihr Gatte, genannt «Tio Patinhas» (Dagobert Duck), sitzt für 31 Jahre hinter Gittern. Sie selbst wurde für Geldwäsche zu einer Gefängnisstrafe von 10 Jahren verurteilt, hat aber Berufung eingelegt. Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt davon, dass sie die mächtige First Lady des Drogenhandels in der Amazonasregion ist.

In der Trockenzeit wird es schwerer für die Schmuggler

Manaus ist als Verkehrsknotenpunkt das Zentrum des Drogengeschäfts im Amazonasgebiet: Dorthin, 1700 Kilometer entfernt von der Amazonasmündung, fahren Containerschiffe, um ihre Fracht – vor allem Elektro- und Maschinenteile – zu löschen. Auf dem Rückweg nehmen sie dort zusammengesetzte Motorräder, Fernseher und Klimaanlagen mit zu den Häfen im Süden Brasiliens, in der Nähe der grossen Konsummärkte wie São Paulo und Rio de Janeiro. Oftmals sind dabei Drogen zugepackt.

In der Trockenzeit bis Ende November können weniger Schiffe verkehren. Der Containerverkehr kam letztes Jahr für einige Monate fast ganz zum Erliegen. «Das macht es für uns leichter», sagt Major Jackson. Die Drogenschmuggler müssten dann die Ware durch die Stadt transportieren. Immer wieder würden sie bei Strassenkontrollen entdeckt. 12 Tonnen Drogen habe man 2023 beschlagnahmt. Zu Schiessereien komme es selten: Die Schmuggler wüssten, dass sie verloren hätten, wenn sie in eine Kontrolle gerieten.

Die Rocam ist gefürchtet und setzt auf Abschreckung. Den Eingang zu Jacksons Büro schmückt das Rocam-Wappen als Wandrelief. Es ist zusammengesetzt aus Patronenhülsen in allen Grössen. Jackson entspricht mit seiner ernsthaften Höflichkeit nicht dem Klischee eines Rambo-Polizisten, der schiesst, bevor er fragt.

Er empfiehlt den Reporter telefonisch weiter an eine Spezialeinsatztruppe, die auf den Flüssen unterwegs ist. «Oi Caverão», spricht er den Kollegen an. Wörtlich übersetzt heisst das: «Hallo Totenkopf.» Es ist der traditionelle Gruss der Elitepolizisten in Brasilien.

Die Beamten sind misstrauisch und wortkarg

Bei der Spezialeinheit Companhia de Operações Especiais (COE) in Manaus scheinen Totenköpfe zum Programm zu gehören. Die Garnison in der Peripherie von Manaus ist danach benannt («Base Caveira»), das Wappen am Eingang schmückt ein Schädel. Auf dem Schreibtisch von Leutnant Adaumir stehen gleich ein halbes Dutzend davon. Der Leutnant ist höflich, aber reserviert. Fünf seiner Mitarbeiter umstehen ihn in Sportkleidung mit verschränkten Armen. Sie blicken misstrauisch auf den Besucher und sind wortkarg.

Nach einer Weile tauen sie etwas auf und erzählen von ihrer Arbeit: Es sind vierzig Spezialbeamte, deren Einsatzgebiet sich zwischen den Amazonaszuflüssen Rio Solimões und Rio Negro erstreckt, bis 1100 Kilometer an die Grenzstadt Tabatinga im Dreiländereck zwischen Peru, Kolumbien und Brasilien. Hunderte von Flüssen zwischen den beiden Strömen sind das Terrain der Drogenschmuggler. Die Spezialbeamten reden über Flüsse, Weiler und Überschwemmungsgebiete wie ihre Kollegen in den Städten über Strassen, Dörfer und Parks.

Über den Rio Negro und den Rio Solimões werden Drogen aus Kolumbien und Peru nach Manaus geschmuggelt

Mit Schnellbooten würden die Schmuggler nachts ohne Licht über die Flüsse preschen. Bis zu 60 Kilometer schnell seien die Boote mit 300-PS-Aussenbordmotoren. Drei Tage brauchten sie von der Grenze bis nach Manaus. Manchmal bepackten sie auch überdimensionierte Schlauchboote mit bis zu einer Tonne Drogen und trieben sie mit einem Dutzend Motoren an. So dauere die Reise nach Manaus viel länger.

Die Banditen seien immer bewaffnet. Im Internet kursieren Aufnahmen von den Schusswechseln auf den Flüssen. Es sind Bilder wie von einer Kriegsfront. Die Schmuggler verstecken sich tagsüber in den verzweigten Flussläufen. Sie werden manchmal auch versorgt und unterstützt von Flugbooten, die knapp über dem Flussbett fliegen – und manchmal auch in einem Baumwipfel hängenbleiben.

Es ist ein riskanter Job – zeitweise gefährlich wie im Krieg

Beim Kaffee später erzählen die Agenten, dass sie oft für Wochen unterwegs seien, getrennt von ihren Familien. Es gibt nur eine Basis flussaufwärts. Meist werden sie mit dem Helikopter abgesetzt und müssen dann allein im Regenwald zurechtkommen. Es ist ein riskanter Job. Am Eingang hängen Plaketten für die im Dienst getöteten Beamten.

Wenn die Flüsse trocken sind, dann jagt die Spezialeinheit Piraten. Das seien Banditen, die sich darauf spezialisiert hätten, am Fluss die Drogenboote der Kartelle abzufangen. Wenn wegen der Trockenheit kaum noch Transporte unterwegs seien, dann begännen sie die Ortschaften und die Siedler an den Flussläufen zu überfallen und die Bevölkerung zu terrorisieren.

Die Kommandanten der Spezialeinheiten machen sich keine Illusionen darüber, dass sie den Drogenschmuggel in der Amazonasregion irgendwann stoppen könnten. «Solange es die Nachfrage nach Kokain in Europa gibt, werden hier Drogen transportiert», sagt Major Jackson. «Wir können nur versuchen, den Schaden für die Bevölkerung durch den Drogenhandel zu minimieren.»

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