Dienstag, März 11

Tausende von Drohnen sind an der ukrainischen Front ununterbrochen im Einsatz. Sie machen das Schlachtfeld durchsichtig und von allen Punkten einsehbar. Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch war mit Soldaten an der Front unterwegs.

Jetzt gehe dieser Krieg schon drei Jahre, sagt Oleh. Wir schreiben den Januar 2025.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Für viele dauert dieser Krieg schon elf Jahre, für Oleh drei.

Oleh stammt aus Mariupol, ist etwa sechzig, gebaut wie ein Oger, mit hartem, aufgeschwemmtem Gesicht und verblüffend ruhiger Stimme. Im Multicam-Tarnanzug, mit der Weste, dem modernen High-Cut-Helm, am Steuer eines Pick-ups, wirkt er deplatziert. Männer seines Alters sollten nicht mehr derart gefahrvollen und belastenden Situationen ausgesetzt werden. Die Piloten und Oleh selbst dienen in der Marineinfanterie, was keine besondere Bedeutung hat. Am Ende lassen sie ihre Drohnen sowieso über dem gefrorenen Schlamm irgendwo bei Pokrowsk fliegen.

Was Oleh tut, ist gefährlich, denn heutzutage sind Fahrten zu den Stellungen riskanter als die Stellungen selbst, unterwegs bleibt keine Bewegung den wachsamen russischen Drohnen verborgen, deren Kamerablick unfehlbar FPV-Angriffsdrohnen nach sich zieht, darunter die gefährlichsten, gesteuert mit einer Glasfaser, die dünn wie ein durchsichtiger Faden von einer Spule an der Drohne abrollt.

Olehs alter Pick-up ist allerdings nicht ganz ungeschützt, tröstlich für mich als Insasse. Auf dem Fahrzeugdach spriesst ein ganzer Wald von Störsender-Antennen, wie ich sie jetzt, im Januar 2025, in allen möglichen Konfigurationen auf jedem Armeefahrzeug sehe, das sich in unmittelbarer Frontnähe bewegt. Vor zwei Jahren gab es gar keine, denn vor zwei Jahren gab es auch keine FPV-Drohnen. FPV steht für «First Person View».

Der Krieg ändert sich rascher, als ich, sein gelegentlicher Zeuge, mitkomme.

Kevlar gegen Bombensplitter

In Olehs Auto gibt es auch einen Detektor, eine simple Vorrichtung, die das analoge Videosignal einer FPV-Drohne abfängt und es auf einem kleinen, vor dem Beifahrer montierten Bildschirm abspielt. Wenn wir dort statt der blauen Anzeige «No signal» plötzlich unser eigenes Auto sähen, sagt Oleh, dann gelte es noch während der Fahrt herauszuspringen und davonzurennen. Jeder in eine andere Richtung. Das würde nämlich heissen, dass der Reb, der elektronische Störsender, nicht funktioniert hat. Der Reb ist zum Glück einer der besten, er kostet zehnmal so viel wie der alte Pick-up, über dem er seinen unsichtbaren Schutzschirm aufspannt.

Das Display des Detektors bleibt während der ganzen Fahrt in die Stellungen blau. An Glasfaserdrohnen, die unempfindlich für Störsender sind, denke ich lieber nicht. Ich sitze auf der Rückbank, die Kabine ist eng, die Elektronik des Störsenders belegt die halbe Bank, mit kugelsicherer Weste und Helm habe ich mich dort gerade so hineingequetscht.

Im Laufe der letzten zwei Jahre, in denen ich den Krieg miterlebt habe, hat sich auch meine Weste verändert – die Stahlplatten der Schutzklasse IV+ habe ich an den Seiten, den Schultern, in der Taille und am Unterleib mit Kevlar-Streifen ergänzt, die vielleicht keine Kugel abhalten, einen Splitter aber schon, und dort, wo ich bin, wird niemand mit dem Gewehr auf mich schiessen. Da fliegt höchstens was her, explodiert, und dagegen ist Kevlar gut.

Es ist sehr unbequem auf der Rückbank des Pick-ups, neben dem Störsender, zumal Oleh mich ermahnt, mich bloss nicht an eines der Kabel des Reb zu lehnen, sonst gehe er aus. Und der Reb sei unser Leben, sagt Oleh. Also lehne ich mich nicht dagegen, spanne die Bauchmuskeln an und halte mich an den Vordersitzen fest, als würde davon tatsächlich mein Leben abhängen.

Der Reb ist unser Leben – dieser Satz geht mir nicht aus dem Kopf. Wie leicht schrumpft alles, das ganze Leben, die ganze Welt auf die Frage zusammen, ob im Reb die richtigen Frequenzen eingestellt sind. Ob das Reb funktioniert. Ob ich auch kein Kabel rausgezogen habe. Nichts anderes auf der Welt hat Bedeutung, kein Trump, kein Verfasser der «Hillbilly Elegy», kein Präsident im schwarzen Sportanzug, von deren Begegnung im Weissen Haus ich damals, im Januar, natürlich noch nichts wusste, aber geahnt haben wir alle schon etwas.

Oleh hat recht: Wenn wir nachts auf dieser Strasse fahren, ist der Reb so viel wie unser Leben. Mich kümmert keine grosse Politik mehr, keine Verhandlungen und Abkommen, ich frage mich nur, wie viele Augen uns jetzt zuschauen, als wir in Reichweite der russischen FPV-Drohnen fahren, unter dem unsichtbaren Schirm des Störsenders.

Drohnen verliert man unaufhörlich

Wie viele von ihnen schauen überhaupt zu und filmen in einem fort die gesamte Frontlinie?

Das frage ich später einen Major, den stellvertretenden Kommandeur einer Brigade, die im Abschnitt Pokrowsk kämpfte.

Eine ukrainische Brigade deckt gewöhnlich zweihundert bis dreihundert Kilometer Frontlinie ab. Sie sollte ungefähr fünfzig Beobachtungsdrohnen in der Luft haben, in einem unaufhörlichen Karussell bei Tag und Nacht, um keinen Augenblick lang zu erblinden. Dazu gehören kleinere Aufklärungsdrohnen mit Wärmebildkamera bis hin zu den grössten, explizit militärischen Fluggeräten wie Fury, Shark oder dem polnischen Flyeye. Diese operieren bis zu fünfzig Kilometer von der immer sorgfältig getarnten Stellung der Drohnenpiloten entfernt, die gewöhnlich zehn oder mehr Kilometer hinter der Nulllinie liegt.

Ausserdem die FPV-Drohnen. Es sollte zwei Gruppen je Bataillon geben, ungefähr fünfzehn jederzeit startbereite FPV. Wie viele kampffähige Bataillons eine Brigade hat, ist variabel und hängt davon ab, wie stark der Fleischwolf der Front diese Brigade schon dezimiert hat. Ich habe welche gesehen, in der nur noch ein Bataillon übrig geblieben war, darin eine einzige Kompanie, darin anderthalb Züge, zusammen fünfzig einsatzfähige Infanteriesoldaten. Aber man kann davon ausgehen, dass eine Brigade etwa vierzig FPV-Drohnen hat.

Dann gibt es in jeder Brigade schwere Strike-Drohnen, Quadro- oder Hexacopter. Zum Beispiel den Hexacopter Vampir mit sechs Rotoren und einer Ladung von einem guten Dutzend Kilo, der sogar eine 120-mm-Mörsergranate transportieren kann. Es kommt auch die etwas kleinere Nemezis zum Einsatz, ausgerüstet mit Starlink, so dass der Pilot in Kiew sitzen könnte, was selten vorkommt. Aus Sicherheitsgründen ist er weit von der Nulllinie entfernt.

Drohnenpiloten sind wertvoller als andere Soldaten, beide Seiten machen aktiv Jagd auf die Piloten der jeweils anderen Truppen. Nahe der Nulllinie sitzt nur das technische Personal, das die Batterien und die Kampfladung austauscht, also Leute, die leichter zu ersetzen sind als der Pilot. Es kümmert niemanden, dass die Mütter und Ehefrauen auf die einen genauso warten wie auf die anderen.

Kann man also – in statistischer Vereinfachung – davon ausgehen, dass auf eine Brigade ungefähr hundert in der Luft befindliche oder sofort einsatzfähige Drohnen kommen? Diese Schätzung könnte zu hoch greifen, solche Zahlen treffen nur auf die besten Brigaden zu. Schliesslich habe ich Bataillone erlebt, denen ich in aller Eile eine Mavic mit Nachtsichtgerät bringen musste, weil sie nur noch zwei davon hatten und beim Verlust einer weiteren das Bataillon in der Nacht halb blind gewesen wäre. Und Drohnen verliert man unaufhörlich.

Täglich 120 000 Stunden Filmmaterial

Wie viele Brigaden es an der tausenddreihundert Kilometer langen Frontlinie gibt, weiss niemand, das heisst – irgendjemand sollte es wissen, hoffe ich, aber das ist etwas, was die ukrainischen Streitkräfte aus verständlichen Gründen nicht preisgeben. Doch auch die Führungsoffiziere der Brigaden scheinen die genaue Zahl nicht zu kennen. Sagen wir also, ungefähr hundert. Zusammen wären das etwa fünftausend Drohnen, das ergibt vier für jeden Frontkilometer, was wiederum einhundertzwanzigtausend Stunden ununterbrochene Videoübertragung am Tag bedeutet.

Jede dieser Übertragungen erscheint auf mehreren Bildschirmen, auf dem allerwichtigsten, vor den Augen des Piloten, dann auf den grossen Fernsehern, die an den Wänden der Bataillons- und Brigadestäbe hängen, wo es von Offizieren und Soldaten in bequemen Sportanzügen und Latschen wimmelt, die in mehr oder weniger abgenutzten Bürostühlen oder nagelneuen Gaming-Sesseln sitzen.

Das sind fünf-, vielleicht zehn- oder zwanzigtausend Soldaten, die gebannt auf die zu dieser Jahreszeit grauen oder in den Wärmebildfarben changierenden Filmaufnahmen schauen und nach Zielen für die FPV-Drohnen, für die ewig nach Munition hungernde Artillerie oder die schweren Bomberdrohnen suchen. Darunter die bereits erwähnte Vampir, deren Bewaffnung und Start ich mir bei Mirnohrad angesehen habe, um den Spendern meiner öffentlichen Sammlung zeigen zu können, wofür ihr Geld gut war. Zu den Drohnenvideos kommen noch unzählige Aufnahmen der von vielen Soldaten getragenen Brust- oder Helmkameras, die später per Messenger geteilt werden und am Ende ihren Weg in die sozialen Netzwerke finden.

Der Krieg, dieser jedenfalls, wurde zu einem Kriegsfilm und blieb zugleich real. Er wurde zu einer militärischen Live-Reality-Show, realer als alles andere, denn der Tod ist real, die kinetische Konfrontation ist real, die grausame Wirklichkeit ist real. Es ist, als habe der Krieg eine eidetische Reduktion der Menschenwelt auf das Einfachste, Grausamste und zugleich Menschlichste erreicht.

Das Publikum dieser Show, die auf die Bildschirme starrenden Soldaten, ist weniger zahlreich als sonst beim Fernsehen, dafür aber umso aufmerksamer. Als ich in einer Plattenbauwohnung in Dobropillja auf Oleh und die Fahrt in die Stellungen wartete, servierte ein mir bekannter Feldwebel gezuckerten Kaffee und stellte mir einen Laptop hin, damit ich mich nicht langweilte. Er loggte sich ein und spielte einen Feed von Drohnenvideos seiner Brigade ab.

«Hier, kannst du was gucken.»

Also guckte ich, so wie Dutzende andere Augen. Was dort zu sehen war, brauche ich nicht zu sagen.

Als wäre es ein Modellflugzeug

Genauso hatte ich wenige Tage zuvor in anderen Stellungen zugesehen, wie Piloten einer anderen Brigade mit dem polnischen Flyeye flogen. Das leichte Flugzeug operierte weit jenseits der Nulllinie, in einer Höhe, dass man es mit blossem Auge nicht erkennt. Die Kamera des Flyeye ist weitaus besser als die der Mavics oder Autels – ich kenne ihre Parameter nicht und will da auch kein Experte sein, aber ich habe gesehen, wie der Pilot aus der Ferne eine Feldhecke heranzoomte, in der er ein veraltetes russisches Geschütz mit Bedienungsmannschaft entdeckt hatte, ohne dass die Artilleristen überhaupt merkten, dass sie beobachtet wurden. Die scheinbar grenzenlose Auflösung erlaubte es, auch noch die kleinsten, zur Identifizierung notwendigen Einzelheiten zu erkennen.

Anschliessend kehrt das unbemannte Fluggerät in die Position zurück, wirft die Kapsel mit der empfindlichen Kamera am Fallschirm ab und landet selbst auf dem Feld. Unter dem Schutz von Tarnnetzen tauscht die Bedienungsmannschaft die Batterien aus, reinigt mit Zahnbürsten das Fluggerät von der Schwarzerde des Donbass, faltet den Fallschirm des Kamerabehälters zusammen. Schon ist die Drohne wieder bereit zum Start, von der flachen Hand, als würde da ein Liebhaber sein Modellflugzeug starten und nicht einen Aufklärungsapparat, der Tod und Verderben nach sich zieht.

Ich weiss noch nicht, was das bedeutet, und glaube, niemand weiss es. Die Requisiten dieses Krieges sind insgesamt gleich geblieben, Bühnenbild und Besetzung ähneln denen aus früheren Kriegen: Der Stellungskrieg zeichnet ähnliche Muster wie vor hundert Jahren auf den Feldern Flanderns, in denen sich die Körper meiner Vorfahren aufgelöst haben.

Dieselbe Skizze, die gebrochenen Stellungslinien mit den dorthin führenden Gräben, Befestigungen aus Holz und Erde. Panzer, die nachts ohne Licht über einen Waldweg fahren, die müden, schmutzigen Gesichter der Panzerfahrer wie aus einem der nächsten Kriege. Soldaten in den Schützengräben, die einen noch zu jung, die anderen schon zu alt, wie sie durch das im Graben stehende Wasser waten, die Gewehre an Pflöcken aufgehängt, das Donnern der Geschütze und Bomben, das über den Himmel rollt, im Grunde unaufhörlich, als ich mich im Januar dieses Jahres ein paar Tage zwischen Kramatorsk und Dobropillja aufhielt.

Soldaten zur Erholung im Hinterland, die sich den Kopf zerbrechen, wie sie es schaffen könnten, nicht wieder in die Gräben zurückzumüssen; die darüber diskutieren, wo man dienen könne und wo auf keinen Fall. Ihre Emotionen, denn was heisst das, das dritte – oder elfte – Jahr in einem Krieg zu kämpfen, der seit zwei Jahren eine Geschichte des Verlusts ist. Darauf beruht er, auf dem langsamen Verlust immer neuer Stellungen; Raine, Felder, Ortschaften, und jeder dieser Verluste wird mit Blut bezahlt. Kurachowe ist weg, bald wird Tschasiw Jar weg sein, Torezk und was nicht noch alles. Die Namen wechseln, der Verlust bleibt.

Das sind alles vertraute Vorgänge, auch in meiner Familienerinnerung und überhaupt im kollektiven Gedächtnis.

Momente zwischen Leben und Tod

Noch völlig unverarbeitet ist der Krieg der Bilder, der Krieg von Tausenden Videoübertragungen, die sich über der Nulllinie kreuzen. Auf den Strassen von Pokrowsk landen glasfasergelenkte russische Drohnen zwischen Müll und Schutthalden, sind dort fast unsichtbar und lauern aus ihrer Froschperspektive darauf, dass jemand mit einem Fahrzeug oder zu Fuss kommt, der ihren Sprengsatz verdient hätte.

Auch das ist neu für uns, diese langen Sekunden, wenn nicht Minuten, zwischen dem Augenblick, in dem das Opfer die FPV-Drohne erkennt, und jenem, wenn es von ihr getroffen wird, diese eigentümliche Zwischenzeit, in der man nicht mehr lebendig, aber auch noch nicht tot ist. Das Kampffeld ist transparent geworden, Tod und Leben sind durch einen grauen Streifen getrennt, von einem Niemandsland: Da ist jemand, der nicht mehr lebt, aber auch noch nicht tot ist, schwebend zwischen den Zuständen, ausgeliefert der Gunst des Piloten.

Der Major, der mir von den Drohnen erzählte, sprach auch über die Geländeformation, die seiner Ansicht nach keine grössere Bedeutung mehr hat. Überall Kameras. Du brauchst keine Anhöhe mehr, um etwas zu sehen. Die Artillerie wird ohnehin möglichst tief versteckt. Strategische Bedeutung hat etwas anderes: Alles ruht auf Starlink. Die ganze Übertragung von Tausenden Videoaufnahmen, die Messenger Signal und Google Meet, der Informationskreislauf dieses Krieges, alles erfolgt mithilfe des Satelliteninternets.

«Wenn Musk uns das ausschaltet», sagte damals der Major, «sind wir am Arsch. Dann haben wir nichts.»

«Und was dann?», fragte ich.

«Nichts,» erwidert der Major. «Irgendwas wird uns schon einfallen. So wie vor drei Jahren werden wir das auch jetzt schaffen. Wir denken uns etwas aus, wie wir sie ohne Starlink töten können.» Schon damals wirkte dieser Optimismus ziemlich aufgesetzt auf mich. Heute höre ich viel darüber, dass die ukrainischen Streitkräfte noch mindestens für ein halbes Jahr Kampfreserven haben. Aber wie wollen sie kämpfen, wenn der gesamte Informationskreislauf sich auf das Satelliteninternet stützt, abhängig von den Launen eines narzisstischen Milliardärs, der es jederzeit abschalten kann?

Die verlorene Vergangenheit

In den Stellungen bei Mirnohrad trinkt Oleh kochend heissen Kaffee aus einem Plastikbecher, der weich von der Hitze ist, und legt ganz offensichtlich Wert darauf, mir auf seinem im Starlink-WLAN eingeloggten Handy Fotos und Filme von einem Leben zu zeigen, das es nicht mehr gibt.

Auf dem Display zeigt er jetzt ein stattliches Haus in Mariupol, man sieht, dass Oleh einmal ein vermögender Mann war. Pool, erwachsene Kinder, Enkel, Sommer, Grill, Schwarzmeer. Kleine Kinder toben im Garten. Oleh, in Shorts und buntem Hemd, wendet Steaks und Würstchen über dem Feuer, man trinkt Weisswein auf der Terrasse aus bereiften Gläsern an einem schwülen Sommerabend. Der Strand, in der Ferne die Umrisse von Asowstal, aber vielleicht bilde ich mir das nur ein. Oleh mit Kindern und Enkeln in den Ferien auf Martinique. Zwei Tage vor dem Ausbruch des grossen Krieges kam er von dort zurück. Dann die Belagerung, sie schafften es raus, vorbei an angeblich über zwanzig russischen Kontrollposten.

«Und jetzt», er zeigt auf die Betonwände des kühlen Kellers, in dem wir sitzen, «jetzt nur noch dies. Kein Haus mehr, kein Business, kein Leben. Zum Glück ist wenigstens die Familie in Sicherheit. Aber das Haus ist weg. Kein Leben mehr. Ein anderes gibt es nicht. Das ist das ganze Leben. Seit drei Jahren.»

Dann fahren wir nach Dobropillja zurück. Über die mir unsichtbare Linie zwischen sicherer und gefährdeter Zone, die ich nur daran erkenne, dass Oleh den Helm absetzt. Kurz darauf leuchtet der Drohnendetektor nicht mehr blau und zeigt stattdessen das zittrige, gefrierende Kamerabild einer FPV-Drohne. Meine Gedärme verkrampfen sich.

«Eine von uns, keine Angst», beruhigt Oleh. Aber natürlich habe ich Angst.

Am nächsten Tag kehrte ich nach Hause zurück, nach Pilchowice in Südpolen. Der Krieg ging weiter, genau so wie die letzten drei Jahre. Auf der Fahrt vom Donbass, am Lenkrad des Autos, dachte ich oft an Oleh, der kein Leben mehr hat, so wie Hunderttausende andere Menschen mit ihren Leben, ihren Biografien, die nur deshalb weiterlebten, um kämpfen zu können. Sie werden nicht damit aufhören, nur weil Präsident Trump ihnen das befahl. Oder sogar der Major. Waffengefährte der beiden gefallenen Brüder Ratuschni, von denen einer erst kürzlich umgekommen war, dabei hätte er nach dem Tod des Bruders die Armee verlassen können. Doch er tat es nicht.

Die Kameraden der weissrussischen Freiwilligen Maria Sajzewa, die im Januar mit 24 Jahren fiel, werden ihre Waffen auch nicht einfach so niederlegen. Ich glaube, viele von ihnen werden sogar dann noch weiterkämpfen, wenn der ukrainische Generalstab ihnen das verbietet, wenn es kein Starlink, keine Unterstützung vom Geheimdienst der USA mehr geben wird und die Himars nicht mehr funktionieren.

Ich weiss nur nicht, ob das gut oder schlecht ist. Ich habe keine einfachen Antworten. Einfache Antworten auf komplizierte Fragen gibt es heute ohnehin im Überfluss, denn einfache Antworten scheinen der Tragik ihre Spitze zu nehmen. Blendet man das tragische Element aus, das einfache Antworten verbietet, simplifiziert man die Wirklichkeit. Mit einer simplen Wirklichkeit findet man sich leichter ab.

Deshalb sollten wir das nicht tun.

Der polnisch-schlesische Schriftsteller Szczepan Twardoch lebt in Pilchowice. – Übersetzung aus dem Polnischen von Olaf Kühl.

Exit mobile version