Donnerstag, Oktober 3

China betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz, Taiwan definiert sich in Abgrenzung zum grossen Nachbarn. Lösbar sei der Konflikt nicht, sagt der deutsche China-Kenner Stephan Thome in seinem neuen Buch. Aber man könne ihn einhegen.

Warschau 1972: Am Rande einer Modenschau kommt es zu einer dramatischen Szene. Als der US-Botschafter Walter Stoessel sich dem ebenfalls anwesenden Vertreter Chinas nähert, verlässt dieser fluchtartig den Raum. Der Grund: Mitten in der Kulturrevolution hätte ein unverbindlicher Plausch in der Heimat für den Botschafter schwer kalkulierbare, womöglich sogar tödliche Folgen nach sich ziehen können.

Stoessel gelingt es gerade noch, dem Geschäftsträger Chinas ein Gesprächsangebot seines Präsidenten Richard Nixon zuzurufen. Im Zeichen der sich zuspitzenden Konfrontation mit der Sowjetunion ist die US-Regierung darum bemüht, ihr Verhältnis zu China zu normalisieren. Auch um den Preis, ihren Verbündeten in Taiwan fallenzulassen.

In Stephan Thomes Buch «Schmales Gewässer, gefährliche Strömung. Über den Konflikt in der Taiwanstrasse» erscheint diese Episode als Schlüsselszene einer Dauerkrise zwischen den USA, der Volksrepublik China und Taiwan, das von China als abtrünnige Provinz betrachtet wird. Eine Krise, die sich immer weiter zuspitzt und auf einen katastrophalen Höhepunkt zuzusteuern scheint.

Historische Fakten

Der deutsche Autor Stephan Thome, der in Taipeh lebt, ist ein ausgezeichneter China-Kenner und hat die Region seit dreissig Jahren bis in die abgelegensten Winkel bereist. Herausgekommen ist allerdings kein Reisebericht des mit Taiwan sympathisierenden Autors, sondern eine tiefgründige geopolitische und historische Untersuchung. Nur wer die tief in die Geschichte der Region zurückreichenden Wurzeln des Konflikts kennt, so die der Darstellung zugrunde liegende Annahme, ist in der Lage, die Situation zu deeskalieren.

Tatsächlich ist die Lage verfahren, und die involvierten Parteien scheinen ausweglos auf einen Krieg zuzusteuern. Eine Kompromisslösung scheint nahezu ausgeschlossen angesichts der einander widersprechenden identitätsstiftenden Erzählungen der Volksrepublik China und Taiwans. Das Dilemma bringt Thome auf die Formel: «Behauptet Pekings Narrativ, dass China Taiwan zurückgewinnen muss, um endlich wieder es selbst zu sein, antwortet das taiwanische, dass Taiwan nur es selbst sein kann, wenn es sich Chinas Zugriff entzieht.»

Beide Seiten biegen die historischen Fakten zurecht. Aber es geht in seinem vielschichtigen Buch längst nicht bloss um die Rolle der entgegengesetzten Narrative. Thome beleuchtet die geografischen Gegebenheiten der Konfliktregion und die daraus erwachsenden geostrategischen Interessen Chinas, der Nachbarstaaten und der USA.

Misstrauen

Es geht um die Erfahrung der japanischen Fremdherrschaft, den Chinesischen Bürgerkrieg, die globale ökonomische Bedeutung der Halbleiterindustrie und die drastisch gestiegenen militärischen Fähigkeiten Chinas, die eine gewaltsame Einnahme der Insel durchaus praktikabel erscheinen lassen.

Und wie ist es um die Rolle der USA bestellt? Seit Ende der siebziger Jahre verfolgt Washington im Hinblick auf den Konflikt in der Taiwanstrasse in beide Richtungen eine Politik der strategischen Uneindeutigkeit, die jede akute Bedrohung Taiwans durch die Volksrepublik China als schwerwiegende Angelegenheit betrachtet, doch sich offenhält, wie sich die Regierung verhält, wenn es so weit ist.

Auf der einen Seite muss Peking damit rechnen, dass ein Angriff auf Taiwan zum Krieg mit den Vereinigten Staaten führen könnte. Taipeh wiederum muss damit rechnen, dass es im Falle eines selbst provozierten Konflikts mit China auf die dann dringend notwendige Waffenhilfe der USA verzichten muss. Das hat zur Folge, dass beide Seiten das Verhalten der US-Regierung misstrauisch beäugen.

Brandgefährlich

Heute ist China den USA nicht mehr eindeutig militärisch unterlegen. Die Bevölkerungsmehrheit in Taiwan hält sich nicht länger für chinesisch, und die USA wollen nicht mehr bloss einen Krieg in der Taiwanstrasse verhindern, sondern auch den Aufstieg der Volksrepublik bremsen. Dabei reagiert Washington in Thomes Augen zu scharf, wenn es jeden chinesischen Vorstoss als Teil eines epochalen Kampfs zwischen Demokratie und Diktatur, Freiheit und Tyrannei versteht.

Die Folge sei eine massive Verschlechterung der bilateralen Beziehungen, die in gegenseitigem Säbelrasseln münde. Hierhin gehörten die wiederholte Verletzung der taiwanischen Luftraumüberwachungszone durch chinesische Kampfjets auf der einen und der Transitverkehr amerikanischer Kriegsschiffe in der Taiwanstrasse auf der anderen Seite. Das ist eine brandgefährliche Gemengelage, in der Europas Regierungen gut beraten seien, vorhandene Chancen der Deeskalation auch zu ergreifen.

Zum einen, so Thome, sollte die EU vorerst tunlich darauf verzichten, Taiwan diplomatisch anzuerkennen. Zum anderen könnte Deutschland als wichtiger Handelspartner Chinas seine vielfältigen bilateralen Gesprächsforen und -kanäle benutzen, um seinem Gegenüber deutlich zu machen, dass es vor einer klaren Alternative steht: entweder durch florierende Wirtschaftsbeziehungen mit den reichsten Staaten der Welt zu prosperieren oder sich Taiwan einzuverleiben.

Der Konflikt lässt sich nicht lösen

Beides zugleich, das müsse deutlich werden, sei nicht zu haben. Der Autor resümiert: «Droht in der Taiwanstrasse ein Krieg? Ja. Ist er noch abzuwenden? Ja, wenn sich möglichst viele dafür einsetzen. Das Bemühen sollte von der Einsicht geleitet sein, dass sich der Konflikt um Taiwan vorläufig nicht lösen, sondern nur managen und einhegen lässt.»

Thomes faktenreiches, spannend und zugänglich geschriebenes Buch bietet einen guten Einstieg, um die verwickelte Vorgeschichte und den Verlauf des Konflikts in der Taiwanstrasse besser zu verstehen. Man muss die Werturteile und Handlungsempfehlungen des Autors nicht teilen, um von der Lektüre zu profitieren.

Stephan Thome: Schmales Gewässer, gefährliche Strömung. Über den Konflikt in der Taiwanstrasse. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 360 S., Fr. 35.50.

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