Bisher hat sich die linkspopulistische Regierung in Mexiko an rechtsstaatliche Grundsätze gehalten. Doch nun kommt es wegen einer Justizreform zu einer Staatskrise.
Autokraten errichten in der Regel autoritäre Regime, indem sie schrittweise die persönlichen Freiheiten ihrer Gegner einschränken und die oppositionellen gesellschaftlichen Organisationen und Medien knebeln. Damit bauen sie ihre Macht sukzessive aus. So geschehen etwa unter den Präsidenten Chávez und Maduro in Venezuela.
Doch was geschieht, wenn wie in Mexiko eine Präsidentin auf demokratisch korrekte Weise an die Macht gekommen ist und ausserdem eine Supermehrheit von mehr als zwei Dritteln der Sitze in der Legislative erreicht hat, welche ihr ermöglicht, sozusagen nach Belieben die Verfassung zu ändern? Welche Schranken gibt es dann noch für ihre Machtausübung innerhalb eines demokratischen Systems?
Der frühere mexikanische Präsident Ernesto Zedillo, welcher zwischen 1994 und 2000 die Demokratisierung Mexikos vorangetrieben hat, schlägt Alarm. Wenn Claudia Sheinbaum, die neue Präsidentin, und ihr Mentor und Vorgänger Andrés Manuel López Obrador ihr politisches Projekt umsetzen könnten, so werde die mexikanische Demokratie zur Tyrannei. Seine Befürchtungen werden von zahlreichen politischen Beobachtern geteilt.
Schutz der Minderheit
Zedillos Statement spielt auf ein grundsätzliches Problem in einer Demokratie an. Was geschieht, wenn eine Mehrheit mit demokratischen Entscheiden beginnt, die Rechte der Minderheit ausser Kraft zu setzen? Der französische politische Philosoph Alexis de Tocqueville hat das Problem der «Tyrannei der Mehrheit» bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in seinem Buch «De la démocratie en Amérique» angesprochen, das anhand von Beobachtungen während einer USA-Reise entstanden ist. Seither haben sich zahlreiche Autoren mit dieser Frage befasst.
Was muss vorgekehrt werden, damit in einer Demokratie eine solche Tyrannei verhindert werden kann? Zwei Punkte sind laut politischen Denkern essenziell. Erstens müssen die individuellen Freiheitsrechte festgeschrieben und als unveräusserlich deklariert werden. In der amerikanischen Verfassung geschieht dies mit der Bill of Rights, den ersten zehn Verfassungszusätzen. Zweitens braucht es eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Justiz. Letztgenannte muss unabhängig von den ersten beiden Gewalten sein und einschreiten können, wenn diese die Verfassung und die persönlichen Freiheitsrechte verletzen.
Regierungspartei ist populär bei der armen Mehrheit
Doch wie ist es in Mexiko überhaupt zu einer solchen Supermehrheit gekommen? López Obrador wurde 2018 mit einem linkspopulistischen, gegen die herrschende Elite gerichteten Programm zum Präsidenten gewählt. Die grossen sozialen Gegensätze in Mexiko sind für ihn die Folge von Regierungen, die für eine privilegierte Minderheit gearbeitet haben, statt sich für das Wohl der armen Mehrheit einzusetzen.
In seiner sechsjährigen Präsidentschaft hat er die Sozialausgaben real um 30 Prozent erhöht. Zentral war dabei die Einführung einer nationalen, beitragsunabhängigen Rente von zurzeit umgerechnet 150 Dollar pro Monat für alle Mexikaner, die über 65 Jahre alt sind. Mit weiteren Sozialprogrammen wurden arme Familien, Behinderte und Studenten unterstützt. Ausserdem verdoppelte López Obrador während seiner Amtszeit den gesetzlichen Mindestlohn.
All dies gelang ihm, ohne dass dabei der Wirtschaftsmotor ins Stottern geriet. Das Land erfreut sich robuster Auslandinvestitionen besonders aus den USA und Europa. Angesichts der Lieferkettenprobleme und des Konflikts mit China ist Mexiko zu einem bevorzugten Produktionsstandort für den amerikanischen Markt geworden und zum wichtigsten Handelspartner der USA aufgestiegen. Im Gegensatz etwa zum Venezuela von Chávez und Maduro hat López Obrador der Privatwirtschaft weitgehend freien Lauf gelassen. Der mexikanische Peso hat sich in der zweiten Hälfte seiner sechsjährigen Amtszeit gegenüber dem Dollar um mehr als 50 Prozent aufgewertet. Zu stabilen Verhältnissen hat auch die für einen Linkspopulisten ungewöhnliche Austeritätspolitik beigetragen.
Während die Mittel- und die Oberschicht López Obrador und Sheinbaum überwiegend ablehnend gegenüberstehen, ist die Zustimmung zu ihrer Politik bei der ärmeren Bevölkerungsmehrheit stark. López Obradors Morena-Bewegung, die erst 2014 als politische Partei registrierte wurde, verzeichnete einen kometenhaften Aufstieg. Die von ihm bevorzugte Nachfolgerin Sheinbaum siegte bei den Präsidentschaftswahlen im Juni mit 33 Prozentpunkten Vorsprung. Im Kongress konnte die Regierungskoalition gleichzeitig die erwähnte Supermehrheit erringen. Und auf gliedstaatlicher Ebene kontrolliert Morena, die 2018 erstmals die Regierungsverantwortung in fünf Teilstaaten (inkl. Hauptstadt) erlangte, inzwischen 21 der 32 territorialen Entitäten.
Plötzliche Staatskrise
Seit den Wahlen im Juni hat sich der Himmel über Mexiko allerdings verdüstert. Im Wahljahr liess López Obrador das Budgetdefizit plötzlich explodieren, so dass die Reduktion der Ausgaben zu einer wichtigen Herausforderung für Sheinbaum geworden ist. Angesichts der Supermehrheit von Morena und deren Versuch, die Macht der Präsidentschaft auszuweiten, sind die ausländischen Investoren skeptisch geworden und stellen teilweise Investitionen zurück. Seit den Wahlen im Juni hat sich der Peso um rund 15 Prozent gegenüber dem Dollar abgewertet.
Der eigentliche Stein des Anstosses ist zurzeit eine Verfassungsänderung vom September, welche festlegt, dass in Zukunft rund 7000 Richterstellen durch Volkswahl bestimmt werden, darunter auch das Oberste Gericht. Die Wahl soll in zwei Schritten 2025 und 2027 erfolgen. Die Regierungspartei sieht die Justiz als einen Staat im Staat, welcher vor allem der gesellschaftlichen Elite dient und nicht dem Volk. Mit einer Volkswahl will sie nach eigenen Angaben erreichen, dass die Korruption eingedämmt wird und die Richter für ihre Entscheidungen Rechenschaft ablegen müssen.
Für viele Justizbeamte, die Opposition und die Investoren hat dies zur Folge, dass die Richter nicht mehr anhand ihres Fachwissens ausgewählt werden, sondern anhand ihrer politischen Überzeugungen. Für die Kritiker führt dies dazu, dass die Justiz nicht mehr unabhängig ist, und damit zur Abschaffung der Gewaltenteilung. Der Streit hat inzwischen zu einer eigentlichen Staatskrise geführt. Viele Justizbeamte sind im Oktober aus Protest gegen die Verfassungsänderung in einen Streik getreten, während Regierungsbeamte drohen, gewisse Entscheide der Justiz nicht mehr umzusetzen.
Kompromiss dringend nötig
Die Auseinandersetzung ist Gift für Mexikos Demokratie. Für das Land wäre es deshalb unbedingt nötig, dass beide Seiten einen Kompromiss suchen. Sheinbaum ist mit ihrer Supermehrheit am längeren Hebel. Eine anhaltende Konfrontation wird sie nur dazu verleiten, ihre Macht noch weiter auszubauen.
Aus demokratiepolitischer Sicht ist nicht die Volkswahl an und für sich das echte Problem, auch wenn diese angesichts der grossen Zahl der Bundesrichter Fragen aufwirft bezüglich der Durchführbarkeit und der fachlichen Eignung der Gewählten. Die Volkswahl gibt Sheinbaum angesichts ihrer Supermehrheit eigentlich sogar weniger Kontrolle über die Ernennungen ins Oberste Gericht als die bisherige Regelung. Laut dieser muss sie nämlich jeweils dem von ihr beherrschten Senat einen Dreiervorschlag schicken, wonach dieser daraus mit Zweidrittelmehrheit eine Person auswählt. Das eigentliche Problem liegt darin, dass die Richter durch die Verfassungsänderung mitten in ihrer Amtszeit abgesetzt würden und sich die Präsidentin damit möglicherweise auf einen Schlag eine ihr hörige Justiz schaffen kann.
Die Gesetzgebung zur Volkswahl muss erst noch ausgearbeitet werden. Damit gäbe es noch Raum für Kompromisse, etwa bei den Anforderungen für die Richter und bei den Übergangsbestimmungen.
Freihandelsabkommen ist entscheidend
Was aber, wenn dies nicht gelingt? Müssen wir dann in Mexiko mit einer autoritären Wende rechnen? Es gibt mindestens drei Faktoren, die trotzdem zu Hoffnung Anlass geben. López Obrador und Sheinbaum haben zusammengerechnet insgesamt 15 Jahre regiert, auf nationaler Ebene und in Mexiko-Stadt. Sie haben dabei keine Tendenzen erkennen lassen, die persönlichen Freiheitsrechte einzuschränken. Ausserdem besitzt Mexiko weiterhin eine starke Zivilgesellschaft mit echten Oppositionsparteien, Nichtregierungsorganisationen und unabhängigen Medien, die gegen diktatorische Tendenzen Widerstand leisten können.
Das Wichtigste aber: Mexiko ist eingebunden in das nordamerikanische Freihandelsabkommen USMCA, das Nachfolgeabkommen des Nafta. Dieses muss spätestens 2026 neu verhandelt werden. Ein mexikanisches Abschweifen in eine Diktatur würde von den USA und Kanada nicht toleriert. Sheinbaum andererseits weiss, dass ein Ausscheiden aus dem Abkommen für Mexiko gravierende wirtschaftliche Konsequenzen hätte. Vom USMCA geht deshalb eine wichtige Schutzwirkung für die demokratischen Institutionen in Mexiko aus.
Dies kann allerdings nur funktionieren, wenn Donald Trump dem Abkommen nicht mit protektionistischer Politik den Boden entzieht. Die in diesem Fall zu erwartende Wirtschaftskrise würde die autoritären Tendenzen in Mexiko nur noch verstärken.