Mittwoch, Januar 15

Der Norweger Jakob Ingebrigtsen will in Paris zum zweiten Mal Olympiasieger über 1500 m werden. Doch seine Leistungen werden von einem Familiendrama überschattet.

Die Geschichte war allzu schön. Gjert Ingebrigtsen, ein Logistiker, wird zum Selfmadecoach, weil seine Kinder gerne Sport treiben. Er pröbelt und tüftelt, und schon mit dem ersten Sohn hat er Erfolg: Henrik wird 2012 Europameister über 1500 m. Aber Gjert hat sieben Kinder, und bei jedem will er es noch besser machen. Filip, zwei Jahre jünger, wird 2016 ebenfalls Europameister über 1500 m. Da reibt sich die Welt schon die Augen.

Die Ingebrigtsens werden Kult, der norwegische Fernsehsender NRK dreht unter dem Titel «Team Ingebrigtsen» eine zehnteilige Doku-Serie. Am Ende folgt der Knüller: Jakob, mehrere Jahre jünger als Henrik und Filip, gewinnt 2021 Olympiagold über 1500 m. Er wurde bereits als Teenager weltweit als Ausnahmetalent gefeiert. Aber Vater Gjert sagte, Jakob sei vor allem deshalb so gut, weil er bei ihm alle Fehler vermieden habe, die er bei den älteren Brüdern noch gemacht habe.

Physiologen hatten Jakob Ingebrigtsen bereits als Elfjährigen auf Herz und Nieren getestet. Und sie hatten gestaunt. Der Bub wies Werte auf, wie sie normalerweise deutlich ältere Athleten haben. Vater Gjert sagte bei einem Gespräch mit der NZZ 2019 im Engadin, es sei ja klar, dass man die richtigen Gene haben müsse, um erfolgreich zu sein. «Aber nur 50 Prozent der Leistung sind Talent, der Rest ist Erziehung und Training.»

Wie konsequent der Vater und Trainer diese Überzeugung umsetzte, erzählte er gerne. Angefangen hatte es damit, dass Henrik Langläufer werden wollte. Weil es in Südnorwegen meist keinen Schnee hatte, liess der Vater seine Kinder morgens vor der Schule in einem leeren Parkhaus auf Rollski Runden drehen. Dann wechselten sie zur Leichtathletik, und das Training bestand aus laufen, laufen, laufen.

Selbst am Morgen vor der Hochzeit muss der Sohn trainieren

In seinem Training sei die Betreuung der entscheidende Aspekt, sagte Gjert Ingebrigtsen in dem Gespräch 2019 in St. Moritz. «Würde ich das Programm an 100 Leute faxen, kämen wohl 99 nicht damit zurecht.» Betreuung hiess auch, bedingungslose Unterordnung einzufordern. Sein Sohn Henrik sagte damals schon, dass es regelmässig zu Konflikten komme, weil der Vater sich auch in Dinge einmische, die nichts mit dem Training zu tun hätten.

In St. Moritz wohnte die Familie gemeinsam in einer Wohnung. Der Vater kritisierte Henrik, wenn er zu lange telefonierte, oder faltete Jakob zusammen, wenn er an der Spielkonsole hing. Das Training hatte stets Vorrang. Gjert verbot Filip einmal, mit der Freundin Ferien zu machen, und als Henrik heiratete, musste er am Morgen vor der Trauung noch eine Laufeinheit runterreissen. «Niemals!», antwortete er 2019 auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, dereinst seine Kinder zu trainieren. «Ich möchte ein liebender und unterstützender Vater sein.»

Das tönte damals schon nicht gerade nach Familienidylle. 2022 gab es dann den ersten Knall: Die Söhne gaben bekannt, dass sie nicht mehr unter Gjert trainieren. Ein Jahr später erklärten sie ihren Schritt: Gjert sei in ihrer Kindheit gewalttätig gewesen. «Wir sind mit einem Vater aufgewachsen, der sehr aggressiv und kontrollierend war und im Rahmen seiner Erziehung körperliche Gewalt und Drohungen gebraucht hat», schrieben sie in der Zeitung «Verdens Gang». Damit hätten sie lange gelebt, doch 2021 habe es einmal mehr physische Bestrafung gegeben. «Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.»

Der offene Brief war der vorläufige Höhepunkt einer Schlammschlacht. Schon zuvor hatten sich der Vater und seine Söhne gegenseitig nichts geschenkt. Gjert hatte nach der Fahnenflucht seiner Söhne sofort ein anderes norwegisches Talent übernommen, Narve Nordas. Und der lief an den WM 2022 im Nacken von Jakob Ingebrigtsen zu Bronze über 1500 m. Dieser setzte beim norwegischen Verband durch, dass sein Vater Nordas nicht mehr an Wettkämpfen mit dem Nationalteam betreuen darf.

Nach dem offenen Brief der Ingebrigtsen-Brüder nahm die norwegische Polizei Ermittlungen auf. Der inzwischen 58-jährige Gjert liess über einen Anwalt mitteilen, er habe sich nichts vorzuwerfen. Er sei als Vater und Ehemann alles andere als perfekt gewesen. «Aber ich habe niemals Gewalt gegen meine Kinder ausgeübt.» Seine Frau Tone steht zu ihm. Sie sagt, sie habe mit Gjert «einen Pakt geschlossen, den ich nicht brechen werde».

Gegen den Vater Gjert läuft ein Verfahren wegen Misshandlung seiner Tochter Ingrid

Im Herbst 2023 heiratete Jakob seine langjährige Freundin Elisabeth Asserson. Gjert war nicht eingeladen, und Tone sass nicht am Familientisch. Vor wenigen Wochen bekam das Paar eine Tochter, Filippa. Als bei der werdenden Mutter die Wehen einsetzten, war Jakob Ingebrigtsen im Engadin. Er absolvierte noch ein Training, flog nach Norwegen, brachte noch eine Einheit auf der Bahn hinter sich und fuhr dann seine Frau ins Spital.

Bereits im April war bekanntgeworden, dass gegen Gjert Ingebrigtsen in Norwegen Anklage erhoben worden ist. Der Vorwurf laute Misshandlung eines Familienmitglieds, teilte die Staatsanwaltschaft mit. Der Vater soll das Kind zwischen 2018 und 2022 körperlich angefasst, verbal beleidigt, bedroht und mit der Hand oder einem Handtuch ins Gesicht geschlagen haben.

In dem Communiqué heisst es auch, die Untersuchungen im Zusammenhang mit sechs anderen Kindern seien eingestellt worden, weil es nicht genügend Beweise gab, und in einem Fall wegen Verjährung. Anscheinend geht es im Verfahren um das einzige Mädchen unter den sieben Kindern, die inzwischen 18-jährige Ingrid, die der nächste Star der Familie werden sollte, dem Sport aber den Rücken gekehrt hat.

The IngebritZ - Ingen gjør det bedre - Jacob , Henrik Filip Ingebrigtsen OL-Sang

Die Geschichte wird wohl irgendwann vor Gericht aufgearbeitet werden. Für Jakob Ingebrigtsen aber geht es darum, der ganzen Welt zu beweisen, dass er es auch ohne Gjert kann. Nach dem Olympiasieg 2021 wurde er auf seiner Herzensstrecke, den 1500 m, zweimal an Weltmeisterschaften geschlagen. In diesem Sommer lief er schneller denn je, und vor den Spielen hat er zusammen mit seinen Brüdern ein Video ins Netz gestellt, dessen norwegischer Titel übersetzt heisst: «Niemand kann es besser.»

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