Montag, November 18

Handgreiflichkeiten an einem Diskussionsabend, Schmierereien im Schutz der Dunkelheit: Berichte aus einer Welt, in der «Schweizer Medien lügen!» zur Kampfparole geworden ist.

Es sollte eine Veranstaltung zu Antisemitismus und «kollektiver Befreiung» werden. Doch was der Zürcher GLP-Gemeinderat Ronny Siev vergangenen Donnerstag im städtisch subventionierten Szenelokal Zentralwäscherei im Industriequartier erlebte, war das Gegenteil von befreiend.

Eine kleine antizionistische jüdische Gruppe, die sich Kollektiv Doykait nennt, hatte zum Anlass geladen – als Gegenveranstaltung zu einem Vortrag, den Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der deutschen Regierung, am Montagabend an der Universität Zürich hielt. Das Kollektiv lehnt nach eigenem Bekunden den Staat Israel ab und unterstützt die palästinensische Befreiungsbewegung.

Der Abend in der Zentralwäscherei blieb nicht friedlich. Wie die Gruppe am Samstag auf Instagram berichtete, kam es gegen Ende der Veranstaltung zu Handgreiflichkeiten, und zwar «infolge einer Störung».

Die «Störung» – so erzählen es Siev und andere Anwesende gegenüber der NZZ – bestand darin, dass jemand es gewagt hatte, das auf der Bühne Erzählte infrage stellen zu wollen.

«In diesen Diskursen gibt es keinen Diskurs»

«Der ganze Event drehte sich um die Frage, wie man Antisemitismus so definieren kann, damit möglichst wenig als antisemitisch gilt», sagt Siev zur NZZ. Kritische Fragen seien unerwünscht gewesen. «Die Leute reden immer von Diskursen, aber in diesen Diskursen gibt es keinen Diskurs.» Das Kollektiv Doykait reagierte bis am frühen Montagabend nicht auf eine Anfrage der NZZ.

Zum Eklat kam es offenbar, als ein Mann im Publikum gegen Ende der Veranstaltung kritische Fragen habe stellen wollen. Es gab jedoch keine Fragerunde. «Beim Hinausgehen sah ich dann, wie ein anderer Besucher den Mann mit dem Ellenbogen zur Seite stiess», sagt Siev.

Ein weiterer Augenzeuge, der anonym bleiben will, berichtet, der Besucher habe den Mann bedroht. Er habe ihm gesagt, dass er ihn zusammenschlagen werde. Ausserdem habe er ihn fotografiert. Ein weiterer Besucher habe den Mann ebenfalls geschubst. Die Veranstalter hätten aber eingegriffen und so eine Eskalation verhindert.

Siev sagt, er selbst habe sofort laut ausgerufen, dass die Bedrohung des Mannes nicht okay sei. Doch beim Hinausgehen sei er dann selbst tätlich angegangen worden. «Zwei Frauen kamen auf mich zu, eine schubste mich weg», sagt er. Sie habe ihm gesagt, hier sei kein Platz für ihn oder Leute wie ihn.

Was die Frau gemeint haben könnte, kann Siev nur vermuten. Als jüdischer Gemeinderat hat er sich seit dem 7. Oktober 2023 immer wieder öffentlich für die Unterstützung Israels ausgesprochen. Er steht somit für eine ganz andere Haltung als jene, die auf dem Podium in der «Zentralwäscherei» vertreten worden war.

«Ich fragte die Frauen, ob sie Gewalt in Ordnung fänden», sagt er. «Eine der beiden antwortete, ja, das tue sie.»

Am gleichen Abend an derselben Veranstaltung kam es zudem zu einem weiteren Vorfall, wie die NZZ erfahren hat. Philip Bessermann, der Geschäftsleiter der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus, wurde als Nazi beschimpft. Er solle verschwinden, sonst knalle es, sagte ihm ein Anwesender. Die Bezeichnung Nazi ist besonders stossend, weil Bessermann selbst jüdisch ist.

Bessermann bestätigt den Sachverhalt, will sich aber nicht weiter dazu äussern. Er sagt, es bestehe ein Austausch mit den Organisatoren und dem Vorstand der «Zentralwäscherei».

Der FDP-Gemeinderat Flurin Capaul war ebenfalls anwesend. Es seien an der Veranstaltung sehr befremdende Aussagen gemacht worden, sagt er. «Ein Referent sagte, er finde es sehr erfrischend, dass man in Zürich noch ‹from the river to the sea› skandieren dürfe.»

«Politiker betrügen!»

Am Anlass in der «Zentralwäscherei» kam auch etwas anderes zur Sprache: die Nahost-Berichterstattung der Schweizer Medien. Diese wurde gemäss mehreren Anwesenden scharf kritisiert, bis hin zu Kraftausdrücken aus dem Fäkal-Bereich.

Am Samstag fand in Zürich sodann eine bewilligte propalästinensische Demonstration statt. Mehrere hundert Personen zogen durch die Innenstadt. Unter die Palästina- und Libanon-Flaggen mischten sich auch rote Fahnen, mit Hammer und Sichel oder dem Logo der linksautonomen Revolutionären Jugend.

Auf Transparenten wurde der Boykott Israels gefordert, auf anderen die Befreiung palästinensischer und libanesischer Gebiete. «Stop the genocide», riefen die Teilnehmenden.

Dann, als sie am Hauptsitz des Tamedia-Konzerns vorbeizogen, skandierten die Demonstranten einen anderen Slogan, wieder und wieder: «Schweizer Medien lügen! Politiker betrügen!»

Ein Video, das nach der Demonstration vorübergehend auf Instagram zirkulierte, zoomt während dieser Worte direkt auf das «Tages-Anzeiger»-Logo.

Am selben Abend, kurz vor 22 Uhr, formierten sich mehrere Dutzend Vermummte an der Zürcher Falkenstrasse zu einer unbewilligten Nachdemonstration. Sie schmierten ein rotes Dreieck – ein Symbol der Hamas – an das Redaktionsgebäude der NZZ. Kurz darauf nahm die Polizei zehn von ihnen fest. Gemäss der Stadtpolizei handelt es sich um Personen aus der linksautonomen Szene.

Unterdessen sind die Verhafteten wieder auf freiem Fuss, wie die Stadtpolizei am Montag gegenüber der NZZ schreibt. Die Ermittlungen liefen, von einem direkten Zusammenhang mit der bewilligten Demonstration vom Nachmittag gehe man nicht aus.

Die roten Hamas-Dreiecke

Es ist nicht das erste Mal, dass Linksextreme mit antiisraelischen und Hamas-freundlichen Aktionen auffallen. Im Juli tauchte beim Flussbad Oberer Letten über Nacht ein gigantisches Graffiti auf, das von der Revolutionären Jugend gezeichnet war. «From the river to the sea», war dort zu lesen. Und im Schriftzug «Smash Zionism» stand das rote Hamas-Dreieck.

Einen Monat zuvor waren diverse Zürcher Galerien mit propalästinensischen Slogans versprayt worden. Auch dort – bei einer Galerie, die gerade Werke einer jüdischen Künstlerin zeigte – war das rote Dreieck aufgetaucht. Das Symbol, mit dem die Hamas und deren Sympathisanten ihre Feinde markieren. Die Täterschaft ist laut der Stadtpolizei bis heute unbekannt.

Seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Gaza-Krieg haben in Zürich eine Vielzahl von kleineren und grösseren Pro-Palästina-Kundgebungen stattgefunden, die meisten im Grundsatz friedlich. Von Anfang an dabei waren aber auch linksautonome Splittergruppen, die mit Flaggen und revolutionären Slogans Präsenz markierten.

Ein ihnen nahestehender Instagram-Account nahm dabei immer wieder die Schweizer Presse ins Visier. «Wie die Medien Zustimmung zum israelischen Völkermord produzieren – 9 Beispiele», ist ein Post betitelt. Ein anderer ruft zu Beschwerden an die SRF-Ombudsstelle auf, weil SRF zu israelfreundlich berichte.

Als im Frühling rund 50 Personen den Lichthof der Universität Zürich zu besetzen versuchten, dauerte es nicht lange, bis auch die bekannteste Zürcher Linksextreme vor Ort auftauchte: die Kommunistin Andrea Stauffacher, Führungsfigur des Revolutionären Aufbaus, der Mutterorganisation der Revolutionären Jugend.

In der zersplitterten Welt der Zürcher Linksautonomen ist Stauffacher – heute 74 – eine der wenigen Figuren, die seit Jahrzehnten öffentlich auftreten. Wie gross ihre Organisation und deren Jugendflügel sind, ist nicht bekannt. Den harten Kern schätzen Beobachter auf 50 bis 70 Mitglieder. Klar scheint, dass die meisten jung sind, oft unter 30.

Von den am Samstagabend verhafteten Linksautonomen ist die jüngste Person 19 Jahre alt, die älteste 74.

Gemeinsam gegen den Staat

Die unbewilligte Demonstration samt Hamas-Schmiererei fällt in eine von der Revolutionären Jugend und anderen Splittergruppen verkündete «Aktionswoche», die das Motto «Krieg dem Krieg!» trägt. In diesem Rahmen hat die Gruppe bereits stolz eine Farbaktion gegen ein Ausflugsziel der Zürcher Offiziersgesellschaft verkündet, begleitet von einem verwackelten Online-Video der Aktion.

Sie hatte aber auch zur Teilnahme an der Pro-Palästina-Demonstration vom Samstag aufgerufen. Und zur Veranstaltung des Kollektivs Doykait in der «Zentralwäscherei».

Die Strategie der Autonomen scheint klar zu sein: das virulente Palästina-Thema nutzen, um ihre eigenen Inhalte zu verbreiten. Gruppierungen wie der «Aufbau» sehen sich als revolutionäre Speerspitze, die mit Provokation und Gewalt Zusammenstösse aller Art mit der Polizei und dem «bürgerlichen Staat» produziert. Das wiederum – so die Idee – soll weniger extreme Teile des linken Lagers dazu bringen, sich ebenfalls gegen ebenjenen Staat zu wenden.

«Wir nutzen solche Angriffe, um mehr Publizität zu machen, um Propaganda zu machen», sagte eine Aktivistin kürzlich in der «Roten Welle», der Radiosendung des «Aufbaus».

Bemerkenswert ist, dass die Extremisten es dabei offenbar als opportun erachten, auch Medienhäuser ins Visier zu nehmen.

Ob die Strategie aufgehen kann, ist eine offene Frage. Bis jetzt jedenfalls gibt es keine Anzeichen für ein signifikantes Erstarken der linksautonomen Szene, wie auch der letzte Lagebericht des Nachrichtendienstes festhält. «Ihre Aktionen erregen hauptsächlich Aufmerksamkeit. Hingegen gelingt es ihr nicht, die Demokratie und die sie tragenden Prinzipien zu destabilisieren», heisst es dort.

Exit mobile version