Der Zürcher erfuhr vor knapp drei Monaten, dass er an Lymphdrüsenkrebs erkrankt ist. Nun spricht Hintermann über die schlimmsten Tage seines Lebens. Und sagt, wie die Krankheit seine Einstellung zum Leben verändert hat.
Niels Hintermann, Sie haben an Heiligabend mit der letzten Bestrahlung die Krebstherapie abgeschlossen. Wie geht es Ihnen?
Sehr gut. Es gab vor allem während der Chemotherapie harte Momente, manchmal schaffte ich es kaum vom Bett auf die Couch. Aber wenn ich höre, was andere Patienten oder auch Ärzte sagen, darf ich mich nicht beklagen. In den zwei Monaten der Therapie hatte ich vielleicht sieben oder acht schwierige Tage.
Sie waren in Val Gardena erstmals wieder an einem Skirennen. Warum war Ihnen das wichtig?
Ich wollte die Leute wieder einmal sehen. Die Anteilnahme aus dem Skizirkus war riesig, das habe ich sehr geschätzt. Und ich wollte einfach die Atmosphäre aufsaugen.
Fällt es Ihnen schwer, dass Sie nicht selbst fahren können?
Als ich mir in den vergangenen Wochen die Rennen am TV angeschaut habe, war es gar nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte. Ich bin körperlich viel zu weit weg, als dass ich mir so etwas zutrauen würde. Als ich in Val Gardena aber im Schnee stand und die Kälte spürte, hat es mich schon gekitzelt.
Wie ist es denn, den Kollegen am TV zuzuschauen?
Fürchterlich! Ich bin auf der Couch wie auf Nadeln. Ich weiss, wie gut sie Ski fahren, und denke immer wieder: «Ach, das geht doch besser!» Ich fiebere voll mit, der Puls ist gefühlt die ganze Zeit auf 170 – als ob ich selbst fahren würde.
Sie haben in der vergangenen Saison die Abfahrt von Kvitfjell gewonnen, waren in der Disziplinenwertung so gut klassiert wie nie zuvor. Wie ist es, wenn man da als Sportler plötzlich auf null heruntergebremst wird?
Das kann ich gar nicht beschreiben. Kurz vorher war ich mit dem Team in Chile, ich trainierte voll und fühlte mich gut auf den Ski. Das erste Telefongespräch mit dem Verbandsarzt Walter O. Frey hat ein paar Minuten gedauert, und in dieser kurzen Zeitspanne hat sich das Leben um 180 Grad gedreht. Vorher geht es darum, ob du parat bist und wie wohl die kommende Saison wird. Danach fragst du dich: «Werde ich überhaupt wieder gesund?»
Sie wussten nicht sofort, was auf Sie zukommt?
Zwischen der Diagnose und der ersten Besprechung mit den Onkologen vergingen vier Tage, in denen ich tausend Fragen und keine Antworten hatte. Das waren die schlimmsten Tage meines Lebens. Du hast keinen Boden unter den Füssen und fällst immer tiefer.
Was hat Ihnen in dieser Situation geholfen?
Ich war gottenfroh, dass der Mentaltrainer gleich am Tag nach der Diagnose zwei oder drei Stunden Zeit für mich hatte. Da konnte ich einige Dinge klären. Aber es blieb eine grosse Ungewissheit, denn ich hatte überhaupt keinen Bezug zum Thema Krebs.
Sie stellten sich bestimmt auch existenzielle Fragen.
Krebs assoziiert man direkt mit dem Tod. Das ist schlimm. Ich sehe, was für einen Job meine Onkologen machen – das könnte ich mir im Traum nicht vorstellen. Ich brauchte jeden Abend ein Care-Team, denn du bist permanent mit so viel Elend und Leid konfrontiert. Damit könnte ich nicht umgehen.
Aber das Gespräch mit diesen Onkologen war für Sie auch ein Wendepunkt.
Gemessen an der Situation, stellten sie die bestmögliche Prognose. Damit hat sich vieles von selbst gelöst. Ich konnte die Therapie mit der Einstellung angehen, dass nun ein paar turbulente Monate bevorstehen, aber nachher alles erledigt sein würde.
Haben Sie trotzdem noch gehadert, oder waren Sie sofort im Kampfmodus?
Als ich wusste, welche Behandlung auf mich zukommt und wie meine Aussichten sind, habe ich nur noch nach vorne geschaut. Meine Einstellung war: «Jetzt gebe ich zwei, drei Monate lang Vollgas, und danach geht das Leben weiter.» Ich habe auch rasch akzeptiert, dass es schlechte Tage geben würde. Das kann ich für die Zukunft mitnehmen: begreifen, dass es nicht nur gute Tage gibt. Und wenn es mal nicht läuft, muss man das so nehmen, wie es halt ist. Man muss immer ganz nah bei der gegenwärtigen Situation bleiben und nicht hadern, weil vor einem halben Jahr alles besser war.
Der Flachländer
reg. Niels Hintermann, 29, ist einer der wenigen Athleten, die es im Skirennsport aus dem Zürcher Flachland an die Weltspitze schafften. Er ging dazu schon als Zehnjähriger nach Österreich, zuerst an die Skihauptschule in Schruns-Tschagguns, später ans Skigymnasium in Stams. Der Mann aus Bülach gewann drei Rennen im Weltcup. Im Oktober wurde bei ihm Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert.
Sie haben im Juni geheiratet. Wie wichtig ist Ihre Frau Lara in Ihrer derzeitigen Situation?
Ich kann nicht genug betonen, wie wichtig sie ist. Es war trotz allem auch sehr schön, einmal länger zu Hause zu sein. Wir hatten es sehr gut miteinander, konnten Spiele spielen, gemeinsam kochen, einen Film schauen. Aber wenn ich schlechte Tage hatte, bekam ich schon mit, dass sie sich Gedanken machte. Es ist eine belastende Situation.
Was hat Ihnen Kraft gegeben?
Dass ich ein Sozialleben führen konnte, wie ich es nur begrenzt kenne, wenn ich mit dem Skizirkus unterwegs bin. Mit Leuten zusammensitzen, einen Match besuchen . . . All das, was für die meisten Menschen ganz normal ist. Und es hat gut getan, dass Teamkollegen, Trainer und auch der Verband sich immer wieder gemeldet haben.
Gab es Leute, die sich distanzierten, weil sie Mühe hatten mit dem Thema Krebs?
Nein, gar nicht. Ich habe von Anfang an gesagt: «Ich habe kein Problem, darüber zu reden. Fragt, wenn ihr Fragen habt.» Ich wollte die Krankheit nicht in den Vordergrund rücken, aber ich wollte sie auch nicht verstecken. Ja, es ist eine schlimme Diagnose, aber es gibt viele Menschen, die sich damit auseinandersetzen müssen.
Haben sich andere Krebspatienten bei Ihnen gemeldet?
Es gab sehr viele Reaktionen, und die Bandbreite war riesig. Ich bekam einfache Tipps für die Zeit der Chemotherapie, aber auch Hinweise auf Methoden der Alternativmedizin. Es gab schöne, aber auch sehr traurige Geschichten. Meine Frau und ich lasen manche E-Mails und sagten uns: «Wir haben es wirklich gut. Es hätte viel schlimmer kommen können.» Es gab auch Leute, die sagten: «Es tut uns gut, dass du darüber redest.»
Als Sie die Medien über Ihre Krankheit informierten, sagte der Verbandsarzt Walter O. Frey, dass Sie als Spitzensportler von Ihrem Kampfwillen profitieren würden. Haben Sie das gespürt?
Man kann es nicht vergleichen mit einer Reha nach einer Sportverletzung. Aber ich wusste immer: Das ist das nächste Datum, und bis dann habe ich alles hinter mir. Ich wusste, dass es mir nach jeder Infusion 48 Stunden lang gutgeht, und dann wird es für ein paar Tage schwierig. Das musste ich akzeptieren, und da hat mein Mindset geholfen. Ich habe nie gehadert: «Warum muss das sein? Warum gerade ich?» Ich habe immer nach vorne geschaut.
Inwiefern hat Ihre physische Verfassung geholfen? Sie waren bei der Diagnose ja topfit.
Am Anfang habe ich profitiert. Jeder Arzt hat mir gesagt, es sei viel einfacher, eine Chemotherapie durchzustehen, wenn man körperlich fit sei. Inzwischen merke ich, dass ich weit von der früheren Verfassung entfernt bin. Aber ich muss das auch nicht vergleichen, ich brauche jetzt sicher etwas Zeit, bis ich wieder ein Spitzensportler bin.
Haben Sie während der Therapie trainiert?
Im ersten Chemo-Zyklus konnte ich regelmässig etwas machen, rund eine Stunde täglich. Im zweiten Zyklus hatte ich keine Chance mehr. Da ging ich noch ein wenig spazieren. An Training war nicht zu denken, der Körper war permanent unter Stress, er hätte keine Energie gehabt, um sich auch noch vom Training zu erholen. Mitte Dezember habe ich wieder angefangen, jetzt möchte ich sukzessive aufbauen.
Gibt es einen Plan fürs Comeback?
Wir müssen schauen, wie lange es dauert, bis ich körperlich wieder auf dem Niveau vom letzten Frühling bin. Erst dann können wir auch fürs Skifahren planen. Grundsätzlich möchte ich dabei sein, wenn die anderen im Juli/August wieder auf den Schnee gehen.
Sie haben den Mentaltrainer angesprochen. Hat es Ihnen geholfen, dass Sie schon vorher auf dieser Ebene gearbeitet hatten?
Das ist ein omnipräsentes Thema, nicht nur bei mir. Meiner Meinung nach macht die Psyche heute fast den grössten Teil am Erfolg aus. Ski fahren können alle, körperlich sind alle parat. In den letzten Monaten habe ich sehr intensiv mit meinem Mentalcoach gearbeitet. Aber auch das ist sehr anstrengend. Ich bin froh, dass ich nun ein paar Tage frei habe.
Im Sommer haben Sie ein Wirtschaftsstudium begonnen. Haben Sie das unterbrochen, um sich auf die Therapie zu konzentrieren?
Nein, da bin ich drangeblieben, ich hatte kürzlich Prüfungen. Es war cool, in dieser schwierigen Zeit etwas für den Kopf zu tun. Mir war immer klar, dass ich auch beruflich etwas machen muss. Ich muss mich da etwas pushen, denn ich lerne nicht so gerne. Aber mir ist bewusst, dass man mindestens einen Bachelor mitbringen sollte, wenn man nach der Sportkarriere in einen Beruf einsteigen will.
Hat die Krankheit Ihren Blick auf den Sport und auf das Leben generell verändert?
Es ist noch etwas früh, das zu sagen, weil ich die letzten Monate voll in diesem Kampfmodus war. Aber ich habe sicher gelernt, kleine Dinge mehr zu schätzen. Auf der Fahrt an das Rennen in Val Gardena erlebte ich auf dem Brenner einen Sonnenaufgang, wie ich ihn seit Monaten nicht gesehen hatte. In solchen Momenten sage ich mir heute: «Nimm das mit, und geniess es.» Das gilt auch, wenn ich Zeit mit meiner Frau, meiner Familie oder Freunden verbringe.
Haben Sie heute ein anderes Verhältnis zu Ihrem Körper?
Ich kenne ihn momentan überhaupt nicht. Da muss sehr viel zurückkommen, es geht derzeit von Tag zu Tag, Schritt für Schritt. Ich muss auch gut auf gewisse Werte schauen: den Ruhepuls, die Herzfrequenz-Variabilität. Ich kann das zwar nicht mit früher vergleichen, aber ich habe immerhin gewisse Indikatoren, um zu sehen, ob ich die Belastungen reduzieren muss oder sogar etwas steigern kann. Das Gespür für meinen Körper ist jedoch praktisch inexistent.
Während der Therapie haben Sie angefangen, einmal wöchentlich zu kochen und Videos davon zu posten. Wie sind Sie denn darauf gekommen?
Als ich 2017/18 wegen einer Schulterverletzung pausieren musste, habe ich das Kochen entdeckt. Während Corona traf ich mich dann mit einem Kollegen regelmässig zu einer kleinen Koch-Challenge. Social Media mache ich gemeinsam mit meiner Frau. Wir haben beide Spass daran und fanden, wir könnten Instagram mit diesen Koch-Videos ein wenig aufpeppen. Ich koche, sie filmt und schneidet die Videos.
Die Menuvorschläge kommen von Leuten aus dem Skizirkus. Vor den Rennen in Val Gardena wollte Mattia Casse, dass Sie Pasta al Pesto kochen. Und dann gewann er den Super-G. Eigentlich müssten Sie künftig vor jedem Rennen Ihr Abendessen selbst zubereiten.
Das hat perfekt geklappt, ja. Aber ich muss auch sagen, dass meine Spaghetti wahnsinnig fein geworden sind. Die Idee ist, dass ich jede Woche ein Gericht zubereite, das sich jemand aus dem Land wünscht, in dem die Rennen stattfinden.
An Heiligabend waren Sie zum letzten Mal in der Bestrahlung. Wann gehen Sie erstmals wieder Ski fahren?
Weil das Knochenmark geschwächt ist, konnte ich über die Feiertage nicht mit den Touristen auf die Piste. Das beeinflusst auch die Wundheilung; es wäre blöd, wenn zum Beispiel jemand ausrutscht und mich mitreisst. Ich werde jetzt ein wenig mit den Tourenski unterwegs sein, so kann ich gleich meine Ausdauer trainieren. Aber wenn es im Januar nicht mehr so viele Leute hat, werde ich sicher auch einmal die Alpinski anschnallen. Das erlauben mir die Ärzte, aber rennmässig trainieren darf ich noch nicht.