Vor einem halben Jahrhundert hat der Römer Cantautore sein beliebtestes Album, «Rimmel», veröffentlicht. Nun geht er damit auf Tournee. Und es funktioniert immer noch.
Dass italienische Liebeslieder sich zwangsläufig auf «amore» reimen müssen und meist von bescheidener Gedankentiefe zeugen, ist ein böses (und auch ein dummes) Gerücht.
Gute italienische Songs sind voller vertrackter Textzeilen. «Ich biete dir die Intelligenz der Elektriker, damit du immer Licht hast», heisst es etwa in Paolo Contes Kultlied «Un gelato al limon». Und Antonello Venditti fragt in seinem Hit «Notte prima degli esami»: «Aber wie schaffen es Sekretärinnen mit Brille, Anwälte zu heiraten?» Von Francesco De Gregori schliesslich kommt im Lied «Rimmel» die Aufforderung: «Du kannst deine Lippen an eine neue Adresse schicken!» Kein deutscher oder Schweizer Liedermacher würde so texten.
Wohlgemerkt: Auch in der italienischen Originalfassung sind diese Zeilen sperrig. Und doch werden sie gesungen, von Como bis Catanzaro, von Trapani bis Triest. Wer schon einmal ein Konzert eines der erwähnten Cantautori in Italien besucht hat, weiss: Alle können sie diese Textpassagen auswendig, egal, ob Jung oder Alt. Zehntausendfach singen sie dann von der Intelligenz der Elektriker, den Sekretärinnen mit Brillen oder den Lippen, die verschickt werden sollen. Als handle es sich um die selbstverständlichsten Redewendungen. Viele der Zeilen sind ins Allgemeingut übergegangen: Man findet sie als Zitate in Reden, als Schlagzeilen über Zeitungsartikeln. Oder in der Werbung.
1975 das meistverkaufte Album
Als der italienische Energieriese Enel im letzten Jahr aus Anlass der Fussball-Europameisterschaft einen Werbespot kreierte, wählte er «La storia siamo noi» von De Gregori als Tonspur. Für die Fernsehzuschauer war es der Sound des Turniers – ein Grosserfolg, der dem Cantautore aus Rom prompt den Vorwurf eintrug, er habe seine Seele für Geld verkauft.
Dabei ist gerade die Verwendung zu Werbezwecken der beste Beweis für die Langlebigkeit solcher Lieder. «La storia siamo noi» zum Beispiel datiert von 1985. Ein paar Gitarrenakkorde und die ersten vier Worte genügten, um beim TV-Publikum etwas anklingen zu lassen, warme Gefühle, eine Erinnerung vielleicht.
Francesco De Gregori, mittlerweile 74 Jahre alt, weiss das. Deshalb nimmt er den 50. Geburtstag seines Erfolgsalbums «Rimmel» zum Anlass, um auf grosse Tournee zu gehen. Am 23. August geht es in Cattolica an der adriatischen Riviera los mit ein paar Sommerkonzerten unter freiem Himmel; es folgen Auftritte in grossen Sporthallen und kleineren Klubs bis zum Finale in Mailand am 14. Februar 2026.
Die Leute werden mitsingen, wie immer. Denn in Italien kennen alle «Rimmel». Noch lange bevor De Gregori mit «Viva l’Italia» oder «Generale» Hits komponierte, die auch nördlich der Alpen Beachtung fanden, landete er mit diesem Album einen ersten Grosserfolg. Die Platte blieb sechzig Wochen lang in den Charts und verkaufte sich über 400 000 Mal. Ende 1975 war sie in Italien das meistverkaufte Album des Jahres.
Der Name Rimmel übrigens bedeutet Mascara, Wimperntusche. Das Album handelt denn auch vom Spiel mit Maskeraden und vom Versuch, diese zu entlarven.
Über den Erfolg von damals wundert sich De Gregori selbst: «Ich frage mich oft, wie ich darauf gekommen bin, wo ich diese Ausdrucksfähigkeit gefunden habe, diese für damalige Verhältnisse so seltsame Sprache. Ich war ja erst 23 Jahre alt und hätte nie gedacht, dass ich weiterhin Musiker bleiben würde», sagte er vor wenigen Tagen in der Literaturbeilage der «Repubblica» in einem seiner seltenen Interviews.
Immer noch unterwegs
De Gregori, der «principe», wie sie ihn in Italien aufgrund seiner etwas distanzierten Art nennen, äussert sich nur selten in den Medien und mag es nicht, wenn er aufgefordert wird, seine Liedtexte öffentlich zu interpretieren. Aber er singt, komponiert und tritt immer noch auf, als würden ihm die Jahre nichts anhaben. Oft zusammen mit anderen Cantautori. 2022 war er mit Antonello Venditti auf grosser Tour durch die Stadien des Landes, letztes Jahr auf kleineren Bühnen mit dem Schauspieler, Musiker und Komödianten Checco Zalone. Es waren unerwartet lockere und witzige Auftritte des sonst eher für melancholische Töne bekannten Barden.
Doch seine Reputation hat er sich in seinen frühen Jahren erarbeitet – wie viele seiner damaligen Kollegen: Fabrizio De André, Lucio Dalla, Francesco Guccini. Sie stehen zusammen mit weiteren Künstlern für die einzigartige Klangwelt der italienischen Musik der 1970er und 1980er Jahre und für ein Lebensgefühl, das Leichtigkeit mit Sozialkritik verband und eine eigentümlich verführerische Kraft hatte.
Entstanden sind die Songs allerdings in einem düsteren Umfeld. Es waren die bleiernen Jahre, «gli anni di piombo». Eine rechts- und linksextreme Gewaltwelle überzog das Land, der politische Diskurs war vergiftet. De Gregori selbst wurde zum Gegenstand politischer Debatten. Vielen galt er als zu nett, zu lieblich, zu wenig militant. «Rimmel» wurde von einem Teil der Kritiker als unpolitisches Werk verrissen. 1976 kam es bei einem seiner Konzerte zu handfesten Auseinandersetzungen mit aggressiven linken Demonstranten. Sie hielten ihm seine hohe Gage und mangelnde Solidarität mit der Arbeiterbewegung vor.
Dabei zählte sich De Gregori selbst zur Linken. «Ich wählte die Kommunisten und machte daraus kein Geheimnis.» Aber selbst diese Haltung sei damals für viele Zeitgenossen Ausdruck einer «gefährlichen bürgerlichen Entgleisung» gewesen, wie er es heute ironisch nennt. «So waren die Zeiten, und ich stand mittendrin.»
Jedem seine Zeile
Seine Lieder wurden durch die Umstände indes stärker. Nur auf dem Hintergrund der damaligen bleiernen Jahre konnten sie ihre besondere Schwingung entfalten, die sie bis heute trägt. Die versonnenen Textzeilen, rätselhaften Wendungen und poetischen Verrenkungen führten weg vom Schwarz-Weiss der grassierenden Gewalt in Italien, schufen einen willkommenen Kontrast – und etwas Ablenkung. Jeder fand in den Liedern seine eigene Zeile, die er wie einen Schatz aufbewahrte.
«Rimmel» und viele andere Lieder jener Zeit verdanken ihre Kraft zweifellos diesen Jahren – und profitieren Jahrzehnte später überdies von einem nostalgischen Zeitgeist, der das Land heute erfasst hat. Die Globalisierung hat viele Gewissheiten beseitigt, auch in Italien bleibt kein Stein auf dem anderen. Da liegt es nahe, die Vergangenheit etwas zu verklären. Auch Antonello Venditti reitet auf dieser Welle. Er ist vor wenigen Wochen ebenfalls zu einer Erinnerungstour aufgebrochen. Sein Album «Notte prima degli esami» feiert dieses Jahr den vierzigsten Geburtstag.
Die Melodien und Texte der Cantautori, die sich ins kollektive Gedächtnis der Italiener eingebrannt haben, gerade weil sie mehr bieten als simple Reime auf «amore», sie funktionieren noch heute. Und sind erstaunlich gut gealtert.