Unser Autor schaute in Mumbai während zwölf Wochen die derzeitigen Blockbuster aus Bollywood. Sein Eindruck: Das indische Kino ist laut, brutal und nationalistisch – und steckt in einer ernsten Schaffenskrise. Doch es gibt auch Hoffnung.

Das indische Kino ist paradox. Bis zu tausend Filme werden jedes Jahr in den grossen Filmstudios produziert – mehr als in jedem anderen Land der Welt. Die neuen Blockbuster aus Bollywood und Südindien werden in den Medien breit besprochen, kontrovers diskutiert und sorgen regelmässig für Skandale. Im Ausland werden sie jedoch kaum wahrgenommen. Nur eine Handvoll indischer Filme schafft es zu den grossen Festivals in Europa und Amerika, und in den Kinos in der Schweiz oder in Deutschland sind sie nur in Ausnahmefällen zu sehen.

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Wer wissen will, was im indischen Kino läuft, müsste daher nach Indien reisen. Welche Themen treiben heute die Filmemacher um? Und was erzählen uns die Filme über Indiens Gesellschaft? Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, ist kein Ort besser geeignet als die Kinos von Mumbai. Das alte Bombay ist die Heimat der Filmstudios von Bollywood. Hier sind die grossen Stars wie Shah Rukh Khan zu Hause. Und hier gibt es noch immer einige der schönsten Kinos.

Regal, Metro und Eros heissen die alten Filmpaläste im Zentrum der Stadt. Gebaut in den 1930er und 1940er Jahren im Art-déco-Stil, erheben sie sich an zentralen Plätzen wie eine Verheissung. Auch knapp ein Jahrhundert nach ihrer Einweihung wirken ihre hoch aufragenden Fassaden noch immer futuristisch. Während die meisten von ihnen inzwischen modernisiert worden sind, verströmt das Kino Regal bis heute den leicht verstaubten Charme vergangener Zeiten.

Erwarte das Unerwartete im indischen Kino

Also hinein ins Kino. Im Regal kostet eine Karte 200 Rupien im Parkett und 250 auf dem Balkon, umgerechnet 2 Franken 50. Anders als die teuren, modernen Multiplexe verfügt das Regal bis heute nur über einen grossen Saal. Das Programm wechselt ein Mal die Woche, gezeigt wird jeweils nur ein Film. Zu sehen sind vor allem die neuen Blockbuster auf Hindi. Das Regal ist daher der richtige Ort, um sich ein Bild vom indischen Mainstreamkino zu machen.

Vom altmodischen Entrée mit den Ticketschaltern führt ein zweiflügliges Treppenhaus mit grossen Spiegeln und kubistischen Motiven hinauf auf die Empore. Als das Regal eingeweiht wurde, war es Indiens erstes klimatisiertes Kino. Heute lohnt es sich, eine Jacke mitzunehmen, wenn man nicht frieren will. Auch Ohrstöpsel sind angeraten, da es sehr laut werden kann. Und Geduld ist gefragt, denn unter drei Stunden kommt man selten aus dem Kino heraus.

Nach zwölf Wochen im Kino ist zunächst zu bemerken: Das indische Kino ist voller Überraschungen. Nicht nur können die Figuren selbst in einem Politthriller jederzeit anfangen zu singen und zu tanzen. Auch die Handlung ist voller abrupter Wendungen und voller Szenenwechsel. Die Zahl der Figuren, Schauplätze und Handlungsstränge ist schier unübersehbar. Oft wirkt es, als hätten die Autoren mehrere Filme in einem verbunden – Genrewechsel inklusive. Das Publikum nimmt es gelassen, es ist die verwirrende, erratische Handlung gewohnt.

Der Hindu-Nationalismus prägt auch die Filmszene

Gezeigt werden im Regal vor allem düstere Politthriller, Gangsterfilme und Historiendramen. Harmlose Liebesfilme oder Dramen schaffen es kaum auf die grosse Leinwand. Vor Beginn des Films erhebt sich das Publikum von den Sitzen, wenn die Nationalhymne gespielt wird. Damit ist auch bereits der Ton gesetzt. Nach zwölf Wochen im Kino ist der Eindruck: Die grossen Blockbuster in Indien sind laut, gewaltvoll, actiongeladen – und zutiefst nationalistisch.

Mit Ausnahme einiger seltener Komödien spielen in allen Filmen Politik und Geschichte eine zentrale Rolle, ja die Filmemacher wirken geradezu besessen davon. Nehmen wir etwa «Chhaava». Der Historienfilm, der im Frühjahr einer der grossen Kassenschlager war, erzählt die Geschichte des Marathen-Führers Sambhaji, der sich im 17. Jahrhundert gegen den Mogul-Kaiser Aurangzeb erhob, nach langem Kampf aber gefangen genommen, gefoltert und hingerichtet wurde.

Der Muslim Aurangzeb wird in «Chhaava» als Fremdherrscher dargestellt, der das hinduistische Hindustan besetzt hält. Der Film präsentiert den Kampf des Hindus Sambhaji gegen den Mogul-Kaiser als Kampf für Swaraj (Selbstherrschaft) und stellt ihn damit als Vorläufer des antikolonialen Unabhängigkeitskampfes im 20. Jahrhundert dar. Mit seinem aggressiven Pathos fügt sich der Film nahtlos ein in den Hindu-Nationalismus der heutigen Regierung.

Die finale Folterszene, in der Aurangzeb seinem gefangenen Feind die Augen ausstechen und die Zunge herausreissen lässt, zieht sich über nicht weniger als vierzig Minuten hin. Die qualvoll lange Szene erinnert in ihrer Ikonografie an eine Kreuzigung mit Sambhaji in der Rolle des Märtyrers und Erlösers. Nach Erscheinen des Films forderten Hindu-Nationalisten in Maharashtra, aus Rache für die Tötung Sambhajis das Grab von Aurangzeb zu zerstören. In einer Stadt kam es deshalb sogar zu Ausschreitungen mit mehreren Toten.

Auf die historische Genauigkeit ist kein Verlass

Nicht weniger politisch ist «Emergency». Der Film ist ein Biopic der indischen Premierministerin Indira Gandhi, die in einer vielkritisierten Entscheidung 1975 den Ausnahmezustand ausrief und damit die indische Demokratie in eine Krise stürzte. Die Regisseurin Kangana Ranaut, die in dem Film auch die Hauptfigur spielt, ist Abgeordnete der Regierungspartei. Wenig überraschend gilt ihre Sympathie daher den Hindu-nationalistischen Gegenspielern Gandhis.

Trotz ihrer Nähe zur Regierung wurde «Emergency» von der Zensur fast ein Jahr aufgehalten wegen seiner brutalen Gewaltszenen. Nach seinem Erscheinen war der Film scharfer Kritik ausgesetzt. Die Kritiker monierten, dass die Darstellung Ranauts von Gandhi karikaturhaft sei. Vor allem aber warfen sie ihr vor, dass sie sich zu viele Freiheiten bei den Fakten nehme. Tatsächlich ist wie bei vielen indischen Historienfilmen auf die historische Genauigkeit kein Verlass.

Auch bei «Kesari Chapter 2» ist zu empfehlen, anschliessend noch einmal nachzulesen, was wirklich geschah. Der Film erzählt die Geschichte des Massakers von Jallianwala Bagh im Jahr 1919. Der britische General Dyer liess damals in der nordindischen Stadt Amritsar das Feuer auf friedliche Demonstranten eröffnen. Das Blutbad wurde zum Wendepunkt für die indische Unabhängigkeitsbewegung und spielt noch heute eine wichtige Rolle in der politischen Erinnerungskultur.

In dem Film klagt der indische Anwalt Sankaran Nair vor Gericht General Dyer für das Massaker an. Seine feurigen Reden werden von den Zuschauern im Kino mit Applaus quittiert. Das Gerichtsdrama ist spannend inszeniert, doch gibt es ein Problem: Der Prozess hat nie stattgefunden, Dyer wurde nie angeklagt. Der Anwalt Nair hat zwar existiert, doch spielte er eine völlig andere Rolle. Indem der Film so freimütig Fakten und Fiktion vermischt, trägt er nicht zur Aufklärung bei – im Gegenteil: Er führt die Zuschauer in die Irre.

Machtgierige, korrupte Politiker sind ein fester Topos

Deutlich näher an der Realität bleiben die beiden Politthriller «The Diplomat» und «Ground Zero». In beiden Filmen geht es um den Konflikt mit dem Erzfeind Pakistan – ein Dauerbrenner in der indischen Politik wie im Kino. «The Diplomat» erzählt vom indischen Botschafter in Islamabad, der 2017 mit Mut und Witz eine junge muslimische Inderin zu beschützen versucht, die sich vor ihrem gewalttätigen pakistanischen Ehemann in die Botschaft gerettet hat.

In «Ground Zero» wiederum geht es um einen Offizier der indischen Grenztruppen in Kaschmir, der einer pakistanischen Terroristenbande das Handwerk zu legen versucht. Für einen indischen Film ist die Darstellung des Kaschmirkonflikts überraschend differenziert und realistisch. So macht der Film kein Hehl daraus, dass die meisten Kaschmiri die indischen Truppen als Besetzungsmacht empfinden und die Perspektivlosigkeit der Jugend den Terror nährt. Am Ende ist es natürlich trotzdem der Offizier, der über die Terroristen triumphiert.

Die Handlung in anderen Actionfilmen wie «Jaat», «Raid 2», «Sikandar» und «Empuraan» ist zwar fiktiv, doch auch hier spielt die Politik eine zentrale Rolle. In allen drei Filmen sind die Helden mit skrupellosen, machtgierigen, korrupten Politikern und gewalttätigen Polizisten konfrontiert – ein fester Topos des indischen Films. «Empuraan» löste nach dem Filmstart einen Skandal aus, da die Eingangsszenen an die blutigen antimuslimischen Pogrome in Gujarat 2002 erinnerten. Nach Kritik der Hindu-Nationalisten entschuldigten sich die Filmemacher und brachten eine neue, bereinigte Version ins Kino.

Die indischen Superstars sind in die Jahre gekommen

Was auffällt, ist, dass mit Ausnahme des Indira-Gandhi-Biopics «Emergency» in allen Filmen die Hauptdarsteller Männer sind. Frauen kommen nur in unterstützender Funktion vor, meist als fürsorgliche Mutter, liebende Ehefrau oder unschuldiges Opfer, das vom Helden beschützt, verteidigt oder gerächt werden muss. Der typische Held des indischen Actionkinos ist ein harter Mann mit wildem Haar und dichtem Bart – gnadenlos gegenüber seinen Feinden, jedoch mit einem weichen Herzen und einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit.

Die Dramaturgie indischer Actionfilme folgt oft dem gleichen Muster. Wenn der Held auftritt, werden zuerst bedeutungsschwer nur seine Füsse gezeigt – beim Aussteigen aus einem Auto, einem Zug oder einem Flugzeug. Auch die Kampfszenen gleichen sich von Film zu Film. Sie sind von äusserster Brutalität, doch zugleich hochgradig stilisiert. Gekämpft wird bevorzugt mit Hieb- und Stichwaffen. Meist stellt sich der Held allein einem wilden, machetenschwingenden Mob entgegen.

Wenn der Held seine Feinde einen nach dem anderen niederschlägt und durch die Luft wirbelt, spielt die Plausibilität ebenso wenig eine Rolle wie die Regeln der Schwerkraft. Die Kampfszenen haben zwar durchaus Unterhaltungswert. Doch wirklich Spannung entsteht dabei nicht, denn der Ausgang ist klar. Schliesslich ist der Held unverletzlich und hat schier übermenschliche Kräfte. Was er dagegen nicht hat, ist Humor. Nur selten sorgt ein flotter Spruch für Lacher im Kino.

Gespielt werden die Helden in «Empuraan», «Sikandar» und «Jaat» von den Superstars Mohanlal, Salman Khan und Sunny Deol – alles Männer im Rentenalter. Unnahbar und auf altmodische Weise cool, deklamieren sie mit ungerührter Miene ihren Part, während sie die Actionszenen ihren Stunt-Doubles überlassen. Auch wenn die Herren inzwischen etwas steif in den Gelenken wirken, halten die Studios an ihnen fest. Denn die Superstars gelten als sicherer Wert.

Immer mehr Blockbuster sind Flops an der Kinokasse

Doch das indische Kino ist unübersehbar in der Krise. Im Regal sind selbst am Samstagabend die Reihen nur spärlich gefüllt, schon seit Jahren droht dem Kino die Schliessung. Bollywood kämpft wie die Filmindustrie im Westen mit rückläufigen Zuschauerzahlen. Bereits 2019 lag die Auslastung der Kinos bei nur 15 Prozent, die Covid-Pandemie hat die Lage nur noch weiter verschärft. Die Streamingdienste tragen heute das Ihre dazu bei, dass die Zuschauer zu Hause bleiben.

Die Zahl der Filmstarts ist zurückgegangen, teilweise fehlt es den Kinos an neuen Blockbustern, um ihr Programm zu bestücken. Teure Produktionen erweisen sich als Flop, Produzenten sind ratlos. Szenekenner sehen als Grund für die Krise, dass Bollywood seit Jahren von einer Handvoll Schauspielern und Produktionsfirmen dominiert wird, die entscheiden, welche Filme gedreht werden. Filmkritiker fordern daher schon länger frische Gesichter, originelle Geschichten und kluge Drehbücher. Viele Studios wollen aber keine Wagnisse eingehen.

Dass das indische Kino auch anders kann, war im Winter und im Frühling auf den grossen Festivals zu sehen. Der sozialkritische Polizeithriller «Santosh», das poetische Drama «All We Imagine as Light» und der Coming-of-Age-Film «Girls Will Be Girls» begeisterten Kritiker und Publikum. Auffällig ist, dass sie alle von Frauen gedreht worden sind. Nimmt man noch die Verwechslungskomödie «Laapataa Ladies» hinzu, die Indien ins Rennen um die Oscars schickte, wird klar, dass es Indien nicht an Schauspieltalenten, originellen Ideen oder relevanten Themen fehlt. Sie kommen nur nicht in Kinos wie das Regal.

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