Mittwoch, November 27

Yves Bachmann

Zu Besuch im Emmental, beim einzigen Mann, der den berühmtesten Dreiklang der Schweiz herstellen kann – und darf.

Wenn sich die Strasse in schwindelerregende Höhen windet und entlang steiler Abgründe führt, wenn einem schon nach wenigen Kurven flau im Magen wird, dann ist es so weit. Die Klänge, die vom Postauto ertönen, brechen an den Felswänden und kommen vom Echo doppelt und dreifach zurück. Sie erinnern an Schulreisen und Sommerferien in den Bergen. Jedes Kind kennt ihre Melodie: Düü-daa-doo.

Der Dreiklang des Postautos ist mehr als ein Warnsignal. Er ist die Sehnsuchtsmelodie für die Mittelländer, ein Versprechen, in den hintersten Chrachen der Schweiz zu gelangen, im Sommer wie im Winter, bergauf wie bergab.

Der Dreiklang des Posthorns ist ein Markenzeichen der Bergschweiz, unverwechselbar und unüberhörbar. Vor hundert Jahren wurde das Horn zum ersten Mal in einem Postauto installiert, noch heute wird es von Hand gefertigt. In Sumiswald, im Emmental.

Ein Stück Schweiz zum Hören

Sumiswald ist ein Dorf fernab der grossen Verkehrsachsen, und es vereint einige urschweizerische Besonderheiten. «Die schwarze Spinne» von Jeremias Gotthelf spielt in und um Sumiswald, alt Bundesrat Johann Schneider-Ammann kam in Sumiswald auf die Welt, die Schweizer Armee rekrutiert ihren Nachwuchs im alten Spital von Sumiswald. Und: Hier steht die Firma, die den Klang der Schweiz herstellt: Moser-Baer.

Moser-Baer ist, ein bisschen wie Sumiswald, eigentlich für anderes bekannt. Das Unternehmen ist spezialisiert auf Medizintechnik und Zeitsysteme und stellt für die SBB die berühmten Bahnhofsuhren her, die mit ihren roten, runden Sekundenzeigern zu den Klassikern des modernen Industriedesigns gehören. Doch das ist eben nicht alles. Hier werden auch die Dreiklanghörner für die Postautos produziert, repariert und gewartet. Moser-Baer ist die einzige Firma, die das kann – und darf. So hat das die Post vor siebzig Jahren entschieden.

Ein kleines Dorf mit urschweizerischen Besonderheiten: In Sumiswald im Emmental wird das Posthorn hergestellt.

René Schaffer ist ein Mann, der die meisten Sumiswalder kennt. Und umgekehrt. Schaffer ist der Büezer, der in der Schlosserei von Moser-Baer zum Rechten schaut. Der Werkzeugmacher, der noch gelernt hat, von Hand zu drehen, zu fräsen, zu schleifen. Schaffer hat darum eine besondere Aufgabe: Er kümmert sich um die Posthörner. Um jedes einzelne.

Meistens stellt René Schaffer, 60 Jahre alt, ein Posthorn von Grund auf neu her. Dafür holt er aus dem Lager ein Messingblech, flach wie ein Blatt Papier. Schaffer überträgt eine Schablone auf das Blech und schneidet die Form aus. Dann hämmert er das Messing mit einem Holzstock in die Form eines Trichters. Drei Schallbecher hat ein Posthorn, und für die Herstellung eines Schallbechers sind dreissig Arbeitsschritte nötig.

Manchmal schickt die Post gebrauchte Hörner, damit René Schaffer sie repariert. Einige gehen durch die Witterung kaputt, aus anderen kommt nur noch ein einzelner oder, schlimmer, ein falscher Ton. Schaffer sagt: «Die besten Hörner sind die, die oft gebraucht werden. Mit jedem Ton wird Schmutz und Staub aus ihnen hinausgeblasen.»

René Schaffer kümmert sich um jedes einzelne Posthorn. Am Anfang steht immer ein Messingblech.

Neun Monate dauert die Produktion eines einzigen Posthorns. René Schaffer muss für jedes davon mehr als achtzig Teilchen herstellen, bearbeiten, zueinander passend machen. Ein fertiges Horn kostet 2000 Franken.

Moser-Baer stellt alle zwei bis drei Jahre 40 bis 50 Posthörner her, dazu kommen ein paar Reparaturen pro Jahr. Viel Geld verdient das Unternehmen damit nicht, doch das ist egal. In Sumiswald ist man stolz auf das Posthorn: Man produziert ein Stück Schweiz zum Hören.

Tonfolge aus «Wilhelm Tell»

Das Posthorn, wie es heute ist, gibt es seit hundert Jahren. Doch seine Geschichte ist viel älter. Schon in Zeiten der Pferdepost setzten die Postillione Hörner ein, um die Ankunft und die Abfahrt der Kutschen anzukündigen. Sie gaben mit verschiedenen Tonfolgen weitere Informationen durch, etwa ob eine Extrapost dabei war oder wie viele Pferde dem Wagen vorgespannt wurden. Ein Postillion, der ein Posthorn mit sich führte, hatte immer Vortritt auf Strassen, Fähren und Brücken.

Im frühen 20. Jahrhundert kam in der Schweiz die motorisierte Alpenpost auf. Die erste Postauto-Linie über einen Alpenpass, den Simplon, eröffnete im Jahr 1919. Die modernen Fahrzeuge verdrängten nach und nach die traditionelle Pferdepost.

Doch auf den Bergstrassen waren nicht nur die Busse der «Schweizerischen Reisepost» unterwegs, wie das Postauto damals hiess, sondern häufiger auch Privatautos. In den engen Kurven sah man sich gegenseitig nicht oder zu spät, es kam immer wieder zu Unfällen. Die Post erklärte, ihre Fahrzeuge deshalb «mit einem besonderen eigenartigen Signal ausrüsten» zu wollen. Sie entschied sich für eine elektronische Hupe.

Für den Signalton bediente sich die Post einer Melodie aus der Oper «Wilhelm Tell» von Gioachino Rossini. Es war ein Dreiklang in A-Dur mit den Tönen cis-e-a: das heute bekannte Düü-daa-doo.

Doch die neue Hupe hatte ein Problem. Sie war viel zu leise, und so kam es nach wie vor zu schlimmen Unfällen. Die Post versprach Verbesserung. Auch sie habe «alles Interesse an einer klaglos funktionierenden Einrichtung», musste sie doch «bei einem Zusammenstoss am Klausen den Gesamtschaden an einem Privatwagen übernehmen». So steht es in einem Bericht aus den frühen 1920er Jahren, der heute im Postarchiv zu finden ist. Was im Bericht jedoch erst später erwähnt wird: Bei dem Unfall hatte nicht das Horn versagt, sondern der Fahrer – «indem er es nicht verwendete».

Oben ohne, auch um eine bessere Sicht aufs Panorama zu haben: Postauto von Saurer am Furkapass, 1922.

Atelier Gabler, Museum für Kommunikation

Ein lauteres Instrument musste also her, und die Post entschied sich zum Fortschritt durch Rückschritt: Sie setzte statt einer elektronischen Hupe ein mechanisches Horn ein. Eine in Paris ansässige Firma erhielt den Auftrag, das Dreiklanghorn zu bauen.

Als mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Hörner nicht mehr aus Frankreich importiert werden durften, suchte die Post einen Hersteller in der Schweiz und fand ihn in Sumiswald. Der Uhrenhersteller Moser-Baer, damals für seine Pendulen bekannt, hatte sich für den Auftrag beworben. Seither wird das Posthorn in Sumiswald hergestellt.

Zum Testen in den Keller

Ein fertiges Posthorn wiegt ungefähr drei Kilogramm und wird unten am Postauto befestigt, unsichtbar für Passagiere und Fahrer. Seine Oberfläche ist vernickelt, was es robust gegen Hitze, Kälte, Nässe und Salz macht. Die Messingtrompeten sind durch einen Kompressor aus Aluminium verbunden, der die Druckluft durch Membranen presst und von dort in die drei Becher schickt. Je länger der Becher, desto tiefer der Ton.

Ein kurzer Tritt auf das Pedal genügt, und der Postauto-Fahrer jagt den Dreiklang durch die Berge: Düü-daa-doo.

René Schaffer, der Posthorn-Experte aus dem Emmental, sagt: «Ein Posthorn zu bauen, ist eine unglaublich zeitintensive Arbeit.» Es sei deshalb jedes Mal eine Belohnung, wenn er in den Bergen unterwegs sei und den Klang des Posthorns höre. «Ich muss dann aber immer genau hinhören, ob es auch richtig tönt.»

René Schaffer schickt kein Posthorn aus Sumiswald weg, bevor er es nicht selbst gehört hat. Sobald er in der Werkstatt fertig ist, geht es mit dem Horn zum Testen in den Keller. Im Luftschutzbunker, hinter drei dicken Türen, montiert Schaffer die Ohrenstöpsel und setzt sich Pamir-Kopfhörer auf. Dann sagt er: «Was jetzt kommt, hört man durch das ganze Gebäude.»

René Schaffer testet die Posthörner im Luftschutzkeller der Firma. Ein Mitarbeiter schliesst die Türen hinter ihm: Die Posthörner haben eine Lautstärke von 120 Dezibel.

Schaffer lässt den Kompressor an und jagt die Luft durch das Horn. Drei Sekunden bei vier Bar Luftdruck müssen es sein, Schaffer misst mit Stoppuhr und Stimmgerät. Wenn es die Tonfolge cis-e-a zeigt, hat er alles richtig gemacht.

Nur jedes dritte Postauto hat ein Horn

Im Verkehr dürfen Posthörner nur auf bestimmten Strecken zum Einsatz kommen, auf den sogenannten Bergpoststrassen, erkennbar am Schild mit dem gelben Horn auf blauem Grund. Niemand weiss, wie viele dieser Strassen es gibt. Die Hoheit über die Signalisation liege bei den Kantonen, schreibt die Post. Statistiken gibt es nicht.

Weil der Einsatz der Hörner beschränkt ist, bekommt auch nicht jedes Postauto automatisch eines installiert: Nur 700 der 2300 Postautos seien mit einem Horn ausgerüstet, schreibt die Post. Jedes Jahr würden etwa 40 neue Fahrzeuge dazukommen, und etwa gleich viel müssten ausgemustert werden.

Ein Horn wird demontiert, wenn ein Postauto stillgelegt wird. Denn der Dreiklang ist eine registrierte Marke der Post und darf nur zu seinem eigentlichen, rechtlichen Zweck verwendet werden. Händler, die alte Postautos kaufen, um sie für Hochzeiten und andere Anlässe zu vermieten, werden an ihren Occasionswagen also kein Horn finden. Manche von ihnen versuchen es dann bei Moser-Baer. Sie wollen ein Posthorn kaufen oder gleich eine Serie in Auftrag geben. Man erkläre dann jeweils, dass dieses Recht der Post vorbehalten sei.

Doch im Internet lassen sich Blogs finden, auf denen Sammler stolz erzählen, wie sie trotz allem zu einem Posthorn gekommen seien. Auf einer Seite für Oldtimer-Busse etwa, wo alte Exemplare ersteigert werden können. Zurzeit läuft eine Auktion für ein Original-Horn von Moser-Baer aus den fünfziger Jahren. Einstiegspreis: 1500 Franken.

Die längste Postautostrecke der Schweiz

Jetzt, im Sommer, ist das Dreiklanghorn öfter zu hören, da die Postautos in die entlegensten Winkel der Schweiz fahren. Von Juni bis Oktober fahren sie etwa auf der sogenannten Verbindung 12.682. Die Vierpässefahrt führt über Grimsel, Nufenen, Gotthard und Susten, hin und zurück überwindet man mehr als 10 000 Höhenmeter. Die Fahrt dauert acht Stunden und fünfundvierzig Minuten, das macht die Vierpässefahrt zur längsten Postauto-Strecke der Schweiz. Und zur lautesten: Einundvierzig Mal ertönt das Posthorn auf dieser Route.

Von all dem Trubel und Gehupe bekommt René Schaffer kaum etwas mit. Er verbringt seinen Sommer nicht in den Bergen in der Schweiz, sondern in der Werkstatt im Emmental. Derzeit arbeitet er an einer neuen Serie von Dreiklanghörnern für die Post.

Vierzig Stück müssen bis im September fertig sein. Dann beginnen die Herbstferien. Und die Schweizerinnen und Schweizer wollen in die Berge.

Ein Posthorn zu bauen, ist Handwerkskunst. Mehr als 80 Teile werden in einem Stück verbaut.

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