Drei junge Informatiker haben geschafft, was Forscher seit 270 Jahren versuchen: Mithilfe künstlicher Intelligenz haben sie Textfragmente aus fragilen Papyri extrahiert. Das wird grosszügig belohnt.
1800 Jahre lang lagen sie verborgen unter einer meterhohen Lavaschicht: 800 Papyrusrollen. Im Jahr 79 nach Christus hatte der spuckende Vesuv die römische Stadt Herculaneum unter einer schwarzen Schlammlawine begraben und damit auch die Villa, in der die Rollen lagen. Erst im 18. Jahrhundert wurden die Schriften entdeckt. Und bald erkannte man, dass sie wohl Texte enthalten, die das Wissen über die Antike revolutionieren könnten.
Seither versuchen Forscher, den Inhalt der Rollen zu entschlüsseln. Sie erhoffen sich, verschollene Werke römischer und griechischer Philosophen darin zu entdecken. Einen direkten Link zu den antiken Denkern, wie es ihn heute nur sehr selten gibt.
Fortschritte blieben lange aus – aufgrund der physischen Verfassung der Schriftstücke. Die meisten der Rollen sind verkohlt und verformt, die Seiten zusammengepresst und äusserst fragil. Bei jeder Berührung drohen sie zu zerbröseln. Die Versuche, die Rollen von Hand oder mithilfe von Gasen oder speziell dafür angefertigten Maschinen zu öffnen, hatten zur Folge, dass immer wieder wertvolle Fragmente zerstört wurden.
Doch die Evolution der Technologie schafft neue Möglichkeiten. Mithilfe hochenergetischer Röntgenstrahlen wurden 2015 erstmals einzelne Buchstaben einer Rolle rekonstruiert, ohne diese zu öffnen. «Digitales Aufrollen» wird diese Methode genannt.
Von Cherrytomaten zu antiken Schriften
Drei Männer in ihren Zwanzigern, mitten im oder frisch ab Studium, haben es nun geschafft, dank dieser Methode ganze Textfragmente mehrerer Rollen freizulegen. Und das einzig anhand eines digitalen Scans der verkohlten Relikte. Einer von ihnen: der Schweizer Julian Schilliger, 28-jährig, ETH-Absolvent.
Schilliger war eigentlich damit beschäftigt, seine Masterarbeit in Robotik zu finalisieren. Er studierte den Reifegrad von Cherrytomaten, als er die Ausschreibung Anfang 2023 im Internet sah. Die sogenannte «Vesuvius Challenge» bot ein Preisgeld von 700 000 Dollar für den, der es schaffte, mehrere Passagen aus den Rollen aus Herculaneum zu extrahieren. Initiiert wurde das Projekt durch Nat Friedman, einen amerikanischen IT-Unternehmer mit einem Faible für das antike Rom. Dieser hatte es sich zum Ziel gesetzt, mithilfe von künstlicher Intelligenz und Informatik die Schriften lesbar zu machen.
Friedman tat sich mit dem Wissenschafter Brent Seales zusammen, der zwanzig Jahre an der digitalen Entschlüsselung der Texte geforscht hatte. Sie stellten jungen Informatikerinnen und Informatikern 3-D-Modelle von vier ausgewählten Papyri zur Verfügung. Neben dem Hauptpreis stellten sie auch Preise für Zwischenerfolge in Aussicht, etwa für die Entschlüsselung einzelner Buchstaben.
Der Clou: Wer sich für einen Preis bewarb, musste seinen Lösungsweg mit allen teilen. Dieser Mix aus Teamwork und Wettstreit motivierte Schilliger. Mitten im Abschlussstress seines Studiums investierte er täglich mehrere Stunden, um mithilfe von Algorithmen die Scans der zusammengepressten und verklebten Rollen digital zu glätten. Der Austausch mit seinen Mitstreitern, das gemeinsame Pröbeln und Verbessern habe das «Feuer» in ihm erst richtig entfacht, sagt er am Telefon.
Mit seinem Team holt Schilliger den Hauptpreis
Nach dem Abschluss seines Studiums im Sommer 2023 beschloss er, sich ganz auf die Challenge zu fokussieren. Mit seinen Beiträgen gewann er einige der kleineren Preise für wichtige Zwischenerfolge und Anerkennung unter den Mitstreitern.
Zwei junge Wissenschafter laden Schilliger in ihr Team ein, wenige Wochen vor dem Ende des Wettbewerbs. Es sind Youssef Nader, Doktorand an der FU Berlin, und Luke Farritor, Student an der University of Nebraska-Lincoln. Die beiden hatten sich darauf spezialisiert, mithilfe von KI-Modellen die schwarzen Buchstaben auf dem verkohlten Grund zu entdecken. Persönlich getroffen haben sich die drei nie, nur über Video-Chat ausgetauscht. Vertraglich hielten sie fest: Gewinnen sie, erhält jeder ein Drittel des Preisgelds.
Eine Woche vor Abgabe verbessert Schilliger seinen Algorithmus so weit, dass die Entrollung der Fragmente vollautomatisch läuft. Ein grosser Sprung: Mit dem vorigen Algorithmus hatte die Entschlüsselung weniger Spalten mehrere 100 000 Dollar gekostet. Die Initiatoren der Challenge beschäftigten mehrere Mitarbeiter, um aus dem 3-D-Modell die verschiedenen Schichten zu extrahieren und zu glätten. Schilliger schaffte es, diese monatelange manuelle Arbeit zu automatisieren. Zudem entdeckte er neue Textsegmente auf den äussersten Schichten. Zusammen mit seinen Mitstreitern legte er zweitausend griechische Buchstaben frei, fünf Prozent einer Schriftrolle – und gewann damit den Hauptpreis.
Nach ersten Untersuchungen der enthüllten Fragmente wird vermutet, dass die Passagen von dem Dichter Philodemus von Gadara stammen, der in Herculaneum lebte, jedoch schon Jahrzehnte vor dem Vulkanausbruch verstarb. In den Zeilen philosophiert der Autor unter anderem über das Lustempfinden und inwieweit dessen Ausprägung davon abhängt, ob eine Sache rar oder im Überfluss verfügbar ist. Die Antwort des Autors: «Wie auch bei Nahrungsmitteln halten wir Dinge, die knapp sind, nicht per se für angenehmer als solche, die im Überfluss vorhanden sind.»
Verbergen sich weitere Texte von Philodemus in den Rollen? 2024 geht die «Vesuvius Challenge» in die zweite Runde. Das neu gesteckte Ziel: Neunzig Prozent der vier gescannten Schriftrollen zu entschlüsseln. Zu gewinnen gibt es nur noch 100 000 Dollar. Schilliger wird nicht am Wettbewerb teilnehmen. Dank seinem Effort im vergangenen Jahr kann er sich einen Traum erfüllen. Er hat vom Organisationsteam der Challenge ein Job-Angebot erhalten. Von der Schweiz aus arbeitet er nun als Software-Engineer und wird dafür bezahlt, die Challenge-Teilnehmer beim Entschlüsseln der weiteren Rollen zu unterstützen.
In der Villa warten weitere Tausende Schriftrollen
Schilligers Job ist an das Projekt gebunden. Sind die 800 Rollen entschlüsselt, ist auch seine Arbeit fertig. Für Schilliger ist dies kein Problem. Einerseits warten noch Tausende andere Schriftrollen darauf, digitalisiert und entziffert zu werden. Die Hauptbibliothek der Villa in Herculaneum etwa, in der sogar Zehntausende Papyri vermutet werden, ist immer noch unter der Lavadecke begraben.
Und Schilliger sucht bereits nach neuen Projekten. In seiner Freizeit lässt er in einer Simulation Raumschiffe durchs Sonnensystem fliegen oder baut an einem kleinen Roboter. Momentan ist er in Rom. Beim Flanieren durch die Stadt ist ihm aufgefallen, dass die Ampeln nicht aufeinander abgestimmt sind. Das brachte ihn auf die nächste Idee: eine Software zu entwickeln, mit der ineffiziente Ampelsysteme erkannt werden können.