Der Zürcher Verteidiger Cédric Brunner ist nach sechs Jahren in der Bundesliga vertragslos. Fussballer will er nicht mehr um jeden Preis sein.
Es wird jetzt immer schwieriger für ihn, mit jedem Tag, mit jeder Woche, Cédric Brunner weiss das. Was er nicht so recht weiss: wie schlimm er das wirklich findet. Brunner ist 30 Jahre alt und Fussballprofi, wobei, gerade ist er das nur noch so halb, denn er steht ohne Klub da.
Vereinslos. Für viele Fussballer ist dieser Status der Albtraum schlechthin, gerade zu dieser Zeit des Jahres, Ende September, wenn die Personalplanungen in den Klubs abgeschlossen sind.
Rechts hinten, das ist die Position von Brunner, dort hat er sich einen Namen gemacht in den letzten Jahren, beim FC Zürich zuerst, seinem Jugendklub und seiner grossen Liebe. Später in Deutschland, bei Arminia Bielefeld, zweite Bundesliga und dann erste. Schliesslich bei Schalke 04, erste Bundesliga und dann zweite.
Brunner hat am eigenen Leib erfahren, was es braucht, zu einer Karriere zu kommen als Fussballer, auch: was man alles ertragen, sich antun muss. Jetzt fragt er sich manchmal, wie lange es dauert, bis das alles vergessen ist: die 86 Spiele in der ersten Bundesliga, die 67 in der zweiten, die 54 in der Schweizer Super League.
So recht weiss Brunner das nicht, aber eine Befürchtung hat er schon. Das macht ihn unruhig, und manchmal braucht er etwas länger, bis er einschläft. Die Ungewissheit nagt dann am Zürcher, er war schon immer einer, der sich eher einen Gedanken zu viel gemacht hat. Und bekanntlich ist das Zweifeln ein enger Verwandter des Nachdenkens.
Mit der Fussballbranche hat er immer gefremdelt
Dennoch hat Brunner geschafft, wovon viele nur träumen: Er hat es zum Fussballprofi gebracht. Wenn er über das redet, was für ihn jetzt zählt, klingen Gedanken an, die in ihrer Offenheit bemerkenswert sind. Und immer ist da diese Ambivalenz. Er liebt den Fussball für das, was er ihm gegeben hat. Aber er hat mit diesem Geschäft immer auch ein wenig gefremdelt.
Brunner ist noch jung, 21 Jahre alt erst, als er sich beim FC Zürich zum Stammspieler entwickelt, als eigener Junior, der schon mit 12 zum Klub gekommen ist. Nun spielt er in der ersten Mannschaft des FCZ. Und ausgerechnet dann versinkt der Klub im Abstiegssumpf.
Brunner sagt, die Situation habe ihn extrem mitgenommen. Der FCZ, sein Verein und der seiner Freunde, ein Absteiger, und er mittendrin, mitverantwortlich? Irgendwann drehen sich die Gedanken nur noch darum. Vor manchen Spielen träumt Brunner, dass er ein Gegentor verursacht, der FCZ seinetwegen verliert.
Am Ende steigt der FC Zürich ab; es ist die schwierigste Zeit in Brunners Karriere. Später verlässt er den Klub als Cup-Sieger. Im Halbfinal gegen GC hat Brunner das entscheidende Tor erzielt, ein wuchtiger Schuss, tief in der Nachspielzeit.
In Deutschland steigt er mit Arminia Bielefeld in die Bundesliga auf. Es ist eines der wenigen Jahre, in denen in seiner Karriere alles ganz leicht geht. Der Klub fliegt, er schafft, was er nicht schaffen muss. Aber bald kehrt die Schwere zurück. Abstiegskampf mit Bielefeld, mit gutem Ende und dann nicht mehr. Wechsel zu Schalke. Wieder Abstiegskampf, wieder kein gutes Ende.
Am schlimmsten sind die Stunden vor einem Spiel
Im Fussball, das betonen seine Protagonisten gerne, helfe es, wenn man nicht zu viel nachdenke. Brunner weiss das auch, aber es hilft ihm nicht. Er denkt trotzdem oft nach. Fragt sich in Bielefeld, ob er die Entlassung des Trainers Jeff Saibene hätte verhindern können. Denkt bei Schalke an all die Menschen, die den Klub so sehr lieben, dass sie nach einer Niederlage eine «Scheisswoche» haben. «Ich habe harte Phasen erlebt, in denen es mir nicht gut ging», sagt er.
Am schlimmsten sind die Stunden vor dem Spiel für ihn, im Hotelzimmer, wo es nichts zu tun und viel Raum für Gedanken gibt. In der Kabine, kurz vor dem Spiel, krampft sich der Bauch zusammen. «Ich hatte vor jedem Spiel Durchfall, wirklich vor jedem, und ich war bei weitem nicht der Einzige», sagt er. Er sieht Mitspieler, die sich vor dem Anpfiff übergeben, still und heimlich, irgendwo am Spielfeldrand. Es sind Momente, in denen Brunner sich fragt: Geht es den anderen auch wie mir? Sind sie gar nicht so selbstbewusst, wie sie sich geben?
Eine richtige Antwort erhält der Zürcher nie, weil die Frage, wie es einem geht, im Fussball nicht wichtig ist. Alle cool, alle stark, alte Schule, so beschreibt er diese Welt. Während der Rest der Gesellschaft immer offener über psychische Probleme spricht, bleiben sie in der Kabine ein Tabuthema. «Im Fussball wird eigentlich alles auseinandergenommen – ausser der Kopf», sagt Brunner.
Das versteht der Sohn eines Arztes und Student der Psychologie nicht. Selbst hat er Wege gefunden, um sich zurechtzufinden. Meditiert. Arbeitet schon früh mit einem Sportpsychologen. Und er stumpft über die Jahre ab, «aus Selbstschutz, glaube ich», sagt er. Brunner erlebt nicht mehr die gleichen Höhen und Tiefen wie als junger Spieler. Aber gelitten hat er trotzdem oft.
Er trainiert jetzt beim FC Seefeld mit
Es passiert selten, dass Fussballer so offen wie Brunner darüber sprechen, wie es ihnen ergangen ist. Per Mertesacker, der deutsche Weltmeister von 2014, hat das einst getan. In der Schweiz Francisco Rodriguez, der für den FC Zürich und den FC Luzern spielte, an Depressionen litt und das öffentlich machte.
Brunner weiss, dass die Leute vielleicht denken: Der Brunner soll doch ruhig sein, er hat ja genug verdient. Ihnen entgegnet er, dass am Ende auch Fussballer Menschen sind. Er berichtet vom geschundenen Körper, vom Stress, der seine Spuren hinterlässt, sagt: «Geld macht nicht alles wieder gut.» Der Lohn ist für ihn ein Stück weit ein Schmerzensgeld.
Wenn er jetzt wieder einmal ins Grübeln gerate, dann rufe er sich einfach in Erinnerung, dass er sich bewusst für diese Situation entschieden habe. Es gab im Sommer den einen oder anderen Verein, der den Verteidiger gerne zu sich geholt hätte. Trotz der komplizierten letzten Saison bei Schalke, die von Verletzungen und durchzogenen Leistungen geprägt war. Brunner berichtet von drei Klubs aus der zweiten deutschen Bundesliga und einem aus der ersten Liga der Niederlande.
Aber der 30-Jährige sagte jedes Mal Nein. Weil nichts dem entsprach, das er sich vorgestellt hatte. Er will Fussballspieler bleiben, das schon, aber nicht mehr um jeden Preis. Er sagt: «Ich musste abwägen, was an diesem Punkt in meinem Leben überwiegt.»
Auf der einen Seite der Waage liegt Zürich, die Stadt, in der seine Familie lebt, die Freundin, die Freunde. Und auch: der ganze Stress, der ganze Druck, den das Fussballgeschäft mit sich bringt.
Auf der anderen Seite der Waage, das hat Brunner im Sommer gemerkt, braucht es jetzt mehr als früher. Ein Land, ein Klub, eine Liga, die ihn «packt und richtig reizt», so formuliert er das. Wegen der Erfahrung fürs Leben. Oder auch einfach: ein Vertrag, der sich finanziell lohnt. Dass kein Angebot vom FC Zürich gekommen ist, schmerzt ihn. Bei seinem Jugendklub würde er gerne nochmals spielen.
Auf Instagram kann man Brunner in diesen Tagen zusehen, wie er in Österreich wandert, das Oktoberfest besucht, durch die Zürcher Strassen schlendert, modisch gekleidet. Dann wieder dreht er seine Runden auf einer Tartanbahn. Er sagt, er sei so fit wie noch nie, aber wirkt auch wie ein Mann, der gerade sehr zufrieden ist mit diesem Leben, in dem der Fussball nicht mehr so wichtig ist.
Vielleicht geht es für Brunner dort bald weiter. Vielleicht auch nicht. Er will jetzt das Psychologiestudium vorantreiben, an der Bachelorarbeit schreiben. Die Zeit nach dem Fussball macht ihm keine Angst, er freut sich auf sie. Er kann sich vorstellen, eine Art Personal Trainer zu werden, der sich um den Körper, aber auch um den Kopf kümmert. Mit Freunden betreibt er zudem in Deutschland zwei Cafés.
Andere Fussballer in seiner Situation trainieren im zweiten Team eines Profiklubs mit, besuchen ein Camp für arbeitslose Spieler. Brunner trainiert seit dem Sommer beim FC Seefeld mit, einem Stadtzürcher Klub, zweite Liga regional. Dort kommen alle freiwillig, aus Spass. Brunner gefällt das, weil es ihn an seine eigenen Anfänge erinnert.