Christian Weisflog / NZZ
Die Migration an der Südgrenze der USA ist ein heisses Thema im Wahljahr. In Texas hat der republikanische Gouverneur kurzerhand die Kontrolle über einen Grenzabschnitt übernommen. Was das bedeutet, zeigt eine Kanufahrt auf dem Rio Grande.
Über 3000 Kilometer lang ist die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Auf zwei Dritteln dieser Strecke folgt sie den Windungen des Rio Grande durch Texas – von New Mexico bis an die Golfküste. Ungefähr in der Mitte des texanischen Grenzabschnitts liegt die Kleinstadt Eagle Pass. Täglich überquerten hier im Dezember mehrere tausend Migranten den Fluss. Spätestens dann wurde die 30 000-Seelen-Gemeinde zur wichtigsten Bühne im hitzigen Kampf um die amerikanische Einwanderungspolitik: auf der einen Seite die Hardliner um den texanischen Gouverneur Greg Abbott, auf der anderen Seite die Anhänger einer «humanen» Einwanderungspolitik um Präsident Joe Biden.
Ein bisschen fühlt sich Eagle Pass bereits wie Mexiko an. Die grosse Mehrheit der Einwohner spricht lieber Spanisch als Englisch. Fast jeder Vierte lebt unter der Armutsgrenze. Auch die «Main Street» – die zentrale Einkaufsstrasse – ist heruntergekommen. Die Parkuhren funktionieren nicht, das Kino «Aztec» hat seine Türen vor vielen Jahren geschlossen, und der «Gran Mercado» verkauft wie die meisten Geschäfte vor allem Billigware – von der Unterwäsche bis zum Kinderfahrrad. Üppig ist in den Schaufenstern nur das bunte Angebot an künstlichen Blumen.
«Wie wenn dir jemand dein Zuhause wegnimmt»
Wo die Einkaufsstrasse sich zum Rio Grande hinunterneigt, eröffnet sich der Blick auf den Shelby Park entlang des Grenzflusses. Über die grosse Rasenfläche mit Fussball- und Baseballfeldern sowie einem benachbarten Golfplatz führen zwei Brücken in die mexikanische Nachbarstadt Piedras Negras. Früher kamen die Einwohner von Eagle Pass hierher, um sich bei Ballspielen, Picknicks oder Volksfesten zu vergnügen. Von der Bootsrampe im Park aus organisierte der lokale Aktivist Jessie Fuentes jedes Jahr ein Kajak-Rennen auf dem Rio Grande. Doch als hier immer mehr Migranten über den Fluss kamen, griff der Gouverner Abbott im Januar zum Äussersten: Er liess den Park kurzerhand für die Öffentlichkeit und den Bundesgrenzschutz sperren. Nun muss Fuentes an diesem Morgen im April mit seinem Pick-up und einem Kanu darauf vor einem verschlossenen Gittertor auf den NZZ-Journalisten warten. Dahinter bewachen texanische Nationalgardisten mit umgehängten Sturmgewehren das Gelände.
Für Fuentes ist das schmerzhaft. Der Rio Grande ist für ihn nicht irgendein Fluss: «Es fühlt sich an, als ob dir jemand dein Zuhause wegnimmt.» Bereits als Kind ging er mit seinem Vater oft fischen. Vor neun Jahren liess sich der Highschool-Lehrer pensionieren und gründete ein Unternehmen für Kanu- und Kajak-Touren. «Ich musste zurück auf den Fluss», sagt der 63-Jährige, der auf dem Kopf einen Hut wie Indiana Jones und im Gesicht einen Schnurrbart wie ein Walross trägt.
Nun kann Fuentes nur noch Journalisten den Fluss hinunterbegleiten – sofern die zuständige Behörde in der texanischen Hauptstadt Austin dafür die Bewilligung erteilt. «Bis am Schluss ist es nie sicher, ob es klappt», sagt Fuentes. Aber wir haben Glück. Als die zuständige Medienspezialistin der Nationalgarde eintrifft, öffnen die Soldaten das Tor. Wir können bis zur Bootsrampe fahren und das Kanu einwassern. Fragen über die Aufgabe der texanischen Truppen dürfen wir keine stellen.
Erst vom Wasser aus wird deutlich, wie Abbotts Grenzbefestigungen den Rio Grande verändern. Bereits im vergangenen Sommer blockierte Texas das Flussufer beim Shelby Park mit einer Mauer aus rostigen Schiffscontainern, auf denen auch an diesem Morgen wachsame Nationalgardisten stehen. Die weitgehend gerodete Uferböschung darunter ist teilweise bis zum Wasser mit rasiermesserscharfem Klingendraht gesichert. «Aber auch dies konnte die Migranten im Dezember nicht aufhalten», sagt Fuentes.
Der Rio Grande ist hier nur rund 20 Meter breit. Auf der mexikanischen Seite liegt der Stadtpark von Piedras Negras. Durch ihn lässt es sich an Kinderspielplätzen vorbei ungehindert zum Flussufer spazieren. Wenn der Wasserpegel so tief wie jetzt im April ist, kann eine erwachsene Person ganz einfach durch den Rio Grande zum amerikanischen Ufer waten. Gut sichtbar ist, wie es Migranten gelingt, die lebensgefährlichen Abschrankungen trotz allen Widrigkeiten zu überwinden. Überall in den Drähten hängen Kleidungsstücke. An manchen Stellen weiter flussabwärts decken mehrere Lagen von T-Shirts, Pullovern, Decken und Tüchern die scharfen Klingen zu. Gerade grosse Gruppen, die viele Stoff- und Kleidungsstücke über den Fluss mitbringen können, kämpfen sich so über die Hindernisse hinweg.
Messerscharfer Klingendraht statt grünes Schilfgras
Noch im Dezember jedoch wartete im Shelby Park der Bundesgrenzschutz auf die Migranten. Die Beamten nahmen ihre Daten auf und nahmen ihren Wunsch auf einen Asylantrag entgegen. Das ist genau, was die Mehrheit der Migranten will. Denn Schutzsuchende, die Angst vor Verfolgung in ihrem Heimatland glaubhaft machen können, haben danach Aussicht auf ein jahrelanges Verfahren, während dessen sie in den USA bleiben können.
Der nationale Grenzschutz hielt sich im Shelby Park dabei an das Gesetz: Wer sich auf amerikanischem Boden befindet, hat das Recht, um Asyl zu bitten. Doch diese Anlaufstelle sei Texas ein Dorn im Auge gewesen, sagt Fuentes. Mit der kompletten Übernahme des Geländes durch die Nationalgarde sollte ihr ein Ende gesetzt werden. Der Gliedstaat habe den Bundesbehörden klargemacht: «Ihr werdet euch nicht mehr um die Migranten kümmern, wir drängen sie über den Fluss zurück.»
Er habe selbst einmal gesehen, wie texanische Nationalgardisten eine Mutter mit einem schreienden Kind über den Fluss zurückschickten, erzählt Fuentes. Eine interne E-Mail, die im vergangenen Sommer bekanntwurde, bestätigte solche Vorwürfe. Sie hätten den Befehl bekommen, auch Kinder zurück über den Fluss zu zwingen und Migranten kein Wasser zu geben, berichtete darin ein texanischer Grenzwächter seinem Vorgesetzten. Weil die Absperrungen die Menschen dazu nötigten, den Fluss an tieferen Stellen zu überqueren, sei das Risiko, zu ertrinken, gestiegen.
Auf der Kanufahrt begleitet uns auch die Aktivistin Amerika Garcia, deren Vater lange Jahre in der Handelskammer von Eagle Pass sass. Die 48-Jährige macht sich nicht nur Sorgen um das Wohl der Migranten, sondern auch um die Umwelt. Garcia zeigt auf die Schiffscontainer am Ufer. Der Shelby Park sei eigentlich ein Überschwemmungsgebiet. Per Gesetz dürfe in dieser Zone nichts Festes gebaut werden. «Die Container könnten bei einer Flut wegschwimmen und die Brücken beschädigen.»
Südlich des Parks endet die Mauer aus Schiffscontainern. Über mehrere Kilometer gleicht die amerikanische Uferböschung auch hier mit Zäunen und Klingendraht einem Kriegsschauplatz. Während auf mexikanischer Seite dichtes Schilfgras wächst, Fischer ihre Angeln auswerfen und Pferde aus dem Fluss trinken, wurde die Vegetation auf der amerikanischen Seite kahlgeschlagen. Schwarze Metallpfähle stecken in der nackten Erde, an denen die Rollen mit scharfem Draht befestigt sind. Kein Migrant findet hier eine Deckung. Der Nachteil aber ist: «Der Fluss erodiert das Ufer verstärkt», erklärt Garcia.
Hinter den Zäunen entlang des Rio Grande haben Baumaschinen derweil Naturstrassen für die Patrouillen gebaut. Da und dort schütteten sie künstliche Erdhügel auf. Darauf stehen nun Humvees, in denen Soldaten die Grenze überblicken. Etwas weiter flussabwärts installierte Texas an einer Stelle, die viele Migranten passierten, mitten im Wasser eine etwa 300 Meter lange Kette aus grossen Bojen, zwischen denen Sägeblatt-ähnliche Metallscheiben angebracht sind. Mittlerweile hat sich Treibholz in den Bojen verheddert und hebt die orangen Schwimmkörper über weite Strecken aus dem Wasser. «Eine Insel ist entstanden», meint Garcia. Dies verstosse gegen Verträge der USA mit Mexiko. «Es darf nichts unternommen werden, was die Flussrichtung verändern könnte.»
Ist Mexiko die bessere Mauer?
Mehrere Bundesbehörden und teilweise jahrhundertealte Verträge dienten dem Schutz des Flusses, sagt auch Fuentes. «Ohne Bewilligung darf man nicht einmal eine Pflanze ausreissen.» Er hält die texanischen Massnahmen nicht nur für umweltschädlich, sondern auch für unwirksam und unnötig im Kampf gegen die Migration. Und dies, obwohl die Zahl der illegalen Grenzübertritte in letzter Zeit stark zurückging. Im Dezember überquerten im Abschnitt Del Rio, zu dem auch Eagle Pass gehört, noch 71 000 Personen den Fluss. In den vergangenen Monaten waren es jeweils weniger als 20 000. Zudem kamen jüngst weniger Migranten über die Grenze in Texas als über jene der anderen Grenzstaaten – New Mexico, Arizona und Kalifornien. Dies spricht für eine Verschiebung der Migrationsströme.
Auf unserer dreistündigen Kanufahrt sehen wir lediglich drei kleine Gruppen von Migranten, die am amerikanischen Ufer am helllichten Tag einen Weg durch den Klingendraht suchen. Aber nicht Abbot sei für den gegenwärtigen Rückgang der illegalen Grenzübertritte verantwortlich, meint Fuentes. Der Hauptgrund dafür sei vor allem eine verstärkte Hilfeleistung der mexikanischen Behörden. Diese erschwerten es Migranten, bis zur Grenze zu gelangen. «Mexiko ist die Mauer.»
Der Grund für das mexikanische Vorgehen ist vermutlich ein erhöhter Druck aus Washington. Auch der amerikanische Präsident sah im Dezember ein, dass die Situation an der Grenze unhaltbar geworden ist. In Eagle Pass musste der Bundesgrenzschutz die Brücken für den Eisenbahn- und den Strassenverkehr zeitweise schliessen oder die Abfertigung reduzieren. Die Behörde zog die dortigen Grenzbeamten ab, um mit den vielen Migranten fertigzuwerden, die über den Fluss kamen. Dies wiederum riss ein grosses Loch ins Budget der Grenzstadt, das zu über 50 Prozent von den Zolleinnahmen abhängt.
Kurz vor Weihnachten rief Präsident Biden seinen mexikanischen Amtskollegen Andrés Manuel López Obrador an. Beunruhigt durch die massive Migrationswelle sagte er zum mexikanischen Staatschef: «Wir müssen gemeinsam eine Lösung finden.» Wenige Tage später schickte Biden seinen Aussenminister Antony Blinken nach Mexiko-Stadt.
Republikanische Meuterei gegen Washington
Im Januar griff der Bundesgrenzschutz an der gesamten Südgrenze im Vergleich zum Dezember rund 40 Prozent weniger illegale Migranten auf. Im Sektor von Eagle Pass waren es jedoch 76 Prozent weniger. So kaltherzig, umweltschädlich und kostspielig die texanischen Methoden auch sein mögen, ganz ohne abschreckende Wirkung sind sie womöglich doch nicht. Bei einer Pressekonferenz im Shelby Park im Februar betonte der Gouverneur Abbott zudem, dass sein Vorgehen verfassungsmässig sei. Eine Klausel im ersten Artikel des amerikanischen Grundgesetzes erlaube es Gliedstaaten, sich ohne Washingtons Zustimmung gegen unmittelbare Gefahren und Invasionen zu verteidigen. Und die rekordhohe Migration unter Präsident Biden sei eine gefährliche Invasion: «Millionen von Menschen aus der ganzen Welt kommen unkontrolliert in unser Land.»
Auf dieser Grundlage erklärte Abbott bereits im Mai 2021 einen Notstand, um zeitweise bis zu 10 000 Soldaten der texanischen Nationalgarde an die Grenze zu senden. In verschiedenen Abschnitten liess der Gouverneur zudem eigene Grenzmauern- und zäune bauen. Um die Demokraten gleichzeitig mit den Folgen der starken Zuwanderung zu konfrontieren, verfrachtete Texas über 100 000 Migranten in Bussen in linke Grossstädte wie New York oder Chicago. Rund 10 Milliarden Dollar kostete diese «Operation Lone Star» die texanischen Steuerzahler bis heute.
Der 66-jährige Abbott, der seit einem Joggingunfall in jungen Jahren im Rollstuhl sitzt, ist in dieser Meuterei gegen Washingtons Einwanderungspolitik nicht allein. Bei der Pressekonferenz im Shelby Park im Februar war Abbott umringt von zwölf anderen Gouverneuren aus republikanischen Gliedstaaten. Aus Solidarität haben viele von ihnen selbst Nationalgardisten an die Grenze in Texas geschickt. Nur zwei Wochen später besuchte auch Donald Trump den Shelby Park, um Abbott für seine «grossartige Arbeit» zu gratulieren. Biden zögert derweil, den Konflikt weiter zu eskalieren. Theoretisch könnte der Präsident die texanische Nationalgarde unter seinen Befehl nehmen. Doch dafür müsste er das «Aufstandsgesetz» bemühen und Texas quasi der Rebellion bezichtigen.
Der Aktivist Fuentes sieht die Welt indes mit ganz anderen Augen als der Gouverneur Abbott. Für ihn stellt die Migration kein Problem dar. Sein eigener Grossvater wanderte einst aus Mexiko ein. «Wer melkt die Kühe in Amerika? Wer pflückt die Früchte? Wer baut die Häuser? Es sind nicht die Weissen und nicht die Schwarzen. Es sind die Braunen», sagt der fünffache Familienvater. Mit ruhiger Hand lenkt er das Kanu zu einer kleinen Anlegestelle zwischen hohem Schilfgras. Rund 15 Kilometer flussabwärts ist dies die erste Möglichkeit, um an Land zu gehen.
«Mit allem, was Abbott tut, will er einen Streit provozieren», meint Fuentes zum Schluss. Es habe eine Alternative gegeben, um die Situation an der Grenze zu verbessern: den im Senat zwischen Republikanern und Demokraten ausgehandelten Kompromiss zur Verschärfung und Beschleunigung der Asylverfahren. Doch weil Trump dagegen gewesen sei, hätten die Konservativen die Vorlage im Februar versenkt. «Sie wollen Chaos an der Grenze, um die Wahlen im Herbst zu gewinnen.»