Mit ihrem Debüt «Foudre» bewarb sich die Genfer Regisseurin für die Academy Awards und mit «Les Paradis de Diane» eröffnet sie die nationalen Filmtage.
Wer offiziell ins Oscar-Rennen geschickt wird, hat einiges richtig gemacht. Carmen Jaquier schaffte das gleich mit ihrem ersten Langfilm: «Foudre» ist 2024 der Schweizer Beitrag für den besten nichtenglischen Film. Der Traum, bis ins Finale vorzudringen, ist allerdings kürzlich geplatzt: Der Titel erscheint nicht auf der Academy-Shortlist, auf der 15 der 88 teilnehmenden Länder vertreten sind.
«Mir war klar, dass die Chance auf ein Weiterkommen klein ist», sagt Jaquier im Gespräch. Enttäuscht ist sie dennoch, zumal viel Arbeit hinter so einer Bewerbung steckt: «Eine ganze Equipe hat mit uns in Amerika gearbeitet, drei Wochen verbrachten wir dort, um den Film zu promoten.»
«Home» gab ihr Hoffnung
Es bleibt nicht viel Zeit für Traurigkeit, schon wartet ein nächster Höhepunkt auf die 39-jährige Genfer Filmemacherin, die vor Jahresfrist höchstens Insider kannten. «Les Paradis de Diane», dessen internationale Premiere im Februar in der Sektion «Panorama» an der Berlinale stattfinden wird, eröffnet diesen Mittwoch in der Reithalle die Solothurner Filmtage. Solothurn ist nicht Hollywood, doch die Adelung auf nationaler Ebene zeigt: Jaquier ist zu einer Hoffnungsträgerin des Schweizer Schaffens aufgestiegen, dem es an starken Drehbüchern mangelt, an prägnanten Frauenrollen und Regisseurinnen.
Gefragt ist also frische Power nach der 1970er Generation um Petra Volpe, Bettina Oberli und Ursula Meier, dieser Ausnahmeerscheinung, aufgewachsen wie Jaquier in Genf. Die Wege der beiden haben sich schon mehrmals gekreuzt, und Jaquier betont, wie sehr ihr Meiers grossartiges Kinodebüt «Home» Hoffnung gab: «Es zeigte mir, was in der Schweiz möglich ist.»
Sie selbst setzte ein erstes Ausrufezeichen am Filmfestival Locarno, das sie seit der Jugend als Besucherin gekannt hatte («Einmal schliefen wir mit Freunden im Parkhaus»). 2011 wurde dort ihre kurze Abschlussarbeit «Le Tombeau des filles» mit dem Nachwuchspreis Pardino d’argento prämiert, vier Jahre später kehrte sie zurück mit einem weiteren Kurz- und dem Episodenfilm «Heimatland»: Zu dieser Kollektivarbeit von zehn Regieleuten aus der West- und der Deutschschweiz steuerte sie eine Episode bei, wie der Zürcher Jan Gassmann («Chrigu», «99 Moons»). Aus der Präsentation in Locarno wuchs eine Liebe über den Röstigraben hinweg. Die zwei sind heute ein Paar und Eltern eines Söhnchens.
«Le Paradis de Diane» ist nun ein Gemeinschaftswerk der beiden: Nach und nach war die Idee entstanden, den von ihr ersonnenen Stoff zusammen zu entwickeln, und schliesslich setzten sie ihn auch als Tandem um, indem sie sich am Set abwechselten. Wie bei Jaquiers Debütfilm «Foudre», in Wirklichkeit ein halbes Jahr nachher gedreht, wird das Wesen der weiblichen Identität mit einem Ausbruch aus Konventionen ergründet – jedoch in ganz anderem Kontext: Dreht sich «Foudre» um die rigide Moral des Katholizismus in der Schweizer Bergwelt um 1900, handelt «Le Paradis de Diane» vom Verstoss gegen eine religionsübergreifende Konvention, die so alt ist wie die Menschheit und ein letztes Tabu: Eine Mutter lässt ihr Neugeborenes im Stich.
Die Frau als Monster
Diane (Dorothée De Koon) sucht gleich nach der Entbindung das Weite: Im Zürcher Spital lässt sie Mann und Kind zurück, das sie aus Überforderung nicht einmal in die Arme zu nehmen vermag, und taucht in einer ihr unbekannten spanischen Stadt unter. Gedreht wurde dieser Teil in Benidorm, dem anonym wirkenden Ferienort voller Hochhäuser an der spanischen Costa Blanca, den so manche zum Verschwinden oder Sterben aufsuchen. Hier findet das atmosphärisch dichte Werk zu einprägsamen Bildern des Verlorenseins.
In Spanien fragt Diane jemanden, dem sie von ihrer Flucht aus der Mutterrolle erzählt, ob er sie für ein Monster halte. Und man erinnert sich an die 17-jährige Novizin in «Foudre», die wegen ihres sexuellen Erwachens als «Kind des Teufels» gilt. «Frauen wurden schon immer schnell zu Monstern gemacht», sagt Jaquier dazu. «Das merken gerade Heranwachsende, sobald sie etwas von der Norm abweichen.» Für ihren neuen Film wählte sie eine Protagonistin deutlich jenseits der Adoleszenz, so dass sich der Schock der Mutterschaft und der Wunsch auszubrechen nicht auf mangelnde Reife abschieben lassen.
Was Mutterschaft bedeutet, erfuhr Jaquier während der längeren Finanzierungsphase des Projekts am eigenen Leib: Sie wurde schwanger, gebar ihr Kind. Ein Fluchtreflex befiel sie dabei nach eigenem Bekunden nie, doch die Recherchen zum Film hatten sie mit Frauen zusammengeführt, bei denen das der Fall gewesen war: «Manche hatten abgrundtiefe Leere, Todesangst oder einen Identitätsverlust empfunden und die Flucht erwogen, um etwas Verlorenes wiederzufinden, vielleicht den Sinn ihres Lebens. Es ging also weniger um den Gedanken, ihr Kind aufzugeben, eher um eine Geste des Überlebens. Sie erzählten von der tiefen Erschütterung, die eine Geburt auslösen kann, und von der Verpflichtung der Frauen, ihre Rolle um jeden Preis zu erfüllen, auch wenn einige von ihnen völlig orientierungslos werden.»
Als Jaquier sich aufmachte, das Filmhandwerk zu erlernen, vermisste sie interessante Frauenfiguren auf der Leinwand. Jane Campion hatte einige geschaffen, auch ungeheuerliche, sie inspirierten die Genferin in ihrer Jugend. Sie schätzt den weiblichen Blick in der Kunst, wehrt sich jedoch gegen Schubladisierungen wie jene, dass Regisseurinnen für intime Stoffe zuständig seien und Regisseure für Action. In ihrer Arbeit wie im Leben versucht sie laut eigenen Worten Vorurteile zu überlisten, vor allem ihre eigenen. So zieht etwa Diane als «lonely wolf» herum, eher ein maskulines Attribut. Jaquier ist wie viele Frauen mit der Warnung aufgewachsen, nachts nicht allein auf die Strasse zu gehen, da dort Gefahren lauern: «Dabei sollte das möglich sein, man muss diese Freiheit gewinnen, und Diane trägt das in sich.»
Traumatisches erstes Kinoerlebnis
Jaquier, ursprünglich Grafikerin, schloss an der Lausanner Kunstschule Écal das Studium zur Drehbuchautorin ab: Die Schreiblust führte sie zu den bewegten Bildern, deren Kraft ihr allererste Kinoerlebnis traumatisch auflud. Gezeigt wurde Jean-Jacques Annauds «L’Ours». Und als die Bärenmutter starb, schrie die kleine Carmen so laut, dass man sie aus dem Saal bringen musste. «Wenn ich zurückdenke, scheint die Leinwand direkt vor meinem Gesicht gewesen zu sein», erinnert sie sich.
Heute liebt sie die von bedrohlichen Urviechern bevölkerte Filmreihe «Jurassic Park», mit etwas Küchenpsychologie könnte man vermuten, sie finde darin den Schrecken ihres ersten Kinobesuchs wieder. Fest steht für sie: Die Filme ihrer Kindheit nährten ihr Begehren nach Kino, grossen Geschichten und phantastischen Universen: «Ich glaube, die zehn, zwanzig ersten Filme im Leben sind enorm prägend», hält sie fest.
Carmen Jaquier hat sich die Mischung aus Kraft und Verletzlichkeit ihrer Kindheit bewahrt, noch immer überwältigt sie gelegentlich eine Kinoerfahrung. Sie berichtet, wie vor einigen Jahren ein Beitrag am Genfer Filmfestival sie derart durchgeschüttelt habe, dass sie den Saal frühzeitig verlassen und eine Stunde geweint habe. Dass ihre keineswegs reisserisch erzählte Geschichte über eine Mutter, die ihr Neugeborenes zurücklässt, bei manchen ähnliche Reaktionen auslöst, ist nicht auszuschliessen.