Mittwoch, März 19

Parteien, Bundesräte, Verbände, Medien: Alle haben die Initiative der Gewerkschaften für den Ausbau der AHV unterschätzt. Ein Walliser warnte, wurde aber nicht gehört. Chronologie eines Irrtums.

Wer ist schuld? Die SVP? Economiesuisse? Im bürgerlichen Lager werden die Schuldzuweisungen sofort losgehen, falls die Initiative für eine 13. AHV-Rente am Sonntag angenommen wird. Der Ausgang der Abstimmung ist laut den Umfragen offen, die Befürworter sind im Vorteil, aber sowohl beim Volks- als auch beim Ständemehr könnte es eng werden.

Doch bereits im Vorfeld machen Vorwürfe die Runde, wie üblich anonym: Die einen finden, die SVP, die die Kampagne der bürgerlichen Parteien verantwortet, mache alles falsch. Andere greifen die Wirtschaft an, wobei primär das Team von Economiesuisse in der Kritik steht. Besonders der ominöse Brief der Alt-Bundesräte, die vor dem Ausbau der AHV warnten, kam teilweise sehr schlecht an.

Eines aber lässt sich schon jetzt objektiv festhalten: Die Grundlage dafür, dass die Gewerkschaften womöglich einen historischen Triumph feiern können, wurde früher gelegt. Angefangen hat es damit, dass die Initiative viel zu lange unterschätzt wurde. Praktisch niemand in der SVP, der FDP und der Mitte, aber auch im Bundesrat oder in den Wirtschaftsverbänden hat ernsthaft damit gerechnet, dass der Ausbau der AHV an der Urne eine Chance haben könnte – dasselbe gilt, das soll nicht verschwiegen werden, für die Medien.

Frühe Fehleinschätzung, späte Einsicht

Das war, wie man heute weiss, ein Irrtum – ein kollektiver und möglicherweise auch ein folgenschwerer Irrtum, der die Geschichte der Altersvorsorge lange prägen könnte. Die Geschichte dieser Fehleinschätzung lässt sich rekonstruieren:

  • Dezember 2022: Der Nationalrat macht bei der Beratung der Initiative für die 13. Rente kurzen Prozess. Er verzichtet auf einen Gegenvorschlag, der den Gewerkschaften den Wind aus den Segeln nehmen könnte. Ein solcher ist zwar ein Thema, die Initianten selbst machen Vorschläge. In der Sozialkommission liegt ein konkreter Plan auf dem Tisch: Nicht alle Pensionierten sollten eine 13. Rente erhalten, sondern nur die 40 Prozent der einkommensschwächsten Haushalte. Die bürgerliche Mehrheit stimmt aber geschlossen dagegen, in der Überzeugung, dass die Initiative sowieso scheitert. Der Mitte-Fraktionschef Philipp Matthias Bregy bringt die Stimmungslage auf den Punkt: «Ich danke der Kommission, dass man für einmal keinen Gegenvorschlag gemacht hat. Es wird zu einer Unsitte, dass man quasi jeder Volksinitiative einen Gegenvorschlag gegenüberstellt, mit dem dann viele doch wieder nicht zufrieden sind. Bringen wir solche Dinge zur Abstimmung, und wenn wir dann Korrekturen machen wollen, haben wir in der Zukunft noch die Zeit, diese zu machen.» 
  • März 2023: Auch der Ständerat fackelt nicht lange, er empfiehlt die Initiative ebenfalls ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung. Doch nicht allen ist wohl dabei. Ein einsamer Warner im Lager der Bürgerlichen schaltet sich in die Debatte ein: Ironischerweise ist es ausgerechnet Bregys Vertrauter, der Walliser Mitte-Ständerat Beat Rieder, der den richtigen Riecher hat. Er spürt, dass in der Bevölkerung etwas gärt, dass viele Rentner unzufrieden sind und die 13. Rente mehr Anklang findet, als die bürgerlichen Strategen meinen. Rieder – von Haus aus kein Sozialpolitiker – sitzt mit der Nationalrätin Melanie Mettler von der GLP zusammen, die schon früh für einen Gegenvorschlag war. Just am Tag vor der Schlussabstimmung über die Initiative reichen Rieder/Mettler zwei identische Vorstösse ein: Die AHV solle gezielt für bedürftige Rentner erhöht werden. Eine Art verkappter Gegenvorschlag, einfach etwas spät. Die Stossrichtung ist dieselbe wie bei den versenkten Gegenvorschlägen der Linken.
  • Juni 2023: Beat Rieder macht Druck, damit sein Vorstoss rasch behandelt wird. Er ahnt, wie sehr es eilt, weil die Initiative 2024 an die Urne kommen wird. Tatsächlich steht sein Vorstoss im Juni auf der Traktandenliste. Doch seine bürgerlichen Ständeratskollegen machen nicht mit: Die Materie sei sehr kompliziert, und sowieso plane der Bundesrat bereits eine neue AHV-Reform. Deshalb sei es besser, den Vorstoss zuerst einmal gründlich in der Kommission zu besprechen. Damit ist klar, dass der Ständerat vor der Volksabstimmung über die Initiative nicht über Rieders Vorschlag entscheiden wird. Interessant: Auch die Vertreter der Linken wehren sich nicht gegen die Zusatzschlaufe. 
  • Oktober 2023: Der Bundesrat demonstriert zum wiederholten Mal, wie wenig ernst er die Initiative der Gewerkschaften nimmt. In einer sonderbaren Aktion in letzter Minute ändert er den Fahrplan der Volksabstimmungen des Jahres 2024: Aus Angst, eine andere hängige Initiative zur Verbilligung der Krankenkassenprämien könnte eine Mehrheit finden, wenn sie zu früh im Jahr an die Urne kommt, ändert der Bundesrat die Reihenfolge. Er beschliesst, dass über die Initiative für die 13. Rente bereits im März statt im Juni entschieden wird. Der erste Abstimmungstermin im Jahr gilt als schwierig, weil die Zeit für die Meinungsbildung kurz ist. Die Gewerkschaften gehen sofort in die Offensive: Noch am gleichen Tag machen sie eine Umfrage publik, die zeigt, dass 71 Prozent für die 13. Rente stimmen wollen. Manchen in Bern beginnt es zu dämmern. 
  • Dezember 2023: Nun kommt der Vorstoss des Mitte-GLP-Duos Mettler und Rieder in den Nationalrat – und siehe da: Genau ein Jahr nachdem er von einem Gegenvorschlag nichts wissen wollte, stimmt der Rat nun ohne eine einzige Gegenstimme für einen gezielten Ausbau der AHV für Personen mit tiefen Renten. Es ist der verspätete Versuch, der Initiative doch noch eine Alternative gegenüberzustellen, zumindest ansatzweise. Die Linke versucht vergeblich, den Entscheid hinauszuschieben, um den Bürgerlichen kein Argument im Abstimmungskampf zu liefern. 
  • Februar 2024: Tatsächlich operieren die Gegner der 13. Rente nun prominent mit dem Vorstoss Rieder/Mettler. Am Ende greifen die Parteipräsidenten von SVP, FDP, Mitte und GLP zu einem ungewöhnlichen Mittel: Sie schreiben einen gemeinsamen Brief, mit dem sie sich persönlich verpflichten, im Parlament eine gezielte Erhöhung der tieferen Renten durchzusetzen, falls der flächendeckende AHV-Ausbau an der Urne scheitert. 

Ob das genügt, um den Sieg der Gewerkschaften zu verhindern? Unabhängig davon dürfte dieser Abstimmungskampf die Schweizer Sozialpolitik dauerhaft verändern. 2016 hat das Volk eine ähnliche Vorlage für den Ausbau der AHV mit 60 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Heute ist er potenziell mehrheitsfähig. Etwas hat sich verschoben im Land. Der Bundesrat und die Parteien werden sich darauf einstellen. Allen voran wohl die Mitte-Partei, die sozialpolitisch schon bisher oft nach links tendierte. Und der nächste Test folgt im Juni, wenn das Volk über die Prämienverbilligungen entscheidet.

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