Der junge Mann soll seine Freundin zum Sex seinen Kollegen angeboten haben. Geschichte einer zerstörerischen Beziehung.
Sie ist 12 Jahre alt, als sie sich in einen 16-jährigen Jungen verliebt. Was der Beginn einer ersten zarten Romanze sein könnte, entwickelt sich rasch zu einer verstörenden und toxischen Beziehung. Das Mädchen klammert sich in einer Art von Liebesobsession an den Jugendlichen, obwohl er sie wie Dreck behandelt.
Es ist ein Albtraum, der zwei Jahre andauern wird. Ein Albtraum, der erst endet, als die Mutter des Mädchens merkt, dass etwas nicht stimmt – und Anzeige einreicht.
Während dieser zwei Jahre stiftet er sie dazu an, ihren Eltern Tausende von Franken zu stehlen, er bedroht und schlägt sie, wenn sie nicht spurt. Er hat Sex mit ihr und filmt sich dabei. Und nicht nur das: Er reicht sie auch noch unter seinen Freunden und teilweise längst erwachsenen Cousins herum.
Einer nach dem anderen missbraucht das Mädchen für seine sexuelle Befriedigung – in schäbigen Hotels und Schrebergartenhäuschen. Er selbst inszeniert sich vor ihnen als Playboy und Gangster.
Eine Massenvergewaltigung mit dem jungen Mann als Regisseur. So schildert es die Anklage.
Für den heute jungen Mann und seine Rechtsanwältin ist alles ganz anders gelaufen. Sie wehren sich in diesen Tagen vor Obergericht gegen das Urteil des Bezirksgerichts Winterthur. Es geht um viel: Im Sommer 2022 war der junge Mann zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren und 9 Monaten verurteilt worden.
Vor Obergericht sagt er: «Es ist auf gar keinen Fall gut, was damals passiert ist.» Er ist aber auch der Meinung, dass er sie zu nichts gezwungen habe und die Initiative für den Sex von ihr gekommen sei. Und so stellt auch die Anwältin das Mädchen dar: frühreif, selbstbestimmt und promisk. Es sei keineswegs so, dass sie aus Angst vor ihm einfach all seinen Befehlen gefolgt sei.
Eine Geschichte – zwei Versionen. Und eine zentrale Frage: Wie konnte es bloss so weit kommen?
Schläge, Sex und Erpressung
Die beiden lernen sich im Herbst 2017 kennen. Sie sind zu Hause bei ihrem Cousin.
Die zwei tauschen in der Wohnung Blicke aus, er findet sie sexy. Sie nehmen kurz darauf Kontakt über Instagram auf, schreiben sich regelmässig, telefonieren. Wenig später verabreden sie sich zu ihrem ersten Treffen – und haben Sex auf einer Schulhaustoilette. Der Wunsch dazu sei zwar von ihm gekommen, wird sie später zu Protokoll geben, aber sie habe es auch gewollt. Das Treffen hätten sie gemeinsam vereinbart.
Wie sich die Beziehung genau weiterentwickelt, ist nicht bekannt. Klar ist nur, dass es auf emotionaler Ebene eine einseitige Geschichte ist. Sie verliebt sich unsterblich in ihn, hält keinen Tag ohne Nachricht von ihm aus. Er dagegen hält sie auf Distanz. Blockiert sie immer wieder in den sozialen Netzwerken, nur um ihr dann kurze Zeit später den Kontakt wieder zu erlauben. Er sieht sie als Kollegin, mit der er ab und an auch Sex haben kann.
Schon früh in dieser Beziehung nimmt die Mutter des Mädchens Kontakt mit ihm auf und sagt ihm, dass ihre Tochter erst 12 Jahre alt sei. Er habe dann zwar versucht, den Kontakt abzubrechen, das habe aber nicht lange funktioniert, wird er später in Befragungen sagen. Er habe bald alles vergessen, was ihm die Mutter gesagt habe. Er habe damals «nicht mit dem Kopf, sondern einfach mit dem Penis studiert».
Der 16-Jährige sucht bei ihr aber nicht nur sexuelle Befriedigung, bald interessiert ihn vor allem eins: Geld. Geld, das sie ihm bringen muss.
Seinen Willen setzt er notfalls mit Schlägen durch. Der erste Fall, der aktenkundig ist, spielt sich im Frühling 2018 ab. Sie treffen sich in der Schalterhalle eines Bahnhofs im Kanton Zürich. Er verlangt Geld von ihr, die 40 Franken, die sie bei sich hat, braucht sie jedoch für Billetts. Ihm passt das nicht, und so schlägt er sie laut Anklage ins Gesicht und in den Bauch und nimmt ihr die 40 Franken ab.
Das ist nur der Beginn: Im Laufe des zweijährigen Verhältnisses wird er ihr immer grössere Beträge abknöpfen, welche sie ihren Eltern stiehlt. Am Ende sollen es bis zu 15 000 Franken gewesen sein. Um an Geld zu kommen, schreckt er auch nicht davor zurück, sie mit einem Messer zu bedrohen. Einmal soll er ihr gesagt haben: «Ich werde dir einen Finger oder einen Zeh abschneiden. Du kannst wählen.» Andere Male bietet er ihr Zuneigung oder Sex an, wenn sie ihm Geld bringt.
Das Verhalten wird jedoch noch verstörender. Etwa an jenem Abend, als er sturmfrei hat und er ihr roten Wodka ausschenkt. Seine Freunde spielen auf der Konsole Fifa, er beordert das betrunkene Mädchen ins Zimmer: «Chum go figge!» Dann sagt er zu ihr, sie solle einen seiner Kollegen auswählen, der mit ins Zimmer kommen dürfe. Sonst werfe er sie aus der Wohnung. Sie gehorcht.
So erzählt sie es später den Behörden. Dass sie zu dritt Sex hatten, bestreitet auch er nicht. Er habe ihr aber nicht gedroht, sie habe den Kollegen aus freien Stücken teilnehmen lassen.
An diesem Abend etabliert sich ein Muster, das sich danach noch mehrfach wiederholen wird. In einer besonders düsteren Variante im Frühling 2019. Er nimmt sie mit zu einem Gartenhäuschen. Dorthin lädt er auch drei erwachsene Männer ein, zwei davon sind Cousins von ihm. Einer von ihnen erkundigt sich vorher noch per Whatsapp, ob es dort denn «etwas zu ficken» gebe.
Spätabends treffen die Männer dort ein. Einer der Cousins geht als Erster mit dem Mädchen ins Gartenhäuschen, es ist ein schäbiger Holzverschlag, zwei auf zwei Meter gross. Dort kommt es zum Geschlechtsverkehr. Ihr Freund nimmt das Geschehen auf dem Handy auf. Dann kommt der zweite Mann an die Reihe. Danach gehen die beiden Männer mit dem Freund des Mädchens weg. Sie bleibt zurück mit dem betrunkenen Cousin ihres Freunds.
Er sagt ihr draussen noch, dass sie tun solle, was der Cousin wolle, man wisse ja nie, wie Betrunkene reagierten. So wird sie es später erzählen. Er bestreitet das.
Zurück im dunklen Gartenhäuschen bettelt der Cousin, sie solle auch mit ihm Sex haben. Sie lehnt ab und fügt sich am Ende doch. Der Betrunkene schläft danach neben ihr ein. Sie wartet darauf, dass ihr Freund zurückkommt, schreibt ihm immer wieder – aber er meldet sich nicht. Sie harrt auf dem Fussboden aus, bis sie in den frühen Morgenstunden endlich auf den Bus nach Hause kann.
Bis zum Schluss kommt sie nicht von ihm los. Schliesslich wird sie die Kesb in ein geschlossenes Heim einweisen lassen, damit sie endlich Abstand nimmt. Für sie sei das so gewesen, als ob man ihr eine Droge weggenommen habe, wird sie es später in einer Befragung beschreiben.
Überfordert, grob und unflätig?
Fast fünf Jahre nach seiner Verhaftung im Februar 2020 steht der junge Mann zum zweiten Mal vor Gericht. Und erneut steht seine Rolle im Zentrum des Prozesses am Zürcher Obergericht.
Dort erzählt der junge Mann, er habe inzwischen realisiert, dass es für ein junges Mädchen nicht normal sei, mit so vielen Männern Sex zu haben. Trotzdem ist er überzeugt, dass sie damals mit den Handlungen einverstanden war. «Sie war eine Willige», sagt er während seiner Befragung. «Sie stand nicht hilflos in einer Ecke, und dann sind drei Männer gekommen und haben sie gefickt.»
Gezwungen habe er sie nie. Und er habe auch nichts organisiert. Es seien jeweils einfach auch Kollegen dazugestossen. Für einen schüchternen Kollegen habe er sie einmal gefragt, ob sie auch mit ihm Sex haben würde, «ich war damals recht locker drauf».
Ihm sei es in diesem Verhältnis ohnehin vor allem ums Geld gegangen. «Mir hat das gefallen: Ich habe ihr gesagt, ich brauche so und so viel Geld, und dann hat sie es gebracht.» Auch geschlagen habe er sie primär wegen des Geldes. Heute bereue er dies. «Ich habe nicht auf ihre Gefühle geachtet und nur an mich gedacht.» Im gleichen Atemzug relativiert er sein Verhalten aber: Sie habe ihn manchmal schon auch sehr provoziert.
Seine Verteidigerin beschreibt eine hochgradig ungesunde, komplizierte und instabile Beziehung. Diese habe auch den jungen Mann völlig überfordert. Selbst erst ein Jugendlicher, habe er den Liebeswahn des Mädchens gar nicht richtig einordnen können. Die Anwältin sagt: «Sie wollte sich seine Aufmerksamkeit und seine Liebe erkaufen.» Um ihm nah zu sein, habe sie ihm Geld geschenkt. Und sich auf seine Kollegen eingelassen.
Er hingegen sei nie an einer emotionalen Beziehung interessiert gewesen. Er habe sie schlecht, grob und unflätig behandelt. Wieso sie ihm verfiel, sei deshalb nicht nachvollziehbar.
Ein Punkt ist für die Verteidigerin aber zentral: Es stimme nicht, dass das Mädchen ihrem Freund schutzlos ausgeliefert gewesen sei – und er dies bewusst ausgenutzt habe, um sie von ihrem Umfeld zu isolieren, sie gefügig zu machen und sie sexuell auszubeuten. «Es lag kein einseitiges Machtverhältnis zwischen den beiden vor.»
Die Anwältin fordert deshalb, ihn von einem Teil der Vorwürfe – insbesondere Menschenhandel und Vergewaltigung – freizusprechen. Eine angemessene Bestrafung soll das Gericht für die Erpressungen, Drohungen und die sexuellen Handlungen mit einem Kind aussprechen – gegen Ende der Beziehung war er bereits Volljährig.
«Ich habe ihn zu Tode geliebt»
Das Opfer, inzwischen eine junge Frau, hat insgesamt 25 Mal Auskunft geben müssen über den Albtraum, der ihr widerfahren ist. Ihre Situation beschrieb sie als ausweglos: «Ich habe ihn zu Tode geliebt, ich hätte alles für den Typen gemacht.»
Laut ihrer Anwältin entwickelte das Mädchen eine traumatische Bindung, erzeugt von ihrem damaligen Freund. «Es wurde plötzlich normal, Wünsche zu erfüllen, die sie als eklig und demütigend empfand. Sexuelle Grenzverletzungen wurden normalisiert.»
Als sie ihm hörig war, habe er nur noch eines im Kopf gehabt: «Geld, Geld, Geld». Er habe es zudem als cool empfunden, dass er seinen Kollegen ein Mädchen präsentieren konnte, mit dem sich diese hätten vergnügen können.
Der Jugendanwalt, der die Ermittlungen geführt hat, sagt vor Obergericht: «Der vorliegende Fall ist in jeder Hinsicht aussergewöhnlich, schrecklich und verstörend.» Ihr damaliger Freund habe ihre Verliebtheit ausgenutzt, um sie sexuell und finanziell ausbeuten. «Er benutzte sie wie eine Ware und demütigte sie vor den Augen seiner Kumpels.»
Der Ankläger fordert deshalb eine Freiheitsstrafe von 10 Jahren für den jungen Mann. Auch die Mitbeschuldigten sollen zu teilweise mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt werden. Der Jugendanwalt sagt: «Wir können Geschehenes nicht ungeschehen machen. Aber dieses Verfahren muss nun mit einem Schuldspruch zu einem Ende gebracht werden.»
Rose in seinen Briefkasten gelegt
Schon einmal hat sich ein Gericht mit dem komplexen Fall befasst. Im Sommer 2022, das Bezirksgericht Winterthur. Dieses verurteilte den jungen Mann unter anderem wegen Menschenhandels, Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexueller Handlungen mit einem Kind, Erpressung und weiterer Delikte. Für das Gericht war klar, dass das Mädchen dem Jugendlichen geradezu hörig war und nur darum über sich ergehen liess, was man als eigentliche Massenvergewaltigungen bezeichnen müsse.
Etwas wies die Vorinstanz jedoch zurück: das von der Anklage vorgebrachte «Loverboy»-Szenario. Das Phänomen umschreibt Täter, die junge Frauen eine Liebesbeziehung vorspielen, um sie gezielt abhängig zu machen und auszubeuten. Ein solches, geradezu planmässiges Vorgehen könne dem jungen Mann nicht unterstellt werden, hielt das Bezirksgericht fest.
Auch die Mitbeschuldigten wurden verurteilt. Zwei der Männer akzeptierten die Urteile. Vor Obergericht stehen deshalb noch fünf Männer. Nun muss das Obergericht darüber befinden, ob es der Einschätzung des Bezirksgerichts folgt. Das Urteil wird erst im neuen Jahr erwartet.
Die junge Frau will inzwischen nur noch eines: die Sache hinter sich lassen. Aber kann sie das wirklich? Oder hängt sie immer noch an ihrem Peiniger?
Vor Gericht erzählt sie, wie beschwerlich der Weg für sie war. Im Sommer 2023 sei sie ihm einmal begegnet auf der Strasse in seinem Wohnquartier. Das sei zufällig passiert, sagt sie. Er bezweifelt das. Sie habe dann das Gespräch mit ihm gesucht: «Um abschliessen zu können und zu wissen, wie es ihm geht.» Er will nicht mir ihr sprechen, und so geht sie am nächsten Tag nochmals zu seiner Wohnung und klingelt an der Türe. Wieder will er sich nicht mit ihr unterhalten. Da legt sie ihm eine Rose in den Briefkasten.
Ihr sei es sehr schlecht gegangen in dieser Zeit, sagt sie. Sie sei wegen der Ereignisse anonym auf Social Media bedroht und als Schlampe und Hexe beschimpft worden.
Inzwischen gehe es ihr besser, sagt sie während ihrer Befragung. In Träumen komme manchmal noch etwas hoch. Doch etwas stellt sie klar: «Ich versuche ganz fest, nicht mehr daran zu denken. Liebesgefühle habe ich keine mehr für ihn.»