Mittwoch, Januar 15

«Bei Ihnen ist etwas gröber nicht gut», sagt der Gerichtsvorsitzende zum Schluss zum Beschuldigten. Was genau, kann aber auch der Berufungsprozess am Obergericht nicht klären.

Im Oktober 2021 versteckt sich ein damals 19-jähriger Schweizer zwischen parkierten Autos in einer Tiefgarage im Bezirk Dielsdorf. Er lauert seinem besten Kollegen auf, den er dorthin bestellt hat. Als dieser eintrifft, schlägt er ihm von hinten mehrfach gezielt und heftig mit einem Hammer gegen den Hinterkopf und in den Rücken.

Der 22-jährige Schweizer sagt vor Obergericht nichts zum Hauptdelikt, das ihm im November 2022 eine Verurteilung von 44 Monaten Freiheitsstrafe wegen versuchter schwerer Körperverletzung und versuchter Freiheitsberaubung am Bezirksgericht Dielsdorf einbrachte.

Auch zu einer anderen Tat verweigert er jegliche Aussage: Im März 2021 schlich sich der Rekrut nachts in der Kaserne Bülach ins Zimmer von weiblichen Armeeangehörigen und applizierte einer schlafenden Frau Kokain auf die Lippen. Am nächsten Morgen litt die Frau unter einem Taubheitsgefühl, das erst nach mehreren Stunden nachliess. Die Tat ist in der Anklage als einfache Körperverletzung gewertet worden.

Es ist nur ein Nebendelikt, aber dieses erregt beim vorsitzenden Oberrichter Christoph Spiess pure Verwunderung: «Das ist ein so sonderbarer Vorfall», sagt er, «was, um Himmels willen, bewegt einen dazu, so etwas zu machen?» Vom Beschuldigten kommt aber keine Antwort.

Lappen mit Chemikalien ins Gesicht gedrückt

Beim Hammer des Hauptdelikts in der Tiefgarage handelte es sich um einen sogenannten «Schonhammer» mit Köpfen aus Kunststoff, wie sie in Metallwerkstätten verbreitet sind, damit das Metall durch die Schläge nicht beschädigt wird. Durch den ersten heftigen Schlag stürzte das Opfer auf die Knie, und der Täter schlug weiter mehrfach gegen seinen Hinterkopf. Dann drückte er seinem Opfer einen mit Chemikalien getränkten Lappen ins Gesicht.

Das Opfer wehrte sich mit Händen und Füssen. Es gelang ihm, aufzustehen und aus der Tiefgarage zu flüchten. Der Beschuldigte rannte hinterher. Zufälligerweise kam gerade eine Polizistin vorbei, die ihre Kollegen verständigte. Das Opfer erlitt mehrere Rissquetschwunden und Blutergüsse. Die Verletzungen erwiesen sich als nicht lebensgefährlich.

Hinter den Autos in der Tiefgarage wurden Kabelbinder und Klebeband gefunden, weshalb die Untersuchungsbehörden davon ausgingen, dass der Täter sein Opfer fesseln wollte.

Die Vorinstanz hatte auch eine ambulante Massnahme angeordnet. Der Beschuldigte verneint vor Obergericht aber die Frage, ob er bereit sei, sich einer Therapie zu unterziehen. Gemäss dem psychiatrischen Gutachten litt er zum Tatzeitpunkt an einer akuten Kokainintoxikation. Eine angebliche Kokainpsychose, wie sie der Verteidiger geltend macht und die zu einer totalen Amnesie geführt haben soll, verneinte der Psychiater aber klar.

Der Beschuldigte habe zudem unreife Persönlichkeitszüge, und es gebe Hinweise auf eine weitere psychische Störung, deren Art aber unklar bleibe, weil der Beschuldigte nicht kooperiere und nicht darüber gesprochen habe. Das vorinstanzliche schriftliche Urteil hatte sich diesbezüglich mit möglichen Gewaltphantasien, Sadismus und einer Fixiertheit des Beschuldigten auf die Füsse seines Kollegen auseinandergesetzt. Es erachtete einen Fussfetischismus des Täters «als erstellt».

Der Beschuldigte hatte sich nämlich schon in der Vergangenheit mindestens zweimal ins Haus und ins Zimmer seines Kollegen geschlichen, auf seinem Handy waren gelöschte Textnachrichten und eine Foto-Collage gefunden worden, die auf Fussfetischismus hinwiesen, und auch in der Kaserne in Bülach hatte er die Füsse einer Rekrutin und eines Rekruten berührt.

Amnesie aufgrund von Kokainpsychose?

Der Verteidiger kritisiert vor Obergericht die «Fussfetisch-These» der Vorinstanz als nicht überzeugend. Sein Mandant habe in einem Wahn, in einer Kokainpsychose gehandelt, die eine vollständige Amnesie ausgelöst habe.

Ein Gedächtnisverlust sei für solche Psychosen typisch. Deshalb sei seine Schuldfähigkeit bei der Tat im schweren Mass vermindert gewesen, und er sei nur mit einer Freiheitsstrafe von maximal 12 Monaten zu bestrafen. Für die beabsichtigte Freiheitsberaubung gebe es keine Beweise. Von diesem Vorwurf sei er freizusprechen.

Das psychiatrische Gutachten sei nicht nachvollziehbar und habe keine Persönlichkeitsstörung festgestellt. Sein Mandant sei «ein ganz normaler junger Mann». Die Gewalttat sei durch das Kokain erklärbar. Die Vorinstanz habe willkürlich geurteilt.

Der Staatsanwalt, der selber nicht in Berufung gegangen war, verlangt vor Obergericht Bestätigung der Vorinstanz. Die Tat sei geplant gewesen. Der Beschuldigte habe seinen Kollegen niederschlagen, betäuben und fesseln wollen. Der Schluss der Vorinstanz, dass es keine Kokainpsychose gewesen sei, sei richtig. Eine Psychose führe nicht zu Amnesie, sondern zu Wahnvorstellungen, an die man sich genau erinnern könne.

Auf freiem Fuss

Das Obergericht sieht alle Anklagepunkte als erfüllt an, senkt die Strafe aber auf 36 Monate, wodurch ein teilbedingter Vollzug für den nicht vorbestraften Beschuldigten möglich wird: 18 Monate werden unbedingt, 18 Monate bedingt bei einer Probezeit von 3 Jahren ausgesprochen. Allerdings hat der Beschuldigte bereits 885 Tage, also weit mehr als den unbedingten Teil, abgesessen. Deshalb wird er per Gerichtsbeschluss sofort auf freien Fuss gesetzt.

Angesichts dieser Umstände und der Therapie-Unwilligkeit des Beschuldigten sieht das Gericht von der Bestätigung einer Massnahme ab. Es erteilt dem Beschuldigten aber die Weisung, sich einer deliktorientierten psychotherapeutischen Behandlung zu unterziehen und regelmässig seine Kokainabstinenz kontrollieren zu lassen.

«Bei Ihnen ist etwas gröber nicht gut», erklärt der Oberrichter Christoph Spiess dem Beschuldigten. Es sei aber schwierig, wenn der Beschuldigte nicht kooperiere und nicht sage, was es sei. Das Motiv der Tat bleibt völlig im Dunkeln. Die Geschichte mit der Kokainpsychose und der Amnesie glaube das Gericht nicht. Es glaube vielmehr dem fachmännischen Urteil des psychiatrischen Gutachters.

Dem Obergericht sei zwar «nicht ganz wohl dabei», den Beschuldigten «unbehandelt wieder auf Leute loszulassen». Die Weisung eröffne ihm aber die Möglichkeit, sich selber einen Therapeuten auszusuchen und etwas gegen die Problematik zu unternehmen. Er müsse sich diesbezüglich unbedingt öffnen. Bei einem nächsten Mal werde er vom Gericht wesentlich härter angefasst, verspricht Richter Spiess: «Zweimal Hammer geht nicht.»

Urteil SB230089 vom 5. 3. 2024, noch nicht rechtskräftig.

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