Die häufigsten Massnahmen, die Rechte der Betroffenen und drei typische Geschichten: Die grosse Übersicht zum Kindes- und Erwachsenenschutz.
Herr Steiner ist 35 und im Alkohol versunken. Einst erfolgreicher Geschäftsmann, wohnt er nun bei seinem Vater und lebt von der Sozialhilfe. Entzüge bricht er ab. Er und seine Freundin – ebenfalls Alkoholikerin – streiten permanent, schreien sich an. Der Vater ist überfordert, Herr Steiners Hausärztin ist besorgt.
Dann meldet sie sich bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) der Stadt Zürich.
Was danach passiert, ist ein Prozess, der in der Schweiz zum Standard geworden ist – und doch noch immer viele Unsicherheiten auslöst. Das Kesb-Verfahren ist etwas, was niemand gern durchläuft, aber viele gern in Anspruch nehmen.
Polizei, Schulen, Nachbarn, Verwandte: Allein die Kesb der Stadt Zürich, die grösste der Schweiz, erhält pro Jahr rund 3500 Gefährdungsmeldungen. In etwa einem Drittel der Fälle ordnet sie danach eine Massnahme an. 2023 betrafen 604 davon Erwachsene und 372 Kinder. Das einschneidendste Instrument – die Fremdplatzierung von Minderjährigen – kam 62 Mal zur Anwendung.
Die Kesb ist eine Mischung aus Sozialbehörde und Familiengericht. Sie ist zuständig für Erwachsene, die ihr eigenes Wohlergehen nicht mehr sicherstellen können. Und für Kinder, bei denen die Befürchtung besteht, dass die Familie nicht mehr adäquat für sie sorgen kann.
Ein Mädchen zwischen den Fronten
So wie bei der 7-jährigen Sandra, deren Fall die Stadtpolizei Zürich an die Kesb meldet. Wegen häuslicher Gewalt kommen die Einsatzkräfte zu ihr nach Hause. Die Eltern haben sich eben scheiden lassen, der Vater kann es nicht akzeptieren. Im Streit über seine Besuchszeiten kommt es immer wieder zu Handgreiflichkeiten zwischen den Eltern. Sandra muss alles mit ansehen.
Die Kesb erfährt: In der Schule hat das Mädchen Probleme – sie hat wenige Freunde, rastet aus, kommt oft zu spät. Auch ADHS soll sie haben. Die Sozialbehörden – von der Kesb mit einer Einschätzung beauftragt – empfehlen ein Eingreifen.
Ein ständiges Abwägen zwischen Schutz und Selbstbestimmung sei seine Arbeit, sagt Michael Allgäuer, der Präsident der Zürcher Kesb. Die Behörde muss für jene sorgen, die sich selbst nicht schützen können – und darf gleichzeitig nur dann in Privatsphäre und Familienleben eingreifen, wenn es nicht mehr anders geht.
Die Entscheidung ist dabei nicht schwarz-weiss: Bevormunden oder nicht, Kindesentzug oder nicht. Der Strauss an Massnahmen ist gross, fast unübersichtlich. In der Praxis sind diese Szenarien die wichtigsten:
- Wenn geschiedene Eltern heillos zerstritten sind: Dann kommt ein Besuchsrechtsbeistand zum Einsatz. Er ist ein Vermittler zwischen den Eltern, wenn es um Übergabeort, Ablauf oder Aktivitäten während des Aufenthalts beim jeweils anderen geht.
- Wenn Eltern mit der Erziehung überfordert sind: Für Väter und Mütter, die Grundbedürfnisse ihrer Kinder (Ruhe, Nahrung, Schulbesuch, soziale Kontakte) nicht erfüllen können, gibt es den Erziehungsbeistand. Er berät die Eltern, erinnert sie an ihre Pflichten und organisiert unter Umständen medizinische oder schulische Unterstützung.
- Wenn man die Rechnungen nicht mehr bezahlen kann: Alte oder psychisch kranke Menschen, die ihre Finanzen nicht mehr selbst besorgen können, laufen Gefahr, in einen Strudel aus Mahnungen, Betreibungen und Schulden zu geraten. Wenn sie niemanden haben, der das für sie übernimmt, wird ein Vertretungsbeistand mit Zugriff auf die Bankkonten eingesetzt.
- Wenn gar nichts mehr geht: Der umfassende Beistand kommt zum Zug, wenn jemand keinen Aspekt des Alltags mehr eigenständig bewältigen kann, etwa aufgrund fortgeschrittener Demenz. Die Massnahme ist extrem selten, in Zürich wurde sie in den letzten fünf Jahren nur drei Mal angeordnet.
Grundsätzlich folgt die Kesb bei ihrer Arbeit einem Kaskadeprinzip: Es wird eine milde Massnahme verordnet, bevor eine einschneidendere folgt.
So läuft es auch bei Sandra: Dort sind die Eltern einverstanden mit der Hilfe beim Umsetzen des väterlichen Besuchsrechts. Einen Beistand, der sich in die Erziehung einmischt, wollen sie aber nicht. Die Mutter legt sich ins Zeug, packt die schulischen Probleme ihrer Tochter an. Und so folgt die Kesb am Ende ihrem Wunsch.
«Die meisten wollen nicht, dass wir eingreifen. Sie wollen es selber können. Und dazu wollen wir die Leute auch befähigen», sagt Claudia Breitenstein von der Zürcher Kesb.
Immer aber klappe es nicht einvernehmlich, auch wenn sie es noch so sehr versuche. Erst kürzlich hat Breitenstein das selbst erlebt.
Ein Rentner wird plötzlich zum Dieb
Herr Peterhans ist frisch pensioniert, ein Mann in stabilen Verhältnissen, der aber seit 30 Jahren wegen einer bipolaren Störung in Behandlung ist. Er beginnt sich seltsam zu verhalten, Tochter und Partnerin vermuten eine manische Phase. Aber Herr Peterhans will nichts davon wissen. Die gestohlenen Pakete der Nachbarn? «Keine Ahnung, wie die zu mir gekommen sind.» Das Pensionskassenguthaben, das er plötzlich abheben will? Er wolle halt mal «auf den Putz hauen».
Zunächst lehnt die Kesb ein Eingreifen ab. Dann aber spitzt sich die Lage zu. Nächtelang verschwindet Herr Peterhans, gerät in eine Schlägerei, landet im Spital. Er hebt täglich hohe Geldbeträge ab und beglückt Wildfremde mit teuren Geschenken. Als Breitenstein ihn zu Hause besucht, versichert er, es gebe kein Problem. Einen Beistand? «Alles Mumpitz, ich brauche nichts.»
Die Kesb sieht das nach langem Hin und Her anders. Sie verordnet ihm Hilfe bei der Verwaltung von Einkommen und Vermögen. Dagegen geht der Mann nun gerichtlich vor.
Das ist selten. Nur 1,5 Prozent der Stadtzürcher Kesb-Entscheide werden angefochten. Gutgeheissen werden die Beschwerden etwa jedes sechste Mal.
Im Verfahren selbst haben die Betroffenen klare Rechte: Sie müssen angehört werden, sie erhalten Akteneinsicht. Und: Sie dürfen erfahren, wer sie bei der Kesb gemeldet hat. Man gehe zwar auch anonymen Meldungen nach, sagt der Kesb-Präsident Allgäuer. Aber allein aufgrund anonymer Hinweise würde kein Verfahren eröffnet.
Laut der Kesb-Mitarbeiterin Breitenstein sind Anschwärzungsversuche via Kesb-Meldung selten. «Aber es gibt sie.»
Läuft einmal ein Verfahren, gilt absolute Vertraulichkeit. Anders als am Strafgericht sind Kesb-Verhandlungen und Beschlüsse geheim. Unter Umständen erfährt nicht einmal die Person, die eine Gefährdung gemeldet hat, was damit passiert ist.
«Betroffene wollen oft, dass niemand informiert wird, nicht einmal nahe Angehörige», sagt Kesb-Präsident Allgäuer. «Das müssen wir respektieren.»
Ein Alkoholiker kommt davon
Entsprechend selten werden Kesb-Fälle öffentlich. Die Beispiele in diesem Text sind zwar alle echt, wurden jedoch von der Stadtzürcher Kesb zwecks Anonymisierung verfremdet. Dass die Behörde diesen Einblick überhaupt gewährt, hat viel mit dem medialen Druck zu tun, der nach der Einführung des Kesb-Systems entstand.
Einzelne «Skandalfälle» prägten damals das Bild der Behörde – mit Folgen bis heute. Der Alltag der Kesb ist freilich weit weniger spektakulär. Wie die Statistik aus der Stadt Zürich zeigt, ist die Anzahl Kesb-Massnahmen seit der Einführung der Behörde stabil. Pro 10 000 Einwohner in der jeweiligen Altersklasse sind jährlich etwa 60 Kinder und 15 Erwachsene davon betroffen.
Nicht enthalten sind in diesen Zahlen 290 minderjährige unbegleitete Asylsuchende, für die die städtische Kesb aufgrund einer Praxisänderung des Kantons neu zuständig ist. Und es fehlen auch all jene Fälle, bei denen es trotz umfangreichen Abklärungen nicht zu einem Eingreifen gekommen ist.
Fälle wie jener von Herrn Steiner, dem Geschäftsmann, der wegen einer Alkoholsucht sein bisheriges Leben verloren hat. Der Stress bei der Arbeit sei es gewesen, der ihn zum Trinken gebracht habe, sagt er bei seiner Kesb-Anhörung. Da hat er das Schlimmste schon hinter sich: Saufen bis zur Bewusstlosigkeit, jeden Tag. Polizeieinsatz, Spitalaufenthalt.
Dieser wird zum Wendepunkt. Herr Steiner findet dank der Unterstützung einer psychiatrischen Spitex wieder Halt. Er lässt sich behandeln, nimmt Kontakt zu alten Freunden auf und hat langsam auch seine Rechnungen wieder im Griff. Die waren zuvor derart durcheinander, dass ihm eine Kürzung der Sozialhilfe drohte.
Angesichts dieser Verbesserungen will Herr Steiner keinen Beistand. Und die Kesb lässt sich überzeugen, trotz entgegengesetzter Empfehlung des stadtärztlichen Diensts.
«Wir müssen den Leuten immer auf Augenhöhe begegnen», sagt Breitenstein. «Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir glauben, es besser zu wissen als die Betroffenen.» Denn sie wüssten über ihr Leben in der Regel immer noch am besten Bescheid.