Montag, November 25

Für die meisten Gesundheitsprobleme gibt es Medikamente. Bei Kurzsichtigkeit sind es Atropin-Augentropfen. Wirksamer ist aber das, was schon Grossmütter mussten. Ein Beitrag aus der Rubrik «Hauptsache, gesund».

Die Wissenschaft braucht manchmal eine ganze Reihe von hochkarätigen Studien, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die für die Generationen vor uns Alltagswissen waren. Das ist zwar etwas überspitzt formuliert, aber nicht ganz falsch. Meine Grossmutter etwa mahnte mich immer, als ich noch im Grundschulalter war: «Lies nicht bei schwachem Licht, sonst verdirbst du dir die Augen!» Und: «Iss viele Karotten und spiel draussen – das ist gut für deine Augen!»

Es war vergebens. Als Einzelkind spielte ich selten unter freiem Himmel und las viel. Das mochte zwar den kindlichen Horizont erweitern und mich von fernen Weltgegenden träumen lassen. Es hatte aber auch eine andere Folge: Im Teenageralter bekam ich die erste Brille, und heute bin ich mit minus 8 Dioptrien auf dem schlechteren Auge stark kurzsichtig.

Damit bin ich nicht allein. Augenärzte sprechen schon länger von einer «Pandemie der Kurzsichtigkeit». Vor allem in Südostasien sind bis zu 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen myop, wie der Fachausdruck heisst. Im Jahr 2050 wird nach Schätzungen die Hälfte der Menschheit kurzsichtig sein – also alles, was etwas weiter entfernt ist, ohne Brille oder Kontaktlinsen unscharf sehen. Wobei Myopie nicht nur ein Problem der Brechkraft ist. Bei starker Ausprägung wird sie heute als Krankheit gewertet, da betroffene Personen relativ häufig Netzhautablösungen und andere Komplikationen erleiden.

Zu den Ursachen der Kurzsichtigkeit zählt man neben der Vererbung vor allem die intensive «Naharbeit», die junge Menschen heute verrichten – sei dies durch Schulaufgaben oder die in der Freizeit dominierenden elektronischen Geräte.

Zu den Ansätzen, Kinder und Jugendliche vor einer schweren Kurzsichtigkeit zu schützen, gehört daher die Reduktion von Tätigkeiten mit Nahfixation. Das ist angesichts heutiger Bildungsanforderungen gerade in den ehrgeizigen Gesellschaften Asiens wenig realistisch. Eine weitere Möglichkeit, die Kurzsichtigkeit bei Kindern einzudämmen, ist die Gabe von niedrig dosierten Atropin-Augentropfen.

Aus Asien werden damit eindrückliche Erfolge berichtet. Eine erste grössere Studie mit europäischen Kindern führte allerdings nach zwei Jahren täglichen Tropfens nur zu einer geringen Abbremsung der Kurzsichtigkeit. Wirksamer ist eine andere Massnahme. So sinkt bei Kindern die Notwendigkeit, immer stärkere Brillengläser zu tragen mit der Anzahl Stunden, die sie unter freiem Himmel, also draussen, verbringen.

Dieser Effekt ist offenbar sogar stärker als die genetische Veranlagung, wie eine Studie zeigt: Chinesischstämmige Kinder in Sydney verbrachten gemäss der Erhebung im Schnitt gut 13 Stunden täglich unter freiem Himmel, chinesischstämmige Kinder in Singapur dagegen nur gut 3 Stunden. Wie sich zeigte, lag der Anteil der kurzsichtigen Kinder im australischen Kollektiv bei gut 3 Prozent, in Singapur dagegen bei knapp 30 Prozent.

Aus China wird berichtet, dass neue Schulgebäude mit Glasdächern ausgestattet werden, um den Kindern mehr Sonnenlicht zu ermöglichen. Und wo es praktikabel ist, wird der Unterricht ins Freie verlegt. Zwei Stunden draussen werden heute als prophylaktische Massnahme empfohlen. Genauso wie es mir meine Grossmutter vor Jahrzehnten schon geraten hat.

In der wöchentlichen Rubrik «Hauptsache, gesund» werfen die Autorinnen und Autoren einen persönlichen Blick auf Themen aus Medizin, Gesundheit, Ernährung und Fitness. Bereits erschienene Texte finden sich hier.

Folgen Sie der Wissenschaftsredaktion der NZZ auf X (ehemals Twitter).

Exit mobile version