Freitag, Oktober 18

Vor sechs Jahren fasste Indranil Banik einen Entschluss. Anhand von Doppelsternen wollte er einen schlagenden Beweis für eine alternative Theorie der Gravitation finden. Doch dann kam alles ganz anders.

Der Astrophysiker Indranil Banik steht noch am Anfang seiner Karriere. Und dennoch hat er sich in Fachkreisen bereits einen Namen gemacht. Bis vor kurzem galt der 32-jährige Forscher als vehementer Unterstützer der modifizierten newtonschen Dynamik, kurz MOND. Dabei handelt es sich um eine alternative Theorie der Gravitation, die das Universum ohne Dunkle Materie zu beschreiben versucht.

Kürzlich hat Banik allerdings die Seiten gewechselt. «Die MOND-Alternative zur Dunklen Materie ist falsch», lautet die Überschrift eines von ihm verfassten Artikels. Diese Kehrtwende ist bemerkenswert. Seit Jahren befehden sich die Anhänger der MOND-Theorie und die Verfechter der Dunklen Materie, ohne sich auch nur einen Schritt näher zu kommen. Dass jemand komplett seine Meinung ändert, ist eine Seltenheit.

Im Universum gibt es einen Mangel an Gravitation

In dem Streit geht es um die Frage, wie stark die Kraft ist, die das Universum zusammenhält. Die traditionelle Antwort geht auf Isaac Newton zurück. Das im Jahr 1687 von ihm formulierte Gravitationsgesetz besagt, dass die Anziehungskraft zwischen zwei Körpern quadratisch mit dem Abstand zwischen ihnen abnimmt. Das Gesetz ist vielfach bestätigt worden. Es beschreibt präzise, wie der Mond um die Erde und die Planeten um die Sonne kreisen.

Auf grösseren Skalen hat das newtonsche Gravitationsgesetz allerdings ein Defizit: Es erzeugt zu wenig Gravitation. Einer der Ersten, denen das auffiel, war der Schweizer Astronom Fritz Zwicky. In den 1930er Jahren erkannte er, dass es zwischen den Galaxien im Coma-Galaxienhaufen einen stärkeren Zusammenhalt gibt, als es deren Masse erwarten lässt. Zwicky postulierte, dass es im Universum neben der leuchtenden Materie der Sterne unsichtbare Materie geben müsse, die für zusätzliche Anziehung sorge.

Ein ähnliches Gravitationsdefizit beobachten Astronomen in Spiralgalaxien wie unserer Milchstrasse. Dort rotieren die äusseren Sterne schneller um das Zentrum der Galaxie als vom newtonschen Gravitationsgesetz vorhergesagt. Auch hier lässt sich die Diskrepanz mit Dunkler Materie erklären, die die Anziehung verstärkt.

Vergebliche Suche nach den Teilchen der Dunklen Materie

Die Dunkle Materie ist ein fester Bestandteil des Standardmodells der Kosmologie. Allerdings kann bis heute niemand sagen, woraus sie besteht. Man vermutet hinter ihr unbekannte Elementarteilchen, die kein Licht absorbieren oder emittieren und sich fast ausschliesslich durch ihre Gravitationskraft bemerkbar machen. Trotz jahrzehntelanger Suche konnte bisher allerdings keines dieser hypothetischen Teilchen nachgewiesen werden. Manche Forscher halten die Dunkle Materie deshalb für ein theoretisches Konstrukt, auf das man verzichten sollte.

Als Alternative propagieren sie eine Theorie der Gravitation, die der israelische Physiker Mordehai Milgrom in den 1980er Jahren ins Spiel gebracht hatte. Nicht zusätzliche unsichtbare Materie lasse die äusseren Sterne in einer Galaxie schneller rotieren, so Milgrom, sondern eine stärkere Anziehung durch die gewöhnliche Materie.

Laut Milgrom kommt diese Modifikation der newtonschen Gravitation erst zum Tragen, wenn die Gravitation sehr schwach wird – also bei grossen Abständen. In diesem MOND-Regime soll die Anziehungskraft nicht mehr quadratisch mit dem Abstand zwischen zwei Körpern abnehmen, sondern nur noch linear. Bei einer Verdoppelung des Abstands wird die Gravitation also nicht um einen Faktor vier schwächer, sondern nur um einen Faktor zwei. Relativ gesehen wird sie also stärker.

Ursprünglich wurde die MOND-Theorie von Milgrom entwickelt, um die Rotationskurven von Spiralgalaxien zu erklären. Inzwischen sind ihre Anhänger aber davon überzeugt, dass sie auch bei kleineren und grösseren Gebilden besser zu astronomischen Beobachtungen passt als die newtonsche Gravitation plus Dunkle Materie. Letztere könne nur durch nachträgliche Anpassungen in Übereinstimmung mit diversen Beobachtungen gebracht werden, hatten Banik und Hongsheng Zhao von der University of Saint Andrews in Schottland noch vor einem Jahr in einem Übersichtsartikel argumentiert.

Ein ultimativer Test mit weit entfernten Doppelsternen

Der Auslöser für den Gesinnungswandel von Banik sind Doppelsterne, die sich in grossem Abstand umkreisen. Diese Objekte eignen sich besonders gut, um die MOND-Theorie zu überprüfen. Zum einen fallen sie ins MOND-Regime, wenn der Abstand zwischen den Sternen mehrere tausend Mal so gross ist wie der zwischen Sonne und Erde. Wie Berechnungen zeigen, sollten sich die beiden Sterne 20 Prozent schneller umkreisen, als es die newtonsche Gravitationstheorie erwarten lässt. Zum anderen lässt sich diese Diskrepanz nicht mit Dunkler Materie wegerklären. Denn diese sollte theoretisch so dünn gesät sein, dass sie keinen nennenswerten Einfluss auf die Bewegung der beiden Sterne hat.

Als er begonnen habe, sich mit den weiten Doppelsternen zu beschäftigen, sei er davon überzeugt gewesen, eine stichhaltige Bestätigung für die MOND-Theorie zu finden, sagt Banik. Doch es kam anders.

Banik und seine Mitautoren durchforsteten einen Katalog von weiten Doppelsternen in der Milchstrasse, den Astronomen mit dem europäischen Gaia-Teleskop erstellt hatten. Bei der Auswahl der weiten Doppelsterne sei man sehr restriktiv vorgegangen, erklärt Banik. Bei der statistischen Analyse der Relativgeschwindigkeiten seien nur Doppelsterne berücksichtigt worden, die strikte Qualitätskriterien erfüllten, sagt Banik.

Das Ergebnis der Analyse war für Banik und seine Mitautoren ein kleiner Schock. Es widerlegte die MOND-Theorie mit überwältigender Signifikanz. Das sei im Umkehrschluss zwar kein Beweis für die Existenz der Dunklen Materie, so Banik. Mit Sicherheit könne man aber sagen, dass die MOND-Theorie nicht die richtige Alternative zur Dunklen Materie sei. Er sei da in der Vergangenheit zu optimistisch gewesen, räumt Banik selbstkritisch ein.

Die gleichen Daten führen zu widersprüchlichen Resultaten

Kann man die MOND-Theorie damit vergessen? Noch nicht ganz. Denn auch andere Forscher haben in den letzten Monaten die Gaia-Daten ausgewertet. Das Ergebnis ist verstörend. Sowohl Chae Kyu-Hyun von der Sejong University in Südkorea als auch Xavier Hernandez von der Universidad Nacional Autonoma de México kommen unabhängig voneinander zu dem Schluss, dass die Bewegung der weiten Doppelsterne nicht gegen, sondern für die MOND-Theorie spricht. Damit steht Aussage gegen Aussage.

Wie dieser Widerspruch aufzulösen ist, ist derzeit noch offen. Banik und seine Mitautoren argumentieren, Chae sei bei der Auswahl der Doppelsterne nicht restriktiv genug gewesen. Er habe die Unsicherheit in den Geschwindigkeiten nicht richtig abgeschätzt. Tue man das, verschwinde das vermeintliche MOND-Signal in seinen Daten. Banik vermutet, ein ähnlicher Fehler könnte auch das Ergebnis von Hernandez beeinflusst haben.

Die Kritisierten lassen das allerdings nicht auf sich sitzen. In einer noch nicht begutachteten Arbeit werfen sie Banik und seinen Mitautoren eine inkonsistente statistische Analyse vor. Ausserdem hätten die Autoren es versäumt, Doppelsterne in ihrer Analyse zu berücksichtigen, die nicht so weit voneinander entfernt seien und deshalb in das newtonsche Regime fallen würden. Das sei für eine korrekte Kalibrierung der Daten notwendig.

Der Streit macht auch Experten ratlos, die sich seit Jahren mit der MOND-Theorie beschäftigen. So bekennt Stacy McGaugh von der Case Western Reserve University in Cleveland auf seinem Blog «Triton Station», die Situation bereite ihm Gänsehaut. Jeder erwarte von ihm, dass er sich zu diesem heissen Eisen äussere. Dazu sei er gegenwärtig aber nicht in der Lage.

Pavel Kroupa von der Universität Bonn, der wie McGaugh ein Vertreter der MOND-Theorie ist, glaubt nicht, dass sich der Widerspruch schnell auflösen lässt. Im Prinzip brauche es nun ein unabhängiges Team, das sich die widersprüchlichen Analysen unbefangen anschaue. Bis dahin sieht Kroupa keine Veranlassung, von der MOND-Theorie abzurücken. Es gebe einfach zu viele Beobachtungen, die sich mit dieser Theorie besser beschreiben liessen als mit Dunkler Materie.

In diesem Punkt widerspricht Banik seinen ehemaligen Weggefährten. Für ihn ist die MOND-Theorie keine ernstzunehmende Alternative zur Dunklen Materie mehr. Das hält ihn nicht davon ab, nach anderen Alternativen zu suchen. Er verweist auf riesige Gebilde im Universum wie den El-Gordo-Galaxienhaufen. Mit Dunkler Materie alleine lasse sich kaum erklären, wie dieser so schnell so gross habe werden können. Banik ist deshalb überzeugt, dass es eine umfassende Theorie der Gravitation geben muss, die auf sehr grossen Skalen zum Tragen kommt. Zumindest in diesem Punkt ist sich Banik treu geblieben.

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