Till Hornung, CEO der grössten Schweizer Rehaklinik-Gruppe, sagt, was die Schweiz bei der Integration von Patienten in den Alltag besser macht als Deutschland.
Herr Hornung, haben Sie den «Zauberberg» gelesen?
Ich habe das Mammutwerk tatsächlich einmal ganz durchgelesen. Als CEO einer Schweizer Reha-Gruppe ist das fast ein Muss.
Wie viel vom Roman von Thomas Mann steckt heute noch in den Kliniken Valens?
Auch im heutigen Klinikalltag spielt die frische Luft, die abseits des Trubels der Grossstadt zur Heilung beitragen soll, noch eine gewisse Rolle. Wichtig ist auch, dass man sich hier auf die Rehabilitation konzentrieren kann, die einen befähigt, die Krankheit zu überwinden.
Was ist anders geworden?
Alles andere. Die von Mann beschriebenen Tuberkulosekuren absolvierten die Kranken vor allem im Liegen. Die Kuren dauerten lange, und es war unklar, wie sie ausgehen würden. Heute bewegen wir die Patientinnen und Patienten aktiv. Ausserdem steht am Anfang jeder Rehabilitation ein klares Ziel. Die Menschen sollen wieder fit werden für den Alltag. Natürlich spielen auch das gute Essen und der viele Alkohol, wie bei Mann schon fast zelebriert, überhaupt nicht mehr diese Rolle.
Dann könnte man eigentlich die Rehakliniken schliessen, die an abgelegenen Orten wie Valens, Davos oder Crans-Montana stehen.
Wenn man die Kliniklandschaft auf dem Reissbrett neu planen würde, wäre das für viele Standorte wohl so. Doch es gibt nach wie vor Patienten, die von der Abgeschiedenheit dieser Orte sehr profitieren, wenn sie eine Rehabilitation machen. Insgesamt geht der Trend jedoch dahin, dass neue Reha-Plätze in der Nähe von Akutspitälern oder sogar direkt darin entstehen. Unsere Klinikgruppe reagiert darauf mit Diversifikation. Wir bieten an unseren verschiedenen Standorten jeweils ein anderes Profil von Therapien an.
Was verändert sich mit dem Heranrücken an die Akutspitäler?
Die Zeiten, in denen die Patienten von zu Hause mit dem Köfferchen in die Reha kamen, sind weitgehend vorbei. Das hat sich in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren radikal geändert. Über 80 Prozent der Betroffenen kommen direkt aus dem Spital in unsere Kliniken. Diese Menschen sind nicht fertig behandelt, sondern setzen ihre Genesung bei uns fort.
In den Akutspitälern geht der Trend hin zu immer mehr ambulanten Behandlungen. Was heisst das für die Reha?
Das ist eine gute Nachricht für alle Patientinnen und Patienten. Sie müssen auch bei schwereren, komplexeren Erkrankungen nicht mehr lange im Spital liegen. Dasselbe gilt auch für die Reha. Auch wir können viele Patienten mit ambulanten Konzepten betreuen. Somit haben wir immer weniger Patienten, die nur eine geringe Betreuung benötigen. Die stationäre Reha konzentriert sich also immer stärker auf schwer betroffene Personen. Diese leiden unter einer oder häufig sogar unter mehreren chronischen Erkrankungen. Dadurch steigt der Pflegeaufwand. Es braucht hierfür ein noch besseres Verständnis von Therapie und eine höhere Spezialisierung.
Wird die Reha dadurch teurer? Schon 2022 trug sie gemäss Auswertungen von Santésuisse überdurchschnittlich viel zum Kostenanstieg im Gesundheitswesen bei.
Die Reha-Kosten steigen pro Tag nicht überdurchschnittlich stark an. Hingegen ist es so, dass der Bedarf an Leistungen zunimmt. Dies zeigt sich in der Anzahl der Patientinnen und Patienten sowie bei der Anzahl der Pflegetage. Dank der Festsetzung von Standards sowie dem Einsatz von Robotik und künstlicher Intelligenz können wir die Kosten pro einzelnem Pflegetag langfristig wahrscheinlich sogar senken. Der Bedarf und damit die Gesamtkosten werden jedoch weiter zunehmen.
Um Kosten zu sparen, haben verschiedene Schweizer Krankenversicherer in der Vergangenheit Verträge mit Rehakliniken in Süddeutschland abgeschlossen.
Natürlich ist ein Tag in der stationären Reha in Deutschland billiger als in der Schweiz. Als die ersten dieser Verträge abgeschlossen wurden, wollten die Krankenkassen wohl in erster Linie das Kostenbewusstsein ihrer Versicherten stärken. Doch man hat relativ schnell gemerkt, wie sehr sich die Ansätze im Reha-Bereich in Deutschland und in der Schweiz unterscheiden.
Worin liegen diese Unterschiede?
In Deutschland fallen viele schwerer betroffene Patienten nach der akut-stationären Behandlung in ein Loch, weil es dort keine Anschlusslösung gibt. In Deutschland und noch stärker in Österreich müssen die Patienten sehr selbständig sein, um überhaupt in die stationäre Rehabilitation kommen zu dürfen. In der Schweiz betreuen wir solche Patienten ambulant. Schwer Betroffenen ermöglichen es unsere pflegerisch-therapeutischen Massnahmen, sich wieder zurück in den Alltag zu kämpfen. Ich habe in allen drei Ländern gearbeitet und halte den schweizerischen Ansatz für die wirksamste und vor allem sinnvollste Form der Leistungserbringung.
Durch diesen Ansatz gibt es immer neue Angebote. Wird dadurch nicht künstlich ein neuer Bedarf geschaffen?
Nein, aber es kommt zu einer Spezialisierung, was durchaus sinnvoll ist. So ist zum Beispiel die onkologische Rehabilitation vergleichsweise jung. Wir haben erfreulicherweise immer mehr Menschen, die nach einer Krebsbehandlung überleben. Die meisten von ihnen sind jedoch nicht gesund, sondern nach der Krebsbehandlung zu chronischen Patienten geworden. Die Reha hierfür ist hochspezifisch. Ein bisschen Fango, ein bisschen Tango – diese Zeiten sind vorbei.
Der Konkurrenzkampf unter den Kliniken wird härter. So haben die Kliniken Valens mit den Zürcher Reha-Zentren fusioniert.
Der Markt ist in der Schweiz relativ klein. Nur 5 Prozent aller Spitäler in der Schweiz sind Rehabilitationskliniken. Als Vertreter einer nachhaltigen Medizin kämpfen wir nicht mit den Ellenbogen, sondern haben ein gutes Verhältnis zu den anderen Anbietern. Es gibt keinen starken Wettbewerb um die Patienten, wie man dies im Akutbereich in manchen Regionen beobachten kann. Doch der Markt wird sich aufgrund der Spezialisierung verändern. Es wird Gewinner und Verlierer geben. Wir versuchen darauf zu reagieren und sind deshalb innerhalb relativ kurzer Zeit zu einem recht grossen Anbieter geworden.
Doch die Kantone kämpfen um ihre Reha-Angebote. So streitet Zürich mit dem Thurgau und dem Aargau darüber, ob Kliniken in die Spitalliste aufgenommen werden sollen.
Wir beobachten tatsächlich, dass sich dieser Konkurrenzkampf unter den Kantonen in den vergangenen Jahren verschärft hat. Der Kanton Zürich ist ein gutes Beispiel dafür. Zürich braucht gemäss den Prognosen in den kommenden Jahren aufgrund des Bevölkerungswachstums bis zu 1400 Reha-Plätze. Davon liegen heute nur 300 im Kanton, und nur die allerwenigsten liegen nahe bei den Spitälern und in den Städten. Wenn die Zürcher Gesundheitsdirektion diese Plätze in den Kanton und nahe an die Akutspitäler holen will, ist dies sehr sinnvoll. Doch gerät Zürich damit in den Clinch mit traditionellen Reha-Kantonen, die ihr bestehendes Angebot natürlich behalten wollen.
Welche Folgen hat dieser Konkurrenzkampf?
Wir als Klinikbetreiber bedauern diese Entwicklung. Es wäre sehr zu begrüssen, wenn sich die Kantone in grösseren Versorgungsregionen zusammenschliessen würden. Aufgrund des zunehmenden Bedarfs wäre es möglich, dass sich Kliniken an peripheren Standorten auf bestimmte Therapien spezialisieren und dadurch ihre Existenzberechtigung behalten. Zusätzlich würden neue Angebote direkt an Akutspitälern oder in ihrem Umfeld entstehen.
Sie verfolgen mit Ihrer Klinikgruppe genau diesen Kurs.
Wir eröffnen in diesen Tagen am Kantonsspital St. Gallen ein spitalnahes Reha-Zentrum mit rund vierzig Betten. Hier sollen die Patienten in den ersten fünf bis zehn Tagen stabilisiert werden und dann zur weiterführenden Reha in auswärtige Kliniken überwiesen werden. Das ist sinnvoll, denn dann müssen nicht an allen Standorten alle Leistungen vorgehalten werden. Dadurch entsteht eine abgestufte Versorgung.
Zu einer abgestuften Versorgung gehört auch, dass immer mehr Leute direkt nach dem Spitalaufenthalt oder nach einer ersten Reha zu Hause betreut werden.
Das Schlimmste ist, wenn sich der Patient in der stationären und der ambulanten Reha sehr anstrengt und dann zu Hause nichts mehr macht. In solchen Fällen ist die Gefahr gross, dass der Krankheitskreislauf bald wieder von vorne beginnt. Die richtigen Bewegungs- und Trainingskonzepte sowie die richtige Ernährung sind grosse Hebel, um dies zu verhindern. Wenn es uns gelingt, die Menschen zu motivieren, auch zu Hause bestimmte Übungen zu machen und ganz generell besser zu sich zu schauen, erzielen wir viel nachhaltigere Erfolge. Man redet in diesem Zusammenhang von «care at home».
Doch wie stellt man sicher, dass der Patient auch tatsächlich seine Übungen macht und beim Essen nicht über die Stränge schlägt?
Wir können natürlich nicht jeden Patienten zu Hause durch Ärzte und Pflegende begleiten lassen. Dafür haben wir schlicht das Personal nicht, und es wäre auch völlig ineffizient. Im psychischen Bereich gibt es Patienten, die man zu Hause besuchen muss, um besser zu verstehen, was sie krank macht. In allen anderen Bereichen gilt es die Leistung nach Hause zu bringen. Wir versuchen das mit Tele-Rehabilitation. Dabei wird der Patient mit einer Mischung aus digitalem Tool und täglichem Kontakt motiviert und begleitet. Der «Zauberberg» kommt gewissermassen nach Hause.
Das Ganze steckt aber offenbar noch in den Kinderschuhen.
Das ist bedauerlicherweise so. Momentan gibt es dafür kaum finanzielle Unterstützung, so dass wir dieses Projekt auf eigene Kosten lanciert haben. Doch das Thema kommt. Auch Patienten erkundigen sich nach solchen Therapieleistungen. Andere Länder sind in dieser Beziehung bereits weiter. So ist Singapur ein Pionier der Tele-Rehabilitation. Dies, weil sich der Stadtstaat schon viel früher als wir mit dem Thema der älter werdenden Bevölkerung auseinandersetzen musste. Auch Estland ist bei der digitalen Medizin schon recht weit fortgeschritten.
Experte für Rehabilitation
ase. Der 52-jährige Mediziner Till Hornung ist seit 2014 CEO der Kliniken Valens. Die Kliniken Valens, die 2023 mit den Zürcher Reha-Zentren fusionierten, sind mit acht stationären und drei ambulanten Standorten, rund 800 Betten und 2000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der grösste Rehabilitationsanbieter der Schweiz. Hornung ist seit 2001 als Berater im Gesundheitswesen tätig. Vor seiner Tätigkeit in der Schweiz war er Geschäftsführer eines mittelgrossen Krankenhauses in Deutschland. Anschliessend war er bei der Vorarlberger Krankenhaus-Betriebsgesellschaft in Österreich tätig.