Emma Stone spielt eine Frau, die das Gehirn eines Kindes eingepflanzt bekommt. Und jede Scham verliert.
Sexkomödie ist das falsche Wort. Das klingt schmuddelig. Vom Griechen Yorgos Lanthimos («The Favourite», «The Lobster») gibt es keinen Schund, sondern formvollendete Filmkunst. Aber es ist schon so: Lanthimos’ «Poor Things» ist eine Komödie mit bemerkenswert viel Sex. Und das gibt es nicht oft: dass die Amerikaner, deren Kino sich traditionell am Gewaltakt weniger stört als am Geschlechtsakt, einen so unverschämten Film feiern. «Poor Things» ist ein heisser Oscar-Kandidat.
Der Film ist doppelt phänomenal: Er ist phänomenal anzuschauen, und es wird eine phänomenologische Fantasy-Geschichte erzählt. Emma Stone spielt Bella Baxter, eine junge Frau in viktorianischen Zeiten, die nur staunen kann. Sie staunt über alles wie ein kleines Mädchen. Was sie im Grunde auch ist: Bella ist eine erwachsene Frau mit einem Kleinkind im Kopf.
Klingt verrückt? Ist noch viel verrückter: Bella ist Mutter und gleichzeitig ihr eigenes Baby. Bitte? Ja, das kommt so: Schwanger, aber offenbar todunglücklich, stürzt sich die Frau von der Brücke. Aus dem Flussbett geangelt, wird sie von einem verrückten Wissenschafter reanimiert. Indem er nämlich der Unglückseligen das Hirn ihres Ungeborenen einsetzt.
Das geht. Doch nun müssen sich Körper und Kopf erst wieder adjustieren. «Her mental age and her body are not quite synchronized», erklärt lakonisch dieser Doktor Frankenstein, der Godwin Baxter (Willem Dafoe) heisst und nichts dagegen einzuwenden hat, «God» genannt zu werden. Seine bildschöne Kreatur tauft er Bella.
In der Trotzphase
Bella Baxter bewegt sich, als hätte sie gerade erst laufen gelernt. Die Körperkontrolle hat sie noch nicht recht heraus, ein Pipi kann immer passieren. Im feudalen Anwesen das Porzellan zu zerdeppern, macht ihr grossen Spass. Skeptisch nuckelt sie an einem fetten Stück Räucherhering. Was nicht schmeckt, bleibt nicht im Mund. In einem Wort: Sie ist in der Trotzphase. Sie «täubelet». Max McCandless (Ramy Youssef), Gods neuer Assistent, findet sie hinreissend: «What a beautiful retard.»
Die Aufgabe des Medizinstudenten ist es, die Entwicklung der «zurückgebliebenen» Schönheit zu dokumentieren. Das verlangt einen kühlen Kopf. Denn Bella kennt keine Scham mehr. Beim Frühstück kommt sie auf die Idee, sich eine Frucht zwischen die Beine zu schieben; damit hat sie ihre Sexualität entdeckt. Glücklich sein, wann immer man will, nennt sie das: «Bella discover happy when she want!», ruft sie ekstatisch aus. Die Syntax mag rudimentär sein, ihr Wortschatz ist durchaus gewählt. «Lass uns unsere Genitalien berühren», schlägt sie Max McCandless vor.
Das würde der nie tun. Er ist ein Gentleman. Ganz im Gegensatz zum Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo), diesem dick pomadisierten Schwerenöter, der sich an Bella heranschmeisst. «Bella want look at world», sagt sie. Während God und Max sie von allem abzuschirmen versuchen, lockt Duncan Wedderburn damit, ihr die weite Welt zu zeigen. Und als die beiden bei der erstbesten Gelegenheit im Bett landen, leuchtet der Film, der zuvor schwarz-weiss war, plötzlich in den poppigsten Farben.
Gnadenlos wilder Mix
Die Welt in «Poor Things» präsentiert sich in einer retro-futuristischen Steampunk-Ästhetik. Lanthimos’ Bühnenbildner haben hinreissend surreale Stadtlandschaften entworfen. Das Kostümdesign (Holly Waddington) wirbelt mit gigantischen Puffärmeln, theatralischen Rüschen oder bauchfreien Tops gnadenlos die Epochen durcheinander. Alles ist ein wilder Mix. In Godwin Baxters Anwesen tummeln sich auch abstruse Hybridkreaturen, zum Beispiel gibt es eine Bulldogge, die zur Hälfte eine Gans ist. Der Entenvogel bildet den Rumpf, der Rest ist Hund.
Die Mischwesen sind der Stolz des übergeschnappten Arztes. Und Ausdruck der Spielfreude eines Regisseurs, der seiner Phantasie freien Lauf lässt. Aber das irrwitzige Szenenbild ist nicht bloss L’art pour l’art, sondern inhaltlich schlüssig: Mithilfe der wundersamen Darstellung der Umgebung veranschaulicht Lanthimos Bellas staunenden Blick. Auch der Kameramann Robbie Ryan akzentuiert durch den gelegentlichen Einsatz einer Irisblende, die das Bild kreisrund ausschneidet, mit Fischaugenobjektiven und exzessiven Kamerafahrten die Orientierungslosigkeit der Figur. Alles ist ihr neu, grelle Farbtöne vermitteln die freudige Aufregung der jungen Frau, als sie mit Duncan Wedderburn die Welt bereist.
Auf jeder Station der Reise entwickelt sich Bella weiter. Sie lernt, was das Leben ausmacht, wie die Welt funktioniert. Anfangs ist es ein feuchtfröhliches Abenteuer. «Furious jumping», wie Bella Sex nennt, dominiert den ersten Stopp in Portugal. Pasteis de Nata stehen bei ihr ausserdem hoch im Kurs. Aber es gibt kein Süss ohne Bitter, das wird ihr bald klar. Erst das Vergnügen, dann der Fado: So erlebt sie Lissabon. Immer nur im Bett herumturnen, das geht auch nicht. Ernüchtert stellt Bella fest, dass die Männer schnell schlappmachen. «Ist es ein physiognomisches Problem?», fragt sie Duncan Wedderburn, als der komplett ausgelaugt auf dem Laken liegt.
Geistige Akrobatik
Wie alle grosse Kunst macht «Poor Things» die Dinge nicht komplizierter, als sie sind. Bella Baxters Selbstfindung führt über die naheliegenden Schritte: Nach dem Matratzensport entdeckt das Menschenkind die geistige Akrobatik. Auf einer Schiffsfahrt nach Alexandria macht Bella die Bekanntschaft eines illustren Gespanns, eines Zynikers (Jerrod Carmichael) und einer Frauenrechtlerin (Hanna Schygulla). Bald wälzt Bella deren Gedanken in ihrem auch so schon verwirrten Kopf.
Verkopft macht das den Film nicht. Man kann Lanthimos gut folgen. Philosophisch passiert hier nichts wesentlich Komplexeres als etwa in «Barbie». Bloss, dass statt einer quasi asexuellen Puppe eine sexpositive Gestalt zu Selbstbewusstsein findet. Bella ist eine entschieden nichtjugendfreie «Barbie». Im Unterschied zu deren Regisseurin Greta Gerwig ist Lanthimos deutlich weniger anständig. Und «Poor Things» wirkt dadurch auch weniger marktgerecht kalkuliert als der antipatriarchale Mattel-Sommerhit.
Der Film, basierend auf dem gleichnamigen Roman des Schotten Alasdair Gray, ist im Kern ein emanzipatorischer Klassiker: Eine Frau strampelt sich frei von den männlichen Klammeraffen. In der radikalen Unbekümmertheit, in der sie das tut, entwickelt der Film seine Komik. Die Kerle bekommen Bella nicht zu fassen. Vor allem nicht der Frauenheld Duncan Wedderburn, von Mark Ruffalo grandios als verdrossener Fatzke verkörpert: Wie ihn Bellas Unbändigkeit zusehends den Verstand kostet, hat grössten Unterhaltungswert.
Wo eine Schöne, da ist auch ein Biest. Willem Dafoe trumpft auf als der «mad scientist» Godwin Baxter. Sein Körper ist völlig zerschunden, was er seinem Vater verdankt. Der verstand sich auch als ein Gott im Chirurgenkittel – und war noch viel ruchloser: Groteske Experimente im Namen der Wissenschaft hat er an seinem Jungen durchexerziert. Fette Narben übersähen nun dessen Gesicht. Er sieht aus, als wäre ihm die Haut in grossen Stücken behelfsmässig an Wangen und Stirn getackert worden. Ein so stupendes Maskenbild muss man erst einmal hinbekommen.
Auch Emma Stone ist ein Ereignis. Comedy kann sie, das ist klar. Aber wie die Oscarpreisträgerin («La La Land») neben formidablen Slapstick-Einlagen den Entwicklungsprozess ihrer Figur vorantreibt, ist mirakulös. Beim Sprechen macht sie filigran Fortschritte, auch ihre Bewegungen werden im Lauf des Films fast unmerklich flüssiger. Der sukzessiven geistigen und körperlichen Entfaltung zuzuschauen, ist so vergnüglich wie faszinierend. Einer gewitzteren Gestalt ist man im Kino schon länger nicht begegnet. Bella Baxter mag etwas am Kopf haben, der Film wächst ans Herz.