Sonntag, November 16

Eine Rekonstruktion der mutmasslichen Sabotage in der Ostsee.

War es Sabotage? Oder doch ein Unfall? Seit Montag rätselt ganz Europa über die Beschädigung zweier Datenkabel in der Ostsee. Am Sonntagmorgen kurz vor 9 Uhr bricht zuerst die Verbindung zwischen Litauen und Schweden ab. Nur 20 Stunden später ist die Leitung zwischen Finnland und Deutschland tot. Politikerinnen und Experten sind sich schnell einig: Ein Zufall ist das nicht.

Nun verdichten sich die Hinweise, dass ein chinesischer Frachter etwas mit den beschädigten Kabeln zu tun haben könnte. Die «Yi Peng 3» war just zu der Zeit vor der schwedischen Küste unterwegs, als die Kabel beschädigt wurden. Hatte das Schiff einen geheimen Auftrag? Eine Rekonstruktion.


Die Route

Am 15. November verlässt der chinesische Massengutfrachter «Yi Peng 3» den russischen Ostseehafen Ust-Luga. Über das Ziel kursieren in den Medien verschiedene Informationen, am häufigsten genannt wird Port Said, Ägypten. Die Fahrt des Schiffes lässt sich über Marinetraffic, einen Anbieter für die Analyse maritimer Daten, rekonstruieren. Laut Marinetraffic ist die Destination bei der Abfahrt unbekannt.

Am Sonntag, 17. November, zwischen 1 Uhr 30 (UTC) und 11 Uhr 19 passiert das Schiff die schwedische Insel Gotland. Dabei überquert es ein Datenkabel, das Schweden mit Litauen verbindet. Gegen 10 Uhr geht beim litauischen Telekomanbieter Telia in Vilnius eine Störungsmeldung ein. Die Verbindung zwischen Sventoji, Litauen, und Gotland, Schweden, ist abgebrochen.

Die «Yi Peng 3» setzt derweil ihre Fahrt Richtung Süden fort. Nach Gotland stellt der Frachter für 7,5 Stunden das AIS-Signal ab. AIS ist die Abkürzung von Automatic Identification System, und es dient dazu, Schiffe zu lokalisieren. Frachtern wie der «Yi Peng 3» ist es untersagt, das AIS abzustellen. Als sie um 22 Uhr 41 wieder auf der Anzeige von Marinetraffic auftaucht, befindet sie sich südlich der schwedischen Insel Öland.

Drei Stunden später, um 2 Uhr (UTC) am Montag, 18. November, schlagen die Systeme beim finnischen Netzwerkanbieter Cinia Alarm. Der Datenverkehr über das Kabel C-Lion1, das Helsinki mit Rostock verbindet, ist unterbrochen. Schnell ist klar, dass das Kabel zwischen Gotland und Öland beschädigt wurde – in dem Bereich also, wo die «Yi Peng 3» ohne AIS-Signal unterwegs war.

War das alles ein Zufall? C-Lion1 verläuft unter einer stark frequentierten Schiffsroute. Doch etwas lässt die Behörden in Bezug auf den chinesischen Frachter misstrauisch werden. Am Montagabend nimmt die dänische Marine die Verfolgung der «Yi Peng 3» auf. Vier Patrouillenboote wechseln sich seither ab.

Seit Dienstag ist der Frachter im Kattegat. Das dänische Verteidigungsministerium hat inzwischen bestätigt, dass die Marine die «Yi Peng 3» verfolgt. Es wollte aber bisher keine Stellung dazu nehmen, ob die Behörden den Frachter angehalten haben oder ob Oslo mit Peking Kontakt aufgenommen hat. Laut Marinetraffic hat ein dänischer Lotse das Schiff am Dienstag um 7 Uhr 53 betreten.

Die genaue Lage der «Yi Peng 3» ist für den weiteren Verlauf entscheidend. Das dänische Hoheitsgewässer erstreckt sich zwölf Seemeilen von der Küste zum offenen Meer. Nur innerhalb dieser Grenze hat Dänemark die volle Gerichtsbarkeit. Die «Yi Peng 3» befindet sich genau an der Grenze zu den dänischen Gewässern.


Das Schiff

Journalisten der dänischen Zeitung «Jyllands Posten» konnten am Donnerstag mit dem Kapitän des Schiffes sprechen. Laut ihm wartet das Schiff auf Anweisungen der Eigentümer. Diese wurden laut der «Financial Times» von den chinesischen Behörden angewiesen, bei den Ermittlungen zu helfen.

Die «Yi Peng 3» gehört der chinesischen Firma Ningbo Yipeng Shipping Co. Ltd. mit Sitz in der ostchinesischen Hafenstadt Ningbo. Bei den Eigentümern handelt es sich um zwei chinesische Geschäftsmänner, über die nur wenig bekannt ist.

Neben der «Yi Peng 3» gehören dem Unternehmen zwei weitere Frachtschiffe. Massengutfrachter wie die «Yi Peng 3» transportieren lose Güter wie Erz, Kohle oder Getreide. Laut Kpler, einer Plattform für globale Handelsinformationen, transportiert die «Yi Peng 3» derzeit Düngemittel. Die 22-köpfige Besatzung des Schiffes soll laut verschiedenen Medienberichten chinesisch sein.

Die «Yi Peng 3» legte in der Vergangenheit in Murmansk an der Barentssee und in Taman am Schwarzen Meer an. Beide Häfen sind für Russlands Streitkräfte von strategischer Bedeutung. Laut Marinetraffic hat das Schiff mindestens sieben Mal russische Kraftwerkskohle und Kohle aus Murmansk und Nachodka transportiert. Es steht aber auf keiner Sanktionsliste.

Dass ein chinesisches Schiff an russischen Häfen anlegt, ist nicht weiter verdächtig. Insbesondere seit der Westen Sanktionen gegen Russland verhängt hat, haben Frachter aus Drittstaaten einen grossen Teil des russischen Güterverkehrs übernommen. Das grösste Exportgut Russlands für Ägypten, wohin die «Yi Peng 3» womöglich unterwegs war, ist Weizen. Es gibt aber noch eine andere Verbindung zu Russland.


Der Russe

Als die «Yi Peng 3» den Hafen von Ust-Luga verliess, soll der russische Lotse Alexander Stetschenzew des Unternehmens LLC Albatros an Bord gewesen sein, berichten verschiedene Medien. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ortskundige Lotsen ausländischen Schiffen beim Manövrieren durch die seichte Ostsee helfen. Das Verdächtige daran: Albatros gehört gemäss dem Unternehmensregister Russland zur Hälfte einer Tochtergesellschaft der staatlichen russischen Atombehörde Rosatom, Rosatomport.

Rosatomport – das offiziell «Föderales Staatliches Hydrografisches Unternehmen» heisst – hat sich auf die Vermessung der unterseeischen Topografie spezialisiert. Das Unternehmen kennt sich also mit dem Meeresgrund und der darauf verlaufenden kritischen Infrastruktur aus. Weiter bietet Rosatomport verschiedene Dienstleistungen im Bereich der Navigation an.

Stetschenzew hat den Frachter am 15. November aus dem Hafen von Ust-Luga gelotst und wahrscheinlich noch am selben Tag wieder verlassen. Gemäss dem Hafenprotokoll von Ust-Luga, das die NZZ eingesehen hat, befand er sich um 14 Uhr 40 an Bord der «Yi Peng 3», um 15 Uhr 06 lotste er bereits einen Öltanker in den Hafen. Ob er, Albatros oder Rosatomport etwas mit den beschädigten Kabeln zu tun haben, ist daher fraglich – unmöglich ist es nicht.


Die Geopolitik

Die beiden Kabel wurden nicht durch seismische Ereignisse oder unterseeische Bergstürze zerstört. Auch andere natürliche Ursachen scheinen unwahrscheinlich. Die Kabel verbinden Nato-Staaten an der Grenze zu Russland mit der restlichen Allianz. Als am Montag bekanntwurde, dass sie auf ähnliche Art zerstört wurden, kam sofort ein Verdacht auf. Er richtete sich gegen den Kreml.

Die mutmassliche Sabotage geschah etwa zeitgleich mit dem Entscheid des amerikanischen Präsidenten Joe Biden, der Ukraine den Einsatz von Waffen gegen Ziele im Innern Russlands zu erlauben. Der Kreml versucht zudem schon länger, mit verschiedenen zwielichtigen Aktionen für Unsicherheit in Nordeuropa zu sorgen.

Dass ein chinesisches Schiff im Fokus der Ermittlungen steht, scheint auf den ersten Blick keinen Sinn zu ergeben. Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass ein chinesischer Frachter wegen Sabotage an kritischer Infrastruktur in der Ostsee verdächtigt wird. Im Oktober 2023 wurde die Gaspipeline Balticconnector, die zwischen Finnland und Estland verläuft, vom Anker des chinesischen Frachtschiffs «Newnew Polar Bear» zerstört.

Auch damals richtete sich ein erster Verdacht gegen Russland. Auch damals legte das chinesische Schiff an einem russischen Hafen an. Und noch etwas anderes könnten die beiden Fälle gemeinsam haben: Die dänische Sendeanstalt DR berichtete am Donnerstagabend, dass der Anker der «Yi Peng 3» beschädigt sein soll – ein Indiz dafür, dass der Frachter die Kabel zerstört haben könnte. Offizielle Informationen dazu fehlen bis jetzt. Die Ermittlungen werden von Schweden geleitet. Am Freitag lag die «Yi Peng 3» weiterhin im Kattegat.

Mitarbeit: Jessica Eberhart

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