Vier von fünf Deutschen glauben, Desinformation sei ein grosses Problem. Christian Hoffmann hält dagegen: Ihre Wirkung werde massiv überschätzt. Die intensive Berichterstattung über das Phänomen sei schädlicher als die Desinformation selbst.
Herr Hoffmann, am Sonntag wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Wie beeinflusst Desinformation aus Russland die Wahl?
Der Einfluss von russischer Desinformation im deutschen Wahlkampf ist verschwindend klein. Natürlich gibt es Wähler, die sich hingezogen fühlen zu prorussischem Gedankengut. Sie suchen sich Informationsangebote, die ihre Sicht auf die Welt bestätigen. Das heisst aber nicht, dass sich solche Inhalte in der durchschnittlichen Bevölkerung weit verbreiten. Wer Plattformen wie Tiktok oder Instagram beschuldigt, Stimmbürgern russische Propaganda einzutrichtern, macht es sich zu einfach.
Trotzdem glauben vier von fünf Deutschen, Falschinformation im Internet stelle ein grosses oder sogar ein sehr grosses Problem für unsere Gesellschaft dar. Ist das gerechtfertigt?
Nein. In den Tiefen des Internets gab es schon immer Unmengen an Verschwörungstheorien und anderem Unwissen. Umso wichtiger ist es, dass wir erforschen, was bei den Menschen wirklich ankommt. Aus amerikanischen Tracking-Studien wissen wir, dass weniger als ein Prozent des durchschnittlichen Medienkonsums aus Fake News besteht. Diese tiefe Zahl erstaunt viele.
Zur Person
Christian Pieter Hoffmann
Hoffmann ist Professor für Kommunikationsmanagement, er forscht an der Universität Leipzig unter anderem zu den Themen Partizipation und politische Diskurse. Er lehrt zudem an der Zürcher Hochschule für Wirtschaft.
Wer im Wahlkampf durch soziale Plattformen scrollt, bekommt einen anderen Eindruck.
In den sozialen Netzwerken gibt es mehr Desinformation als auf anderen News-Kanälen. Aber soziale Netzwerke funktionieren nach der Logik: Zeige dem Nutzer mehr von dem, was er sehen will. Wer also russische Propaganda auf Tiktok oder Instagram sucht, wird sie finden. Es gibt aber keine wissenschaftliche Evidenz dafür, dass Desinformation aus den sozialen Netzwerken den Wahlentscheid von Stimmbürgern verändert hätte.
Wie meinen Sie das?
Wir wissen aus der Persuasionsforschung, dass sehr viel Arbeit nötig ist, um jemanden politisch umzustimmen. Die Wissenschaft unterscheidet bei den Effekten von Desinformation drei Ebenen: Veränderungen beim Wissen, bei den politischen Einstellungen und bei den Handlungen, also den Wahlentscheiden. Dass Desinformation das Wissen von Menschen beeinflussen kann, ist gut nachweisbar. Dass Wähler aber ihre politische Grundhaltung ändern wegen Desinformation, dafür gibt es aus der Forschung keine Hinweise. Auf der dritten Ebene, also bei den Wahlentscheiden, finden wir keine statistisch signifikanten Effekte von Desinformation.
Der Fakt, dass wir mit wissenschaftlichen Methoden keine Wahlbeeinflussung feststellen können, heisst nicht zwingend, dass es keine gibt.
Die Abwesenheit von etwas zu beweisen, ist bekanntlich schwierig. Daher muss die Frage umgekehrt lauten: Was ist die Evidenz dafür, dass es eine Wahlbeeinflussung gibt? Der Witz ist ja: Wir wissen aus der Medien- und auch Werbewirkungsforschung, dass solche Überzeugungseffekte in aller Regel sehr klein sind. Die Beweislast liegt angesichts des Forschungsstandes also bei jenen, die nun behaupten, es gebe starke Effekte.
Wie erklären Sie sich den Unterschied zwischen der echten und der wahrgenommenen Gefahr, die von Desinformation und ausländischer Einflussnahme ausgeht?
Seit dem Brexit und der ersten Wahl Donald Trumps beobachten Politiker, Medien und Wissenschafter genau, wie sich ausländische Akteure in nationale Debatten einmischen. Tatsächlich wissen wir aber, dass die Desinformationskampagnen in den allermeisten Fällen eine überschaubare direkte Reichweite hatten. Die ständige Berichterstattung über Desinformation in den etablierten Medien hat aber dazu geführt, dass sich die Menschen vor Desinformation fürchten. Wäre ich Stratege in Moskau, würde ich reihenweise die Korken knallen lassen, dass mir das gelungen ist.
Wie sollten wir also mit Desinformation umgehen?
Wir sollten den Forschungsstand anerkennen: Es gibt bis jetzt keine Evidenz für Effekte von politisch motivierter Desinformation auf Wahlentscheide. Das würde zu einer grossen Beruhigung beitragen.
Experten für hybride Kriegsführung sagen, Desinformation sei nur ein Teil der russischen Strategie im Westen. Sie sei langfristig darauf ausgelegt, die Gesellschaft zu spalten.
Ja, Russland hat es geschafft, im Westen Angst vor Desinformation zu schüren. Wir starren wie Kaninchen auf die Schlange und befürchten, Russland gelinge es, Mehrheiten zu kippen und unser Land zu destabilisieren.
Profitiert die AfD von dieser Angst?
Nein. Die AfD und auch das BSW haben Zulauf, weil viele Wähler mit ihren Positionen sympathisieren. Schon als der Krieg in der Ukraine losging, waren um die 30 Prozent der Menschen in Deutschland der Meinung, wir sollten uns nicht einmischen. Gerade in Ostdeutschland gibt es viele Leute, die skeptisch sind gegenüber der Nato oder der EU. Die AfD und das BSW beackern nun dieses Wählerpotenzial.
Aber die russische Propaganda stützt die Positionen der AfD, und die AfD befeuert Ängste bei ihren Wählern.
Es gibt viele Erklärungen für den Erfolg der AfD. Dazu gehören die politische Grosswetterlage, viel Medienberichterstattung über Gewaltverbrechen von Ausländern in der heissen Phase des Wahlkampfs, aber auch inhaltliche Verschiebungen innerhalb der etablierten Parteien. Desinformation ist wie ein kleiner Ast, der in ein brennendes Feuer geworfen wird: Klar treibt er das Feuer ein bisschen an, aber gelodert hat es schon vorher.
Wenn Desinformation gar nichts nützt, warum betreibt Russland den Aufwand für Troll-Farmen und Kampagnen zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in Deutschland?
Der russische Glaube an die Wirkung von Desinformation stammt aus der Sowjetzeit. Desinformation ist aber auch nicht wirkungslos, sonst würden wir dieses Interview hier nicht führen.
Wie wirkt sich die Angst von deutschen Stimmbürgern vor ausländischer Einflussnahme politisch aus?
Glauben Stimmbürger, die Wahlen seien aus dem Ausland beeinflusst, zerstört dies ihr Vertrauen in unsere Demokratie. Diese indirekten Effekte von Desinformation sind meines Erachtens wesentlich gefährlicher als die Desinformation selbst. Sie delegitimieren unsere Institutionen.
Wie können wir das aufhalten?
Auch hier gilt «follow the science». Der öffentliche Diskurs nimmt die internationale Forschung der vergangenen Jahre zu wenig wahr. In der Forschung werden die Wirkungsmodelle immer differenzierter und komplexer – in der Öffentlichkeit besteht dagegen immer noch der Mythos von starken direkten Desinformationseffekten.
Künstliche Intelligenz (KI) hat es einfacher gemacht, Desinformation zu produzieren. Beispielsweise zirkulierte ein gefälschtes Video von Friedrich Merz. Was ändert KI an Ihrer Einschätzung der Desinformation?
Ich erwarte keine starken Veränderungen. KI-generierte Inhalte werden zunehmend Bestandteil von Wahlkampagnen. Die Absicht dahinter muss nicht immer Desinformation sein. Viele Deepfakes sind Satire oder dienen der Illustration. Allerdings macht KI Desinformation potenziell gefährlicher. Dies insbesondere, falls etablierte Medien auf Fakes hereinfallen.
Inwiefern?
Wenn Medien mit ihrer Reichweite und ihrer Glaubwürdigkeit gefälschte Inhalte verbreiten, dann erreicht die Desinformation tatsächlich viele Leute. So wird sie wirkungsvoller. «Wirkungsvoller» heisst aber nicht gleich «eine Gefahr für die Demokratie». Der Journalismus korrigiert seine Fehler, und auch einzelne Berichte beeinflussen nicht direkt Wahlabsichten.
Aus den USA sind Fälle bekannt, wo russische Agenturen amerikanische Influencer bezahlten. Damit erhält die Desinformation eine grössere Reichweite. Sehen Sie das als Gefahr?
Nein. Die Influencer waren vorher schon eher prorussisch eingestellt und sehr erfolgreich. Sie haben ihre Reichweite nicht wegen der Unterstützung aus Russland gesteigert.
Aber die Influencer haben vermutlich Inhalte übernommen, die die russische Agentur ihnen vorgeschlagen hat.
Das konnte aber nur in sehr wenigen Fällen nachgewiesen werden. Ausserdem war diese Art der direkten Manipulation selbst innerhalb der aus Russland finanzierten Influencer-Agentur umstritten.
Kann man daraus schliessen, dass russisch inspirierte Influencer kein Problem sind?
Influencer sind ein zunehmend wichtiges Element unseres Informationssystems. Sie positionieren sich häufig in Abgrenzung zu massenmedialen Diskursen. Das ist sicher relevant. Sofern es hier einen russischen Einfluss gibt, ist dieser aber sehr indirekt.
Frankreich und Schweden haben spezialisierte Agenturen zur Überwachung von Desinformation geschaffen. Braucht es das auch in Deutschland?
Für die Exekutive ist es wichtig zu wissen, ob es Einflussversuche aus dem Ausland gibt. Aber öffentliche Warnungen vor Desinformation sind politisch heikel. Etablierte Regierungsparteien könnten versucht sein, ihre Gegner als Desinformanten hinzustellen. Wenn man eine solche Agentur schafft, muss man sicher sein, dass sie nicht politisch missbraucht wird.
Rumänien lässt die Präsidentschaftswahl wiederholen, weil russische Desinformation die Wahl beeinflusst habe. Wie stehen Sie zu dem Entscheid?
Es hat mich sehr gewundert, dass die europäische Gemeinschaft die Annullierung der Wahl einfach so hingenommen hat. Ich habe sehr grosse Zweifel daran, dass Desinformation auf Tiktok eine Mehrheit in einer Präsidentschaftswahl kippen konnte. Der Fall zeigt aber, wie gefährlich die Angst vor Desinformation ist. Sie rüttelt an den Grundfesten der westlichen Demokratie.
Manche Beobachter sagen, die Wahl von Donald Trump und der Sturm aufs Capitol waren eine Auswirkung von Desinformation.
Die durch Donald Trump und seine Unterstützer in etablierten Medien verbreitete Desinformation hat sicher diese Menschen dazu motiviert, das Capitol zu stürmen. Hier reden wir aber von Lügen eines Präsidenten und Journalismus, nicht von russischen Bots auf Facebook.
Der Mueller-Report fand eine umfassende und systematische russische Einflussnahme.
Es lohnt sich, den Bericht genau zu lesen. Erstens bezieht er sich auf die Wahl Trumps 2016, nicht 2020. Zweitens zeigt er eine letztlich finanziell sehr überschaubare russische Kampagne. Und inhaltlich war diese Kampagne durchaus diffus, sie unterstützte nicht einfach nur Donald Trump. In den Medien wurde das leider oft sehr reisserisch dargestellt. Desinformation ist also keineswegs nur ein Problem der Social Media.