Freitag, Oktober 18

Die Fussball-Rivalität zwischen England und Deutschland ist legendär – sie hat sich stets vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges abgespielt. Doch gegenüber Thomas Tuchel sind die Engländer erstaunlich gnädig.

Rivalen sind sie wie keine anderen: die deutsche und die englische Fussballnationalmannschaft. Eine historisch gewachsene Konkurrenz, gehegt und gepflegt seit Jahrzehnten. Keine andere Fussballnation hat England in den vergangenen Jahrzehnten mehr Niederlagen bereitet als Deutschland. Man könnte also meinen: Was liegt näher, als einen Deutschen als Nationaltrainer zu verpflichten, um vom alten Gegner zu lernen?

Tuchel ist nicht der erste Ausländer

Nur ist das deutsch-englische Verhältnis eben eine ganz besondere Rivalität. Denn es ist nicht so, dass Thomas Tuchel der erste Ausländer wäre, der die englische Auswahl coacht. Als der Schwede Sven-Göran Eriksson die «Three Lions» 2001 übernahm, galt dies im Mutterland des Fussballs als ein Tabubruch. Auch das Engagement des italienischen Erfolgstrainers Fabio Capello wurde nicht nur wohlwollend betrachtet.

Aber ein Deutscher? Das hat noch einmal eine andere Dimension, und die ist eben nicht nur rein fussballerischer Natur. Wann immer die beiden Mannschaften aufeinandertreffen, werden ihre Auseinandersetzungen vor einer historischen Folie geführt. Noch heute wird bei direkten Duellen von einigen englischen Fans das Lied von den «Ten German Bombers» angestimmt, die einer nach dem anderen vom Himmel geholt werden – ein direkter Bezug auf den Luftkampf der Royal Air Force gegen das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg.

Der «Guardian» fragte nun ironisch, ob Tuchel dieses englische Lied etwa mitsingen werde. Die Anspielung sollte laut dem Blatt unterstreichen, wie «unmöglich seltsam» sich seine neue Tätigkeit aufgrund der historischen Komponente ausnehme. Die Boulevardzeitung «Mail» befand, dass Tuchels Unterschrift gar ein «dunkler Tag für England» sei.

Die Wahl Tuchels veranschaulicht aber vor allem, dass das so stolze Fussball-Mutterland über keinen geeigneten Trainer für diesen prestigeträchtigen Posten verfügt – ein Umstand, der englische Fussballtraditionalisten durchaus kränken kann. Gleichwohl verweisen solche Titelzeilen auf die Besonderheit dieser Rivalität, auf die Schärfe, auf die Polemik. Dass diese zumeist vom englischen Boulevard hineingetragen wurde, verwundert nicht. Denn die Engländer waren meist die Verlierer.

Ihren einzigen grossen Titel errangen sie 1966 im Wembley-Stadion an der Weltmeisterschaft gegen die Deutschen – das Wembley-Tor ist seitdem eine feste Wendung: ein Ball, der auf und nicht hinter der Linie aufkam und die Deutschen in der Verlängerung in Rückstand brachte. Das Foto vom deutschen Stürmer Uwe Seeler, der mit hängendem Kopf, eskortiert von einem Polizisten, vom Feld geht, wurde zum Symbol für die Niederlage der Deutschen.

Der Boulevard trieb seine Spässe mit den Deutschen

Es war allerdings ein teurer Triumph. Denn die Deutschen wurden in der Folge zu einer unüberwindlichen Hürde bei Turnieren. Vier Jahre später revanchierte sich der Senior Seeler mit einem Treffer per Hinterkopf gegen England im WM-Viertelfinal. Die «Three Lions» flogen genauso raus wie an der EM 1972, als die Deutschen erstmals in Wembley gewannen. Auch ihre Neurose im Elfmeterschiessen offenbarten sie erstmals 1990 im WM-Halbfinal gegen die Deutschen. Und sechs Jahre später im EM-Halbfinal scheiterten sie in Wembley erneut an Deutschland – wiederum im Penaltyschiessen.

Damals druckte das Boulevardblatt «Sun» ein Titelbild, das selbst von manchen englischen Fans als Affront empfunden wurde: Paul Gascoigne und Stuart Pearce wurden mit englischen Stahlhelmen des Zweiten Weltkrieges auf dem Titelbild abgebildet. Die Zeile lautete: «Achtung! Surrender» Der grosse Bobby Charlton, der Captain der Mannschaft, die 1966 Weltmeister wurde, kommentierte das Titelbild des Boulevards: «Ich schäme mich.»

Hemmungen, sich antideutscher Ressentiments zu bedienen, hatten die englischen Tabloids ohnehin nicht, wie etwas später auch der deutsche Finanzminister Oscar Lafontaine erfahren musste: «Is this the most dangerous man in Europe?», fragte die «Sun» – und druckte ein auch für Lafontaines Verhältnisse unvorteilhaftes Bild ab. Sieht so etwa der gefährlichste Mann Europas aus?

Auch Trainer Southgate bediente Klischees

Bloss waren es so gut wie nie die Spieler, die sich aufputschen liessen. Die Duelle der beiden Auswahlen waren fast durchweg faire Angelegenheiten, einzig der als so kultiviert geltende Trainer Gareth Southgate sah sich 2021 bemüssigt, auf den Weltkrieg hinzuweisen.

Doch selbst, als den Engländern himmelschreiendes Unrecht widerfuhr, blieben die Fussballer Sportsmänner durch und durch: 2010, an der Weltmeisterschaft in Südafrika, wiederholte sich nämlich die Geschichte von 1966 – aus englischer Sicht als Farce, aus deutscher als Komödie.

Frank Lampard traf aus der Distanz die Unterseite des Aluminiums, der Ball sprang deutlich ersichtlich hinter der Torlinie auf. Womöglich verhinderte der ausgefahrene «Reklamierarm» des damals noch jugendlich wirkenden Torhüters Manuel Neuer die Anerkennung des Treffers. England wurde in diesem Match regelrecht deklassiert von einem jungen deutschen Team, das vier Jahre später die Weltmeisterschaft gewann.

Selbst die «Sun» ist Tuchel gnädig gestimmt

Thomas Tuchel hat jedenfalls nicht auf ablehnende Titelzeilen reagiert, die bloss zeigen, dass die Ressentiments manchenorts noch immer vorhanden sind. Der Empfang für ihn ist ein eher freundlicher. Daran hat Tuchel mit seiner guten Arbeit im Chelsea FC und seinem souveränen Auftreten selbst mitgewirkt; der «Independent» etwa nimmt ihn, wie auch viele Fans, als «Anglophilen» wahr, der nicht nur den englischen Fussball, sondern auch die Kultur der Insel schätze.

Und so betont Tuchel auch gerne seine «persönliche Verbundenheit» zu England, er ist gewissermassen ein Botschafter in eigener Sache. Noch mehr allerdings profitiert der neue Nationaltrainer von der Vorarbeit seines deutschen Kollegen: Jürgen Klopp hatte während fast neun Jahren in Liverpool nicht nur den Klub und seine Anhängerschaft, sondern fast ganz England für sich eingenommen.

Tuchels Start wird also mit Wohlwollen quittiert. Schliesslich ist er auch der Notwendigkeit geschuldet. Denn Tuchel ist so etwas wie Englands letzte Hoffnung, die seit 1966 andauernde Titellosigkeit zu beenden. Die ehedem so bissige «Sun» hiess Tuchel mit einer deutschsprachigen Titelseite willkommen: «Fussball kommt nach Hause!» Es ist die Übersetzung des Titels der englischen Fussball-Hymne «Football’s coming home», die für die EM 1996 komponiert wurde. Den Pokal nahmen damals allerdings die Deutschen mit.

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