Donnerstag, Juli 4

Dominic Steinmann

Im Saastal im Oberwallis sind die Folgen des Unwetters vom Wochenende verheerend. Schlamm und Geröll haben Dutzende Häuser beschädigt, zerstört, verwüstet. Und einen Mann getötet. Doch es gibt Hoffnung. Eine Reportage aus dem Krisengebiet.

In Saas-Grund im Oberwallis hört man am Montagvormittag vor allem den Lärm der Bagger. Mit grossen Schaufeln hieven sie Dreck, Schutt, Geröll von einer Stelle zur anderen. Sie schaufeln Hauseingänge frei, befreien Autos und räumen die Hauptstrasse. Die Maschinen sollen wegschaffen, was die Natur am Wochenende angerichtet hat.

Am Samstag und Sonntag kam es im Wallis, im Tessin und in Norditalien zu massiven Unwettern. Wegen des vielen Regens und der grossen Mengen Schmelzwasser konnten die Böden kein Wasser mehr aufnehmen, viele Gebiete waren überschwemmt. Das Wallis war besonders stark betroffen. Schutt und Geröll zerstörten Strassen, Häuser, Brücken. Im Goms, in Chippis, in Zermatt. Der «Walliser Bote» schrieb: «Das schwarze Wochenende».

In Gemeinde Saas-Grund im Saastal hat das Unwetter schier unfassbaren Schaden angerichtet. Einheimische erzählen an diesem Montag, es hätte alles am Samstag angefangen, sie hätten am Abend noch Fussball-EM geschaut, zuerst das Spiel der Schweiz gegen Italien, später Deutschland gegen Dänemark. Dann sei es plötzlich sehr, sehr laut geworden.

Um zirka elf Uhr trat der Triftbach über die Ufer, und bald riss er Bäume mit, Gestein und Schlamm. Unwahrscheinliche Massen an Geröll und Dreck bahnten sich innert wenigen Minuten einen Weg, den Hang hinab durch das Triftbach-Quartier im alten Teil des Dorfes. Die Massen begruben Autos unter sich und verwüsteten in aller Dunkelheit zahlreiche Wohnhäuser, Hotels, Pensionen. Beim südlichen Ausgang des Dorfes ging ein Murgang nieder.

Hab und Gut im Schlamm

Im Licht des Montagmorgens sieht man jetzt, wie ungeheuerlich der Schaden in Saas-Grund ist. Der Inhalt von zig Kellern liegt im ganzen Dorf verstreut. Skiausrüstung, Gartenstühle, Kinderwagen. Die Hauptstrasse, die von Visp längs durch Saas-Grund zum Weltkurort Saas-Fee führt, ist auch am Montagvormittag unpassierbar. Ins Tal kommen Touristen und Einheimische vorerst nur zu Fuss.

Besonders schlimm traf es das Saaserheim, das Haus der Familie Zurbriggen. Es liegt nur wenige hundert Meter vom Triftbach entfernt. Erika Zurbriggen, ihre Schwester Bernadette Bolli und deren Ehemann René Bolli stehen im Garten. Oder eher: Sie stehen dort, wo einmal der Garten war. Denn nach diesem Wochenende liegt er begraben unter einer schieren Menge Gestein. Bernadette Zurbriggen sagt: «Es war alles so schön grün hier.» Jetzt ist alles grau-braun.

Die Schwestern Erika Zurbriggen und Bernadette Bolli leben seit Jahrzehnten im Saaserheim. Bis vor zwei Jahren war das Haus eine Pension für Gruppen, es gab einen grossen Speisesaal und zahlreiche Betten. Die letzten zwei Jahre betrieben die Schwestern noch einzelne Ferienwohnungen. Nun ist ein Grossteil dieses grossen Gebäudes zerstört.

Die Schwestern erzählen, sie hätten zuschauen können, wie der gewaltige Bach ins Untergeschoss des Heims geflossen sei und nach und nach ihr Hab und Gut zerstört habe. Sie wachten die ganze Nacht.

Erst am Sonntagabend schafften es die Einsatzkräfte, den Bach umzuleiten. Endlich war das Saaserheim vom Wasser befreit. Was bleibt, ist meterhoher Schlamm, hart wie Beton.

Viele Einheimische erinnern sich noch an das letzte Mal, als sie gegen Wasser und Geröll kämpften. Vor über 30 Jahren, im Oberwalliser Katastrophenjahr 1993, riss der Hauptfluss des Tals, die Vispe, im Dorf Strassenteile, Strommasten und Brücken mit, es kam es zu einer ähnlichen Verwüstung. 90 Häuser und die Zivilschutzanlage wurden geflutet. Die Schäden sollten sich später auf 90 Millionen Franken belaufen. Die Notrufleitungen funktionieren in diesen Tagen lange nicht, und im Dorf fürchtete man sich davor, der grosse Mattmark-Staudamm zuhinterst im Tal könne die Wassermassen nicht mehr tragen. Die Saas-Grunder fühlten sich alleingelassen und vergessen von den Behörden.

Jetzt, an diesem Wochenende Ende Juni, waren viele im Dorf wieder im Schock. So erzählen es die Einheimischen. Was ist passiert? Wie bloss räumen wir das alles auf? Und was geschieht mit den Touristen?

Der Krisenchef

Und mittendrin jener Mann, der Saas-Grund aus diesem Unglück führen soll. Bruno Ruppen, seit 2013 der Gemeindepräsident, im Oberwallis weltberühmt dafür, einer der letzten grossen Dorfkönige zu sein. Am Montagmittag steht Ruppen vor dem Gemeindehaus und telefoniert, zeigt mit den Fingern umher, schüttelt die Hände der Rettungskräfte. Er ist auf Zack. Ruppen weilte in Deutschland in den Ferien, als das Unglück geschah. Als er hörte, was passiert war, reiste er unverzüglich zurück. Am Sonntagmorgen flog er mit den Einsatzkräften ins Dorf.

Seither schwirrt er zwischen Feuerwehr, Zivilschutz, Einheimischen, Schaulustigen und Medienleuten hin und her. Versucht die wichtigsten Fragen zu beantworten. Irgendwie zu informieren, irgendwie zu helfen.

Bruno Ruppen ist ein krisenerprobter Gemeindepräsident. 2018 brach am Triftgletscher oberhalb von Saas-Grund der grösste Teil der Gletscherzunge ab. Im Dorf rechnete man mit 400 000 Kubikmetern hinunterstürzender Masse, ein Teil der Dorfbewohner hatte evakuiert werden müssen. Doch die Eislawine blieb aus, es kam nur die Hälfte. Saas-Grund atmete auf. Zurück blieb ein riesiger Schuttkegel aus Eis und Schnee am Fuss des Gletschers.

Doch diesmal ist alles anders. Es ist ernster. Bruno Ruppen schätzt die Massen, die der Triftbach am Wochenende mitriss, auf 100 000 Kubikmeter. Oder auch: 10 000 Lastwagen voll mit Schlamm und Geröll. Ruppen sagt: «Zuerst dachte ich, diese Massen werden wir nie mehr wieder los.» Den Schaden schätzt er, «mutig», wie er sagt, auf 50 bis 100 Millionen Franken.

Am meisten bedauere man im Dorf aber das Todesopfer, sagt Ruppen. In der Nacht auf Sonntag kam in Saas-Grund ein Hotelgast ums Leben, ein 67-jähriger Mann aus Deutschland. Laut Polizei wollte er im Untergeschoss eines Hotels persönliche Gegenstände holen, als er von den Wassermassen überwältigt wurde.

Gemeindepräsident Ruppen ist bemüht, genügend Hilfe ins Dorf zu holen. Aus der ganzen Region habe man den Zivilschutz gerufen. Und man brauche die Hilfe der Armee. Man benötige mehr Lastwagen, mehr Bagger. Bundespräsidentin Viola Amherd war am Montag unterwegs im Wallis und im Tessin, um Krisengebiete zu besuchen. Auch nach Saas-Grund hätte sie kommen sollen, sagt Ruppen. Doch Amherd sagte kurzfristig ab. Ruppen war ein kleines bisschen enttäuscht: «Hoffen wir, sie schickt dafür umso mehr Hilfe.»

Ruppen und die Saas-Grunder sorgen sich auch um den Tourismus. Ein Grossteil der 1000 Einwohnerinnen und Einwohner lebt davon. Auch am Wochenende waren viele Gäste im Dorf, es ist Sommer, Hauptsaison. Hier kann man wunderbar wandern, biken, bergsteigen, wellnessen. Einige der Touristen verlassen das Dorf am Montag zu Fuss oder mit dem Velo, andere harren aus. Sie müssen.

Jeanine und ihr Mann kamen aus Ermelo, einer holländischen Kleinstadt in der Nähe von Amsterdam. Saas-Grund sollte bloss ein Zwischenstopp sein auf dem Weg nach Italien. Am Sonntag sollte die Fahrt weitergehen. Doch nun steckt ihr Auto im Schlamm. Weiterfahren? Keine Chance. Stundenlang schaufeln sie den Dreck um das Auto frei. Ob der Motor überhaupt noch laufen wird?

Doch dann, am frühen Montagabend, geht auf einmal alles sehr schnell. Kleine, grosse, riesige Bagger fahren im ganzen Dorf hin und her. Überall schaufeln, putzen, krampfen die Leute. Jemand ruft ein paar Schaulustigen zu: «Nehmt euch eine Schaufel und helft mit!»

Innerhalb weniger Stunden verschwinden Schlamm und Dreck von der Hauptstrasse, es gibt eine Durchfahrt. Die Behörden öffnen die Strasse, aber nur von 16 bis 18 Uhr. Hunderte fahren los, im Busbahnhof oben in Saas-Fee gibt es Schlangen. Und in Saas-Grund stauen sich plötzlich die Autos.

Am Dienstagabend soll die Strasse endgültig wieder geöffnet werden. Hier wollen alle so schnell wie möglich zurück zur Normalität. Doch was heisst «Normalität» in einem Dorf, das durch den Klimawandel zunehmend von Umweltkatastrophen bedroht sein wird?

Im Triftbach-Quartier dürfte es laut Gemeindepräsident Bruno Ruppen Wochen, wenn nicht Monate dauern, bis die Hotels und Ferienwohnungen den Betrieb wieder aufnehmen. Im restlichen Dorf sei man in zwei, drei Tagen zurück im Normalbetrieb. Die Bergbahn nach Kreuzboden verkehrte bereits am Montag wieder.

Doch kommen die Leute zurück, nachdem sie die Bilder aus dem Tal gesehen haben?

Der Gemeindepräsident Ruppen weiss, dass man das Dorf künftig besser schützen muss. Man plane, oberhalb des Dorfes einen Schutzdamm zu bauen, damit Geröll und Schlamm bei einem neuen Hochwasser vor dem Dorf abgefangen werden. Doch bis der gebaut ist, dürften Jahre vergehen.

Bis dahin versucht Saas-Grund, durchzuhalten. Einigen gelingt das besser als den anderen. Bernadette Bolli, der einen Schwester vom Saaserheim, ist im grossen Unglück eine kleine Freude geblieben. Ihr Kräutergarten ist, wie durch ein Wunder, zwischen Unmengen Schutt und Gestein, unversehrt geblieben. Sie strahlt.

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