Der Auslöser: Eine der Frauen hatte beim Verlassen der Rolltreppe den Rollkoffer des Mannes gestreift.
«Ist es möglich, dass es noch schlimmer geht, noch härter, noch brutaler, noch menschenverachtender?»
Die Staatsanwältin der spezialisierten Zürcher Staatsanwaltschaft I für schwere Gewaltdelikte erklärt in ihrem Plädoyer, dies sei eine rein rhetorische Frage. Es gehe nicht noch schlimmer. Die Videos der Überwachungskameras «der nicht enden wollenden Szene» vom Sonntagabend, 12. Februar 2023, im Zürcher Hauptbahnhof seien das Schlimmste, was sie in zweieinhalb Jahrzehnten als Staatsanwältin gesehen habe.
An jenem Abend gegen 20 Uhr griff ein alkoholisierter, an Schizophrenie leidender, heute 28-jähriger Eritreer auf dem Perron der Gleise 33/34 zwei ihm völlig unbekannte Frauen an. Gemäss der Anklageschrift war der Auslöser des Gewaltexzesses mutmasslich, dass eine damals 55-jährige Italienerin beim Verlassen der Rolltreppe leicht den Rollkoffer des Beschuldigten gestreift hatte.
Der Eritreer kickte der Frau zunächst gegen die Beine und schlug ihr gezielt die Faust ins Gesicht, wodurch sie zu Boden stürzte und an einer Wand aufschlug. Dort trat er die am Boden kauernde Frau immer wieder mit Anlauf mit seinen schweren Winterstiefeln ins Gesicht. Eine damals 16-jährige Frau eilte der Italienerin zu Hilfe und wurde ebenfalls mit gezielten Fusstritten gegen das Gesicht angegriffen.
Selbst als die Italienerin das Bewusstsein verlor, «stampfte» der direkt neben ihr stehende Beschuldigte gemäss Anklage weiter mit den schweren Stiefeln in das blutende Gesicht. Die Italienerin erlitt zahlreiche schwere Verletzungen, darunter unzählige Knochenbrüche. Bis heute ist sie arbeitsunfähig und in Therapie. Es bestehen weiterhin Asymmetrien im Gesicht, Einschränkungen der Mimik und eine Sehstörung; zwei weitere Operationen sind derzeit geplant.
Die jüngere Frau erlitt unter anderem Blutergüsse, Schürfungen und einen Zahnabbruch. Auch ein dritter Passant, der unverletzt blieb, wurde angegriffen.
Sechs Vorstrafen wegen Gewaltdelikten
Der Beschuldigte, der sich im vorzeitigen Massnahmevollzug in der Sicherheitsabteilung der Klinik Rheinau befindet, gibt im Gerichtssaal alles zu, was auf Video festgehalten ist. Den Grund für seinen Ausraster kenne er aber nicht. Ob ihn etwas gestört oder provoziert habe, will der Gerichtsvorsitzende wissen. Daran könne er sich nicht erinnern, er wisse nur, dass er die Frau angegriffen habe, übersetzt die Tigrinya-Dolmetscherin. Der einzige Grund dafür sei, dass er Alkohol getrunken habe. Er sei krank. Er habe es aufgrund seiner Krankheit gemacht.
Der Richter hält ihm vor, dass die Videoaufnahmen einen mehrphasigen Ablauf zeigten. Der Beschuldigte habe dabei die Übersicht behalten und auch Passanten in Schach gehalten. Es zeige sich ein überlegtes Verhalten. Das sei falsch interpretiert, erklärt der Beschuldigte. Es sei sein Alkoholproblem gewesen. Er entschuldigt sich immer und immer wieder für sein Verhalten.
Der Beschuldigte war im August 2013 als 17-Jähriger in die Schweiz gekommen. Er flüchtete aus Eritrea, weil er nicht ins Militär wollte, und ist anerkannter Flüchtling. Er absolvierte hier eine Lehre als Milchpraktiker, die er 2019 erfolgreich abschloss. Dann habe er angefangen, Alkohol zu trinken. Es gab mehrere mehrwöchige Klinikaufenthalte. Vor der Tat wohnte er im Kanton Thurgau. Seit 2021 arbeitete er nicht mehr und lebte von der Sozialhilfe.
Unter Alkoholeinfluss verliere er die Kontrolle und werde aggressiv, räumt er ein. Der Gerichtsgutachter hat zudem eine schizophrene Störung bei ihm diagnostiziert, die schon seit etwa 2019 bestehen soll. Zwischen 2018 und 2022 handelte sich der Mann bereits sechs Vorstrafen wegen Gewaltdelikten ein, die aber «nicht so erheblich» waren, wie es der Gerichtsvorsitzende ausdrückt.
Die letzte Vorstrafe datiert vom Juni 2022 aus dem Kanton Thurgau. Unter anderem wurde ihm die Weisung erteilt, sich einer ambulanten Therapie zu unterziehen und ein Anti-Agressions-Training zu absolvieren. Am 2. Dezember 2022 wurde er nach Verbüssung einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe vorzeitig aus dem Strafvollzug entlassen.
Gemäss eigenen Angaben reiste er dann mit einem Bruder für einen Monat nach Äthiopien. Seine Mutter sei mit einer Tagesreise aus Eritrea nach Addis Abeba gereist, um sie zu besuchen. Die Staatsanwältin ist allerdings überzeugt, dass die Brüder in Eritrea waren. Die Gewalttat am Zürcher Hauptbahnhof geschah just auf der Rückreise von diesen Ferien. Der Beschuldigte kam in Genf mit dem Flugzeug an, reiste mit der Bahn nach Kreuzlingen. Er habe eine Pause gemacht und in Zürich Alkohol getrunken, erklärt er.
«Ein Wunder, dass die Frau überlebt hat»
Die Staatsanwältin beantragt eine Freiheitsstrafe von 10 Jahren wegen versuchter Tötung, versuchter schwerer Körperverletzung, versuchter einfacher Körperverletzung im Fall des dritten Opfers und Sachbeschädigung. Es sei eine stationäre Massnahme zur Behandlung von psychischen Störungen anzuordnen und die Maximaldauer von 15 Jahren Landesverweis auszusprechen.
Auf 10 Jahre kommt die Anklägerin, weil der Psychiater dem Beschuldigten eine verminderte Schuldfähigkeit im mittleren bis hochgradigen Mass zugebilligt hat, sonst wäre sie bei 16,5 Jahren gelandet. Die eingeschränkte Schuldfähigkeit des Angeklagten habe er selber verschuldet. Er habe gewusst, dass er gewalttätig werde, wenn er trinke. Es grenze überhaupt an ein Wunder, dass das Hauptopfer überlebt habe.
In ihrem Plädoyer kritisiert die Staatsanwältin die thurgauischen Behörden. Der Fall hätte verhindert werden können, wenn diese den Mann «zeitnäher betreut» hätten, wie es im Kanton Zürich üblich sei, behauptet sie. Der Eritreer habe sich der Weisung zur ambulanten Therapie nicht unterzogen.
Für die Verteidigerin greift die Erklärung, die Tat des Beschuldigten nur auf seine Alkoholsucht zurückzuführen, zu kurz. Es sei bei ihm nach der Tat ein Promille-Mittelwert von 1,64 festgestellt worden. Die Ursache für die Gewalttat sei vielmehr die paranoide Schizophrenie.
Eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren sei angemessen. Die Voraussetzungen für die stationäre Massnahme seien erfüllt. Von einem Landesverweis sei abzusehen. In Eritrea würden dem Beschuldigten Folter und eine lebenslängliche Haft drohen.
Das Bezirksgericht Zürich verurteilt den Mann zu den beantragten 10 Jahren Freiheitsstrafe. Die rechtliche Würdigung der Staatsanwältin treffe zu. Wenn man die Videoaufzeichnungen anschaue, sei es überhaupt ein grosses Glück, dass es bei versuchten Taten geblieben sei, sagt der Gerichtsvorsitzende.
Die Frau wäre gestorben, wenn die Sanität nicht rechtzeitig eingetroffen wäre. Bei der objektiven Tatausführung sei sogar die Mordkomponente gegeben, und es müsste rein objektiv 20 von 20 Jahren Freiheitsstrafe geben. Subjektiv fielen aber die doppelte Erkrankung und der Eventualvorsatz erheblich ins Gewicht.
717 Tage Freiheitsentzug hat der Mann bereits abgesessen. Aufgrund des überzeugenden psychiatrischen Gutachtens könne nichts anderes als eine stationäre Massnahme zur Behandlung der paranoiden Schizophrenie und Alkoholabhängigkeit angeordnet werden. Dem Beschuldigten könne man jedoch nicht vorwerfen, er wisse, dass er bei Alkoholkonsum böse werde. Die Sucht sei ja das Wesen seiner Krankheit.
Der Beschuldigte erhält die Maximaldauer der Landesverweisung von 15 Jahren. Zwei Katalogtaten seien erfüllt. Ein Härtefall stehe nicht zur Diskussion. Die Flüchtlingseigenschaft stehe bei solcher Delinquenz einem Landesverweis nicht entgegen. Ob der Landesverweis überhaupt vollstreckbar sei, müsse erst am Ende der Sanktion geprüft werden.
Das Hauptopfer erhält 100 000 Franken Genugtuung, wie es beantragt hat. Die zweite Privatklägerin verlangte 5000 Franken. Auch diese werden so zugesprochen.
Urteil DG240117 vom 29. 1. 2025, noch nicht rechtskräftig.