Montag, Februar 24

Die Stadtpolizei Winterthur setzt als erstes Corps der Schweiz bei Ermittlungen auf einen Super-Recognizer. Mit überraschendem Nutzen.

Ein Unbekannter stiehlt in Winterthur ein Motorrad und fährt damit davon. Der Täter wird geblitzt. Auf dem Schwarz-Weiss-Foto ist wenig zu erkennen: ein Mann, Integralhelm auf dem Kopf, nur die Augenpartie ist sichtbar. Die Ermittler der Winterthurer Stadtpolizei haben wenig Hoffnung, den Täter ausfindig machen zu können. Doch es kommt anders.

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Die Stadtpolizei Winterthur hat seit Januar 2023 einen sogenannten Super-Recognizer in ihrem Korps. Einen Ermittler mit seltener Gabe: Er kann Gesichter extrem gut verarbeiten und wiedererkennen. In Grossbritannien und Deutschland werden solche Spezialisten schon seit einigen Jahren explizit rekrutiert und eingesetzt. In der Schweiz ist besagter Winterthurer Stadtpolizist der Erste, der als Gesichtserkenner eingesetzt wurde. Inzwischen läuft auch im Kanton St. Gallen ein Pilotprojekt mit Super-Recognizern.

Die Kollegen zeigen dem Super-Recognizer die Bilder des fliehenden Töfffahrers. Und nach wenigen Minuten die Überraschung: Der Polizist erkennt den Täter an der Augenpartie. Dessen Gesicht ist ihm von früheren Delikten bekannt.

Die weiteren Ermittlungen ergeben dann: Der Super-Recognizer hat recht. Der Mann, den er auf den Bildern zu erkennen glaubte, ist tatsächlich der Täter.

Es sei einer von zahlreichen Ermittlungserfolgen, die die Winterthurer Stadtpolizei in den vergangenen zwei Jahren mithilfe des Super-Recognizers habe verzeichnen können, sagt der Mediensprecher Michael Wirz. «Wir haben keine Zahlen dazu, aber es waren viele Fahndungserfolge.» Der Super-Recognizer könne in sehr unterschiedlichen Fällen eingesetzt werden.

«Er hat auch schon Personen entlastet, die wir verdächtigt haben», sagt Wirz. Der Super-Recognizer konnte anhand von Fotos ausschliessen, dass es sich bei der verdächtigten Person um dieselbe Person handelte wie auf den Fahndungsbildern. Durch solche Hinweise könne die Polizei Ressourcen schonen. Die Ermittler hätten weniger Aufwand, weil sie weniger Personen vorladen müssten. Und für die zu Unrecht Verdächtigten sei es auch ein Vorteil, denn ihnen blieben der Gang zur Polizei und die Befragung erspart.

Hilfreich sei der Super-Recognizer auch bei Seriendelikten, sagt Wirz. Er könne anhand von Foto- und Videomaterial einen Zusammenhang zwischen Taten schaffen, der sonst unerkannt geblieben wäre. Interessant sei zudem, dass der Super-Recognizer Personen auch dann erkenne, wenn ein Vergleichsbild zwanzig Jahre alt sei. Auch mit stark verpixelten oder unterbelichteten Täterbildern könne er arbeiten.

Doch es sei auch wichtig, zu betonen, dass der Super-Recognizer nicht unfehlbar sei. Nicht immer könne er weiterhelfen und manchmal könne auch er falsch liegen, sagt Wirz. Deshalb wird die Arbeit des Super-Recognizers in Winterthur stets ergänzt durch gewöhnliche Ermittlungsarbeit. Auch als Beweis vor Gericht reiche die Aussage eines Super-Recognizers nicht.

Der Winterthurer Super-Recognizer wurde einst von Lorenz Wyss rekrutiert, dem früheren Abteilungsleiter Fahndung. Dieser hatte sich in seiner Diplomarbeit für die eidgenössische höhere Fachprüfung mit dem Thema auseinandergesetzt. Dabei stiess er auf einen Polizisten, der in einer anderen Gemeinde arbeitete und über die spezielle Begabung verfügte. Wyss holte ihn als Super-Recognizer zur Stadtpolizei Winterthur.

Dass es Super-Recognizer gibt, entdeckten amerikanische Forscher zufällig vor sechzehn Jahren. An der Universität Harvard untersuchten sie die sogenannte Gesichtsblindheit. Dabei handelt es sich um eine neurologische Störung, die es Personen erschwert, andere anhand des Gesichts zu erkennen. Bei den Tests entdeckten die Forscher, dass es nicht nur Personen mit Gesichtsblindheit gibt, sondern auch das Gegenteil: Menschen, die sich Gesichter ausserordentlich gut merken können.

Weitere Studien zeigten, dass etwa 2 Prozent der Bevölkerung über diese besondere Begabung verfügen – also Super-Recognizer sind. Über die genauen Mechanismen im Gehirn ist aber nach wie vor wenig bekannt. Klar ist: Die Fähigkeit lässt sich nur bedingt trainieren.

Derzeit forscht unter anderen das Forensic Psychology Lab der australischen University of New South Wales zu dem Thema. Seit 2017 verwenden die Forscherinnen und Forscher dort einen selbstentwickelten Test, um Super-Recognizer zu identifizieren. Die Mehrheit der Teilnehmer schafft es lediglich, etwa die Hälfte der Gesichter richtig zuzuordnen. Wer mehr als 70 Prozent der Gesichter im Test erkennt, ist für die Wissenschafter interessant. Diese führen dann weitere Tests mit den Probanden durch.

Die Super-Recognizer haben längst Konkurrenz durch künstliche Intelligenz. Gesichtserkennungssoftware kann inzwischen Gesichter genauso gut wiedererkennen wie ein Super-Recognizer. Doch der Einsatz solcher Software ist umstritten. Denn ob es eine ausreichende gesetzliche Grundlage dafür gibt, ist unklar. Das Bundesgericht hielt in einem Entscheid im Oktober 2024 fest, dass es sich bei automatisierter Gesichtserkennung «um einen schweren Grundrechtseingriff» handle, für den es eine gesetzliche Grundlage brauche.

In Winterthur setzt die Polizei deshalb bei der Fahndung weiterhin auf den Menschen statt auf die Maschine. Der Mediensprecher Michael Wirz sagt, eine Software zur Gesichtserkennung werde in Winterthur nicht eingesetzt.

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