Donnerstag, Juli 4

Ende Juni hat sich «Rakitin» geoutet. Seit vergangenem Jahr hatten russische Kriegsgegner unter dem fiktiven Namen billige Kriegslyrik publiziert. In der Duma kamen seine Werke gut an.

Auf dem Profilbild im russischen Facebook-Klon VK lächelt den Leser ein freundlicher Mann in einem härenen Bauernhemd vor einer ländlichen Baumkulisse an. Sein Profil hatte Gennadi Rakitin am 12. Juli 2023 angelegt. Er stellt sich als 49-jähriger verheirateter, orthodoxer Moskauer mit einem universitären Philologiediplom vor. Als «persönliche Priorität» gibt er an, er wolle «die Welt verbessern».

Diese Mission löst er durch die Publikation seiner Lyrik ein. Und so postet er zunächst jede Woche, später jeden Monat patriotische Gedichte, die gefallene Soldaten der «Spezialoperation» als Helden besingen, die russische Heimat preisen und den grossen «Leader» Putin verehren. Damit wird er zu einem Aushängeschild der sogenannten «Poezie», die das russische Siegeszeichen Z in ein literarisches Genre verwandelt.

Bald schart sich eine prominente Fangemeinde um den bisher unbekannten Dichter. 95 Duma-Abgeordnete und 28 Senatoren befinden sich unter Rakitins zweitausend virtuellen Freunden. Auch der nationalistische Filmregisseur Nikita Michalkow repostet auf seinem Telegram-Kanal ein Werk von Rakitin.

Beschämende Niederlage

Was sich wie eine Erfolgsgeschichte für die konservative Kulturpolitik des Kremls liest, ist in Wahrheit eine beschämende Niederlage. Rakitin existiert nicht, sein Profilbild wurde von einer KI generiert – der Bart und der Hals verschwimmen bei genauem Hinsehen ineinander. Und seine patriotische Lyrik beruht auf freien Übersetzungen von Nazi-Machwerken, bei denen «Deutschland» durch «Russland», die «SA» durch «Wagner» und Hitler durch Putin ersetzt wurde.

Das Ende des Fakes kam mit einem Paukenschlag. «Rakitin» outete sich am 28. Juni genau um 12 Uhr selbst als Fake-Poet. Er tat es, indem er sein erstes authentisches Gedicht postete: «Gennadi machte sich lange lustig / Über die Z-Gedichte an der Wand / Am Ende sprayte er hin / ‹Fuck the war›». Bald meldete sich der Investigativjournalist Andrei Sacharow zu Wort und erklärte die Hintergründe.

Sacharow selbst lebt seit 2021 in London, weil er als Investigativjournalist über eine dritte Putintochter berichtet hatte und darauf zum «ausländischen Agenten» erklärt wurde. Einige seiner Freunde hätten «Rakitin» als Kunstfigur erfunden. Sie wollten damit zeigen, dass der gegenwärtige patriotische Diskurs in Russland und die Nazi-Propaganda gegenseitig austauschbar seien.

Was russische Parlamentarier begeistert

Als Beweis veröffentlichte Sacharow auf seinem Telegram-Kanal eine Synopse der Rakitin-Gedichte und der deutschen Originale, die aus den Federn von braunen Reimschmieden stammen. Unter ihnen befinden sich der «Reichsjugendführer» Baldur von Schirach, der «westmärkische Gaukulturwart» Kurt Kölsch oder der Theaterreferent im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Eberhard Wolfgang Möller. Unter Rakitins Stichwortgebern taucht sogar der Aargauer Heinrich Anacker auf, der für eine Karriere in der Reichsschrifttumskammer 1939 auf sein Schweizer Bürgerrecht verzichtete.

Die Rakitin-Episode ist für den Kreml deshalb so peinlich, weil Putin den russischen Überfall auf die Ukraine mit einer angeblich notwendigen «Entnazifizierung» der Kiewer Regierung begründet hatte. Umgekehrt bezeichnet sich das Moskauer Polizeiregime gerne als «antifaschistische Kraft». Das lyrische Rakitin-Experiment zeigt nun in beschämender Deutlichkeit auf, dass man gut ein Fünftel der russischen Parlamentarier mit einem Verschnitt aus hilflosen Nazi-Versen begeistern kann.

Dichter als Kunstfiguren haben in der russischen Literatur Tradition. So schuf ein Autorenkollektiv um Alexei Tolstoi in den 1850er Jahren den beflissenen Staatsdiener Kosma Prutkow, der in Gedichten und Aphorismen unfreiwillig seine eigene Beschränktheit preisgab. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erregte die geheimnisvolle Tscherubina de Gabriak mit ihren Gedichten Aufsehen. Die Mystifikation führte sogar zu einem Duell zwischen zwei Dichtern: dem Erfinder der Kunstfigur, Maximilian Woloschin, und dem jungen Nikolai Gumiljow, der dem Zauber de Gabriaks erlegen war.

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