Die Interkontinentalrakete Sarmat ist der Stolz der russischen Führung. Ob sie wirklich einsatzfähig ist, steht aber infrage.
Die mit Atomsprengköpfen bestückbare Interkontinentalrakete vom Typ Sarmat dient der russischen Führung gerne als vermeintlich unschlagbares Argument für die militärische Überlegenheit der Grossmacht. Als Präsident Wladimir Putin vor bald zwei Wochen den Westen davor warnte, der Ukraine zu erlauben, mit westlichen Langstreckenwaffen Ziele innerhalb Russlands anzugreifen, erinnerte der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin an das russische Atomwaffenarsenal. Die Sarmat erreiche Strassburg in drei Minuten und zwanzig Sekunden, belehrte er die Europäer. Kremltreue Aktivisten parkieren gerne ihr «Sarmat-Mobil», einen alten Lada mit einer Sarmat-Attrape aus Kunststoff auf dem Dach, vor der amerikanischen Botschaft in Moskau.
Noch im Schacht explodiert?
Der Stolz auf die RS-28 Sarmat hat allerdings einen Haken: Die im Jargon der Nato «Satan-II» genannte schwere Langstreckenrakete, die 18 000 Kilometer weit fliegen und mit mehreren, unabhängig voneinander steuerbaren Atomsprengköpfen ausgestattet werden können soll, hat bis heute noch kaum einen Test erfolgreich bestanden. Ob sie so viel taugt, wie ihr russische Funktionäre zuschreiben, ist selbst für regimetreue Experten ein Rätsel. Am Wochenende wurden sie in ihren Befürchtungen einmal mehr bestätigt. Satellitenbilder vom Kosmodrom Plesezk im nordrussischen Gebiet Archangelsk zeigten an dem Ort, wo die Sarmat hätte aufsteigen sollen, ein schwarzes Loch, Verwüstung und die Spuren eines Waldbrandes.
Westliche Beobachter schlossen aus den öffentlich zugänglichen Daten, dass die Rakete wohl noch in der Abschussvorrichtung vorzeitig explodiert sei, womöglich beim Betanken mit flüssigem Treibstoff. Die Sarmat startet von einem festen, im Boden eingelassenen Schacht aus. Von nicht offizieller russischer Seite wurde eine Explosion beim Start in Betracht gezogen. Der erste Fall hätte wohl Opfer unter den Soldaten, die für die Vorbereitung zuständig sind, zur Folge gehabt; im zweiten Fall wäre die unmittelbare Umgebung der Abschussanlage geräumt gewesen. Mit Nuklearsprengköpfen war die Rakete aber nicht ausgestattet.
Eine von Putins «Wunderwaffen»
Von offizieller Seite gab es keinen Kommentar zum mutmasslich fehlgeschlagenen Raketentest. Erst ein einziges Mal, im April 2022, erreichten die mit der Sarmat abgeschossenen Sprengköpfe das gewünschte Ziel – das Militärgelände Kura auf der Halbinsel Kamtschatka im äussersten Osten Russlands. Obwohl nach Meinung von Fachleuten mindestens zehn erfolgreiche Tests hintereinander erforderlich sind, um eine neue Waffe dieser Art in Dienst zu stellen, teilte der Leiter des russischen Weltraum- und Raketenkonzerns Roskosmos, Juri Borisow, vor einem Jahr eher beiläufig mit, die Sarmat sei nun regulär Teil der Streitkräfte.
Die Mühen mit ihr lassen aber Zweifel daran, wie einsatzfähig sie im Ernstfall überhaupt wäre. Das ist nicht ohne Bedeutung, weil ihre Vorgängerin, die den Namen Wojewoda trägt, aus der Sowjetzeit stammt und veraltet ist. Die Sarmat musste Russland ganz neu entwickeln, weil die Wojewoda im Raketenwerk Juschmasch im damaligen Dnepropetrowsk, heute Dnipro, konstruiert und gebaut worden war.
In seiner Rede zur Nation kurz vor der Präsidentschaftswahl 2018 hatte Putin die Sarmat, zusammen mit anderen rüstungstechnischen Errungenschaften, als eine Art Wunderwaffe präsentiert und Russlands Bereitschaft, im Rüstungswettbewerb mit den USA mitzuhalten, bekräftigt. Unter den gegenwärtigen technologischen Bedingungen – verursacht durch die westlichen Sanktionen – dürfte es für die russische Rüstungsindustrie aber noch schwieriger sein, Waffen wie diese erfolgreich voranzubringen.
Diskussion über Einsatz von Atomwaffen
Nach dem jüngsten Vorfall äusserten sich auch regimetreue Militärjournalisten negativ und kritisierten die offenbar vorzeitige Indienstnahme der Sarmat. In einem von russischen Rüstungsexperten betriebenen Telegram-Kanal wurde die Kluft zwischen der Drohkulisse, die etwa Wolodin mit der Interkontinentalrakete aufbaute, und der ernüchternden Realität hervorgehoben und besorgt festgestellt, solches gefährde die nukleare Abschreckung.
Diese ist aber hochaktuell. Seit Putins Entscheidung zum grossen Krieg gegen die Ukraine schwingt die Drohung mit, notfalls auch Atomwaffen einzusetzen, um in der Auseinandersetzung mit der Ukraine – und damit mit dem «kollektiven Westen» – die Oberhand zu behalten. Offen hat Putin das nie ausgesprochen. Wenn er dazu Stellung nehmen muss, weist er das Ansinnen, auf eine nukleare Antwort zurückzugreifen, stets weit von sich. Dem Kreml kommt es aber offenkundig nicht ungelegen, dass im Fernsehen und von gewichtigen Experten wie Sergei Karaganow, dem Putin gerne das Ohr leiht, regelmässig unverblümt nukleare Präventivschläge gefordert werden.
Die Überarbeitung der Nukleardoktrin, die vermutlich die Schwelle zum Atomwaffeneinsatz senken wird, hatte Putin angestossen. Ebenso hatte er jüngst Manöver mit taktischen Atomwaffen an der russischen Westgrenze befohlen und den Vertrag über das Atomtestverbot aussetzen lassen. Vor kurzem meldete der Kommandant des Atomtestgeländes auf der Eismeer-Insel Nowaja Semlja, alles sei für den Fall der Fälle bereit. Die Rückschläge bei der Sarmat ändern am Abschreckungspotenzial nicht viel – Russland verfügt auch so über zwar weniger leistungsfähige, aber nicht minder bedrohliche Langstreckenraketen. Gleichwohl kratzen sie an der Glaubwürdigkeit der Drohkulisse.