Donnerstag, Oktober 3

«Bevormundung», rufen die Gegner des Verbots. «Befreiung», kontert der Bürgermeister. Seit dem 1. März sind die Strassen von Seine-Port handyfrei. Oder sollten das zumindest sein. Auf Besuch in der etwas anderen Bubble.

Mit dem Frühling kamen auch die Schilder nach Seine-Port. Nun prangen sie neben dem Coiffeursalon, im Schaufenster des Inneneinrichtungsgeschäfts und am Zaun vor dem Schulhof. «Espace sans Smartphone», steht darauf. Handyfreie Zone.

So hat es die Bevölkerung von Seine-Port Anfang Februar in einer kommunalen Abstimmung beschlossen. Mit 54 Prozent Ja-Stimmen wurde die «Verordnung zur Smartphonenutzung» angenommen. Seit dem 1. März 2024 ist es auf den Strassen von Seine-Port verboten, das Smartphone zu benutzen – vor der Schule, in den Geschäften und auch sonst im öffentlichen Raum.

Zeit, in den TGV zu steigen und gen Westen zu fahren.

Eine bescheuerte Idee

In Paris allerdings hat man andere Sorgen als den übermässigen Smartphonekonsum. Der Taxifahrer an der Gare de Lyon ist genervt. Die ganze Stadt ein einziger Stau, sagt er. Es wird gehupt und gestikuliert. Dann blickt er kurz über die Schultern: «Was wollen Sie denn überhaupt in Seine-Port?»

Schauen, wie es ist, wenn man das Smartphone nicht benutzen darf. Ob die Leute anders miteinander umgehen, wenn kein Bildschirm ihnen kleine Fluchten aus dem Augenblick ermöglicht. Testen, wie sich das anfühlt, unterwegs zu sein wie früher. Mit Stift, Ersatzstift und Notizbuch, Kamera und Diktiergerät, einem improvisierten Stadtplan, einer Liste mit Nummern für den Notfall, einem Buch und einem Ersatzbuch in der Tasche. Statt einfach nur das Handy einzustecken. Christophe, der Taxifahrer, findet die ganze Sache ziemlich «dingue». Bescheuert.

Auf dem Dorfplatz von Seine-Port bleibt das Taxi stehen. Die App sagt, man habe das Ziel erreicht. Aber von einem Rathaus keine Spur. Da ist bloss ein kleiner Parkplatz, auf dem eine Frau in ihrem Auto sitzt und telefoniert. Während der Taxifahrer die Scheibe herunterlässt, um einen Passanten nach dem Weg zu fragen, beendet die Frau ihr Gespräch, lässt das Handy in die Handtasche gleiten und steigt aus.

Wo es sich gut leben lässt

Die französische Trikolore hängt schlaff und sonnengebleicht über der Eingangstür zum Rathaus. Drinnen wartet Vincent Paul-Petit, Mitglied der konservativen Partei Les Républicains, seit 16 Jahren Bürgermeister von Seine-Port. Davor war er Leiter eines KMU. Doch dann sei das Computersystem gehackt worden, und nach drei Monaten Produktionslücke habe man die Aktien für den symbolischen Preis eines Euro verkaufen müssen. Symbolisch auch für die Schattenseiten der Digitalisierung.

Damit der gleiche Teufel ihn nicht zweimal holt, kämpft Paul-Petit nun gegen die Bildschirmisierung der Welt. Zumindest seiner Welt, dieses 2000-Seelen-Dorfs an der Seine, eine knappe Autostunde von der Pariser Gare de Lyon entfernt.

Man hört die Vögel zwitschern in Seine-Port, den Wind durch die Bäume streichen und hie und da das leise, satte Schnurren eines Elektroautos. Hier haben die Häuser massive Steinfassaden und pastellfarbene Fensterläden. Die Gartenzäune sind mit Blüten überwachsen und mit Alarmanlagen gesichert. Aus den zinnoberroten Kaminen kräuselt sich Rauch, in der Seine spiegelt sich die Sonne, und auf dem Dorfplatz spielen die alten Herren Pétanque.

Die Baguette holt man beim Beck, das Fleisch in der Metzgerei, und das Gemüse gibt es kaum ohne kurzen Schwatz vor dem Gemischtwarenladen. Seine-Port ist Frankreich, wie es sonst nur in den Köpfen der Touristen existiert. Oder, so lautet der lokale Slogan: «Eine Gemeinde, in der es sich gut leben lässt».

Winkelried mit einer Mission

Auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters liegt – ein Smartphone. «Klar, wir sind hier ja auch nicht bei den Amish», sagt er. Seine durchschnittliche Bildschirmzeit: zwei Stunden pro Tag. Ein praktisches Ding, dieses «portable». Als Arbeitsinstrument unschlagbar. Nur: «Smartphones sind so konzipiert, dass sie uns süchtig machen.» Sie an gewissen Orten zu verbieten, ist für Paul-Petit keine Bevormundung – obwohl ihm das oft vorgeworfen wurde. Er betrachtet es als Hilfestellung für die Menschen von Seine-Port. Als Befreiung gar.

Neulich ergab eine Studie der Universität von Chicago, dass 75 Prozent der College-Studenten, die auf Instagram aktiv sind, es vorzögen, wenn es die App gar nicht gäbe. Doch obwohl sie weniger Zeit am Smartphone verbringen wollen: Aus eigener Kraft gelingt es ihnen nicht. Paul-Petit sagt, das sei klassisches Suchtverhalten. «Wir stehen alle unter Drogen.»

Wenn es bereits den Grossen so schwer falle, das Telefon aus der Hand zu legen: «Wie soll das ein Kind schaffen? Dabei ist der Schaden hier noch viel grösser, weil zu viel Bildschirmzeit die gesunde Entwicklung des kindlichen Gehirns hemmt.» Davon war Paul-Petit auch schon überzeugt, bevor die Lehrer des Dorfes bei ihm Alarm geschlagen haben.

Die Schüler könnten sich weniger gut konzentrieren und artikulieren und ihre Frustrationstoleranz sei viel tiefer als bei früheren Klassen, berichteten ihm die Lehrpersonen. Das allgemeine Leistungsniveau der Schüler sei auf einem neuen Tief. Der Bürgermeister sah sich bestätigt und in der Pflicht.

Gemeinsam mit Spezialistinnen hat Paul-Petit ein Smartphonekonzept für Familien mit Kindern unter 15 Jahren erarbeitet: Keine Bildschirmzeit vor dem Zubettgehen, direkt nach dem Aufstehen oder während der Mahlzeiten. Dazu ein generelles Handyverbot für das Kinderzimmer. Ihm sei klar, dass das schwer durchzusetzen sei, die Kleinen kämen ja praktisch mit dem Handy in der Hand zur Welt. Aber dank dem Verbot im öffentlichen Raum und dem Leitfaden für die Kinderzimmer hätten Eltern es jetzt einfacher, sagt er. Weil sie den Kindern sagen können: «Nicht ich verbiete dir das Smartphone, sondern der Bürgermeister.» Ein Winkelried mit einer Mission.

Der soziale Druck

Einen Hafen gibt es in Seine-Port, auch wenn der Name anderes vermuten lässt, nicht. Bloss eine Bucht mit einem kleinen Segelbootverleih. Hier arbeitet Jean-Marc Barré. Für ihn ist es einfach: Wenn er mit den Leuten aufs Wasser geht, bleiben die Handys in einer Box an Land. Aber sobald die Hände wieder trocken seien, würden Jugendliche und Erwachsene sofort nach ihren Telefonen greifen. «Und ich sehe keinen Polizisten, der kontrolliert, was die Leute auf öffentlichen Plätzen mit ihrem Smartphone anstellen», sagt Barré.

In einer der drei lokalen Metzgereien werden die Kunden nicht bedient, wenn sie ihr Smartphone in der Hand haben. Es ist wohl die grösste Strafe bei Verstoss gegen das Smartphoneverbot. Denn juristisch gesehen ist es nur Lärm und heisse Luft. Paul-Petits lokale Verordnung ist kein Gesetz, ihre Einhaltung kann nicht mittels Polizeikontrollen oder Bussen durchgesetzt werden. Es bleibt einzig das Gewissen der Leute. Und der soziale Druck.

Seine-Port liegt eingebettet zwischen der Seine und einem Wäldchen. Manche Strassen führen zu den Bäumen, werden schmaler und grüner und verschwinden schliesslich als Trampelpfade im Dickicht. Auf einem solchen Weg läuft eine Frau, das Handy in der Hand, den Blick fixiert. Erst im allerletzten Moment realisiert sie, dass ihr jemand entgegenkommt. Erschrocken blickt sie auf, steckt das Smartphone in die Tasche und grüsst.

Das mit dem sozialen Druck funktioniere hie und da schon, sagt Barré. Die Leute würden sich ja kritisch mit ihrem Smartphonekonsum auseinandersetzen wollen. Man kenne sich ja auch in Seine-Port. Rede miteinander, wenn man sich treffe. Nicht wie in den grossen, anonymen Städten. Denn ein bisschen, sagt Barré, sei Seine-Port vielleicht schon «wie dieses kleine gallische Dorf, Sie wissen schon».

«Niemand hört auf den Bürgermeister»

Dass 54 Prozent der Bevölkerung Ja gesagt haben zum smartphonefreien Dorf, heisst auch, dass 46 Prozent die Idee abgelehnt haben. Sie sitzen zum Beispiel vor «La Terrasse». Am Mittag ist es ein Restaurant; wenn die Sonne hinter die Seine zu sinken beginnt, wird es zur Beiz. Hier trinken die Pétanque-Spieler ihr Perrier à la Menthe und die, die noch nicht in Rente sind, ihr Feierabendbier. Von denen, die aussehen, als hätten sie die vierzig noch nicht überschritten, hat fast jeder ein Smartphone in der Hand.

Das Verbot sei für Kinder, nicht für Erwachsene, sagt einer. Vorbildfunktion? «Alles hat seine Grenzen.» Wo und wann er sein Smartphone benutze, habe ihm niemand vorzuschreiben, sagt ein anderer. «Unliberal» sei es, Zonen zu schaffen, in denen das Smartphone nicht benutzt werden dürfe. Einer sagt «Freiheitsberaubung», ein anderer «Bevormundung». Einen Augenblick ist es still. Dann sagt der liberale Vorkämpfer etwas kleinlaut: «Aber ja, ich benutze das Ding schon auch viel zu oft.»

«Niemand hört auf den Bürgermeister», sagt eine Schülerin. Elf Jahre alt ist sie und hat eben von der Primarschule an ein Collège ausserhalb von Seine-Port gewechselt. Dort muss sie ihr Smartphone für die Dauer des Unterrichts abgeben. Das sei von Schule zu Schule verschieden, aber ganz in Ordnung. Sie brauche das Smartphone vor allem nach der Schule, weil in den Chats mit ihren Klassenkameraden zum Beispiel die Hausaufgaben besprochen würden.

Auch dem Vater ist es recht, dass die elfjährige Tochter ein Telefon hat. Seit sie mit dem Bus jeden Tag ins nächste Dorf fahren müsse, sei das eine Frage der Sicherheit. «Gewalt ist an Schulen und auch auf dem Schulweg ein grosses Thema», sagt er. «Natürlich nicht in Seine-Port, das hier ist eine Bubble. Aber ausserhalb schon. Dort, wo das Einzugsgebiet grösser ist und die Schüler älter.» Er will, dass sein Kind ihn jederzeit erreichen kann, wenn etwas passiert.

Zudem soll das Kind ruhig lernen, mit dem Gerät umzugehen: «Das Smartphone ist Teil unserer Realität, es im grossen Rahmen zu verbieten, hat keinen Sinn. Stattdessen müssen wir alle lernen, mit diesen Geräten und ihrer starken Anziehungskraft umzugehen.»

Der reflexartige Griff zum Handy

Die Primarschule von Seine-Port hat petrolblaue Fensterläden, blühende Büsche neben dem Pausenhof und einen kleinen Parkplatz. Früher, erzählt Muriel Jourde, Mutter zweier Jungs und Inhaberin eines Concept-Store im Zentrum, sei hier jeder für sich allein gestanden und habe die Wartezeit mit Scrollen verbracht. «Nach dem Handy zu greifen, ist wie ein Reflex. Den unterdrücken wir Eltern jetzt.» So habe sie viele neue Leute kennengelernt.

Jourdes Jüngster ist acht Jahre alt. Mit elf wird auch er ans Collège im Nachbardorf wechseln müssen. Eine Busfahrt weg von Seine-Port. Spätestens dann wird Jourde ihm ein Mobiltelefon mit auf den Weg geben. Sehr wahrscheinlich eines von denen, die das Bürgermeisteramt allen Familien anbietet, die versprechen, ihren Kindern bis 15 kein Smartphone zu kaufen: Man kann damit nur telefonieren und texten.

Telefonate und Textnachrichten – wie einst, vor all den Jahren, als in eine SMS weniger Zeichen passten als heute in einen Post auf X. Bei vielen hier klingt Nostalgie mit, wenn sie über ihren Wunsch sprechen, das Handy öfter in der Tasche zu lassen.

Man spricht dann nicht nur von weniger Bildschirmzeit, sondern auch von mehr zufälligen Bekanntschaften und Plaudereien wie einst. Von Brettspielen statt Candy Crush, Kindern, die durch die Strassen toben, und von verbindlichen Abmachungen statt Planänderung in letzter Minute. Bei vielen liegt dieses Gefühl mit in der Waagschale, wenn die Pros und Contras von Smartphones gegeneinander abgewogen werden. Dass vor allem die älteren Semester das Verbot befürworten, während die jüngeren auf Eigenverantwortung setzen möchten, passt ganz gut dazu.

«C’est la vie»

Neben der denkmalgeschützten Brocante, in der Jourde ihren Laden eingerichtet hat, hängt eine der bunten, runden Verbotstafeln. Jourde hat sie selbst montiert: «Dass die Leute sich von den handyfreien Zonen eingeschüchtert, ja fast beraubt fühlen, sagt wohl alles aus über die ungesunde Beziehung zu ihrem Telefon.» Dabei sei es mit dem Handyverbot doch ganz ähnlich wie mit dem Rauchverbot: Als man in Restaurants, Büros oder Zügen nicht mehr habe rauchen dürfen, hätten sich alle furchtbar aufgeregt. «Heute ist es einfach normal», sagt Jourde – selber Raucherin.

So, wie man sich daran gewöhnt hat, immer erreichbar zu sein, könnte man sich auch wieder umgewöhnen. Etwas nicht tun zu dürfen, bedeutet manchmal auch, es nicht tun zu müssen. Keine Mails lesen, keine Whatsapp-Nachrichten beantworten, alle Pushnachrichten verpassen und in Gedanken versinken. Eine kleine Erleichterung.

Wenn Bürgermeister Paul-Petit durch die Strassen seines Dorfes läuft, sieht er dennoch immer wieder Leute am Smartphone. Das passiere hier weniger als im Nachbardorf. Aber solange man konsequenzenlos gegen das Smartphoneverbot verstossen kann, werden die Leute von Seine-Port das auch tun. Paul-Petit fragt dann, was auf dem Bildschirm gerade so spannend sei. Manchmal muss der Bürgermeister auch selber einen dringenden Anruf entgegennehmen. Dann komme ganz sicher von irgendwem ein dummer Spruch. «C’est la vie», sagt er.

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