Sonntag, September 29

Der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow beschreibt den Gipfel auf dem Bürgenstock als Hochzeit ohne Bräutigam. Doch er habe etwas in den Köpfen der Ukrainer verändert.

Am 15. Juni, dem Tag, an dem der Friedensgipfel zur Ukraine in der Schweiz begann, tobte über Charkiw ein Sommergewitter. An diesem Tag kam ein Mädchen aus der fünften Klasse zu uns, um Englisch zu lernen. Sein Englisch war sehr schlecht, und es konnte sich nicht einmal das Alphabet merken.

Beim ersten Donnergrollen passierte etwas mit ihr, wahrscheinlich war es eine Panikattacke. Als sie das Donnern hörte, begann es sie zu würgen. Wir mussten die Fenster fest verschliessen, danach erholte sie sich. Ihr Anblick erinnerte mich an den Deutschen Schäferhund, von dem man mir einst erzählt hatte, der sich vor Gewittern fürchtete und bei einem Bombenangriff vor Angst gestorben war. Im Krieg sind Tiere und Kinder am verletzlichsten.

Das Unwetter zog schnell vorbei, und das Mädchen hörte auf, vor Angst fast zu ersticken, aber seine Hand zitterte noch lange, so dass es nicht schreiben konnte. Zwanzig Minuten nachdem das Mädchen gegangen war, ertönten am Himmel drei laute Knalle, und trotz den Gewitterwolken war ich mir sicher, dass es sich um keinen Donner mehr handelte und dass es dem Mädchen jetzt wieder die Kehle abschnürte, wo auch immer es sich befand.

Ein Erdbeben auf dem Mars

«Natürlich sind wir uns alle bewusst, dass noch ein langer Weg vor uns liegt», sagte die Schweizer Bundespräsidentin zu Beginn des Gipfels auf dem Bürgenstock. «Wir machen uns keine Illusionen, dass wir hier zu einer abschliessenden Verständigung kommen werden.» Von der Ukraine aus betrachtet, scheint der Friedensgipfel in der Schweiz sehr weit weg zu sein – so wie ein Erdbeben auf dem Mars. Vielleicht ist dort, irgendwo weit weg im All, die Erschütterung gewaltig, aber hier unten bewegt sich kein einziges Blatt.

Das heisst natürlich nicht, dass der Gipfel unnötig war. Immerhin waren Vertreter von insgesamt 160 Ländern und Organisationen eingeladen, und 100 von ihnen sind gekommen. Es fielen in der Innerschweiz viele ehrliche Worte, und die richtigen Worte machen die unsichtbare Tiefseeströmung dieses Krieges aus, die Strömung, die zwar langsam, aber stark ist. Vielleicht wird sie uns eines Tages an die Ufer des Friedens tragen.

Vielleicht aber auch nicht. Manchmal bleiben Worte bloss Worte. Schliesslich ist ein Friedensgipfel, auf dem eine der Konfliktparteien fehlt, etwa das Gleiche wie eine Hochzeit ohne Bräutigam. Der Papa des Bräutigams – ich meine China – war eingeladen, hat aber beschlossen, nicht zu erscheinen.

Von der Ukraine aus gesehen, scheint es, dass Worte allein nicht ausreichen, auch wenn es die richtigen Worte sind. Taten wären wichtiger als Worte. Nachdem Russland zum Beispiel im Mai mit sadistischer Intensität und Ausdauer Charkiw bombardiert, Jagd auf Zivilisten gemacht und sie zu Dutzenden getötet hatte, erlaubten uns die USA schliesslich, mit ihren modernen Waffen auch militärische Ziele innerhalb Russlands anzugreifen. An dem Tag, an dem dies bekanntwurde, geschah ein Wunder: Keine einzige Bombe fiel auf Charkiw. Auch die nachfolgenden Tage verliefen ruhig. Dieser eine Vorgang hat viele Menschenleben auf einmal gerettet.

Der Friedensgipfel in der Schweiz hat bis anhin niemanden gerettet und auch den Frieden nicht näher gebracht. Theoretisch hätte dieser Gipfel eine Logik des Siegens in Gang setzen müssen, aber auch das hat er bisher nicht getan. Die Wege zum Frieden wurden nicht einmal diskutiert. Dennoch hat der Gipfel etwas in den Köpfen der Ukrainer verändert. Einigen hat er Hoffnung gegeben, an der es in schmerzlicher Weise mangelt.

«Die Hälfte der Menschheit war dort vertreten», sagte einer meiner Bekannten. «Das bedeutet, dass die Hälfte der Menschheit hinter uns steht. Was bedeutet es da schon, dass Russland nicht dabei war? Deutschland war ja auch nicht auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam.»

Die andere Hälfte

Die «Eroberung von Kiew innerhalb von drei Tagen» schreibt das dritte Jahr, aber selbst bei einer so einfachen Angelegenheit wie der Einsicht, dass es übel ist, wenn ein grosses Land beschliesst, ein kleines Land zu überfallen, ist die Welt immer noch ungefähr in zwei Hälften gespalten. Es mag grossartig sein, dass die Hälfte der Menschheit auf unserer Seite steht, aber das bedeutet immer noch, dass die andere Hälfte der Menschheit gegen uns ist.

Manchen vermittelte dieser Gipfel eine Vorstellung davon, wie der Weg in eine gerechte Zukunft aussehen könnte.

«Den Weg zu ebnen – deshalb sind wir hier», hiess es auf dem Gipfel.

«Nur über die Schützengräben können wir den Weg zum Frieden ebnen», sagte ein anderer Mann, mit dem ich kürzlich sprach.

Wie wichtig die Worte des Gipfels gewesen sind, werden wir wahrscheinlich beim nächsten Gipfel herausfinden, zu dem entweder Vertreter von mehr als 100 Ländern kommen werden, was bedeutet, dass der Prozess in die richtige Richtung geht, oder von weniger als 100, was heisst, dass der Hauptnutzen dieses Gipfels darin bestand, den Eingeladenen Gelegenheit zu geben, die einzigartige Schönheit der Schweizer Natur zu geniessen.

Traurigerweise wird die Ukraine bis zum nächsten Friedensgipfel geschrumpft sein. Heute, da ich diese Zeilen schreibe, hat Russland ein weiteres ukrainisches Dorf eingenommen und ist dabei, zwei weitere Dörfer zu erobern. Morgen und übermorgen und im übernächsten Monat wird das so weitergehen. Die Nachrichtenagentur Associated Press schrieb kürzlich, dass die Ukraine es jetzt mit der Elastizität eines Gummibandes halte: Dabei kann sie ein wenig Territorium abtreten und damit ein wenig Zeit gewinnen.

Leider ähnelt dieser Prozess in Wirklichkeit nicht dem Dehnen eines Gummibandes – je grösser die Spannung, desto grösser der Widerstand –, sondern der Ausbreitung von Schimmel oder einem Sumpf, der allmählich auch das Ackerland erfasst. Die russischen Truppen schleichen sich an ein Dorf oder eine Stadt heran, kesseln den Ort halb ein und beginnen, ihn mit Bomben und Granaten dem Erdboden gleichzumachen, weil sie keine Ahnung haben, wie man in urbanen Gebieten kämpft. Deshalb wird die Ukraine auch jeden Tag kleiner.

Erst gestern warfen die Russen eine dreitausend Kilogramm schwere Bombe auf Lipzi, eine Stadt fünfzehn Kilometer von Charkiw entfernt. Das ist eine idiotische, ungenaue Waffe, deren Zerstörungskraft mit der einer taktischen Nuklearladung vergleichbar ist.

Die ukrainischen Medien berichteten nicht gerade viel über den Schweizer Friedensgipfel, waren sich aber grösstenteils einig, dass es sich um einen «grossen diplomatischen Erfolg» gehandelt habe und dass es sehr gut gewesen sei, dass «die Forderung nach einem sicheren Betrieb des Kernkraftwerks Saporischja in das Abschlusscommuniqué aufgenommen wurde».

Dem würde ich selber nicht zustimmen. Die entsprechende Passage, «Das Kernkraftwerk Saporischja muss sicher und unter der vollen souveränen Kontrolle der Ukraine betrieben werden», kann Putin nur zum Lachen bringen. Dasselbe gilt für einen anderen Satz: «Jegliche Androhung oder Anwendung von Atomwaffen im Zusammenhang mit dem laufenden Krieg gegen die Ukraine ist unzulässig.» Die «bleiche Motte», so Putins Spitzname, wird weiterhin mit Atomwaffen drohen und das Kernkraftwerk Saporischja nicht in die Obhut der Ukraine zurückgeben, ganz egal, was auf dem Gipfel verkündet wurde.

Anlass zur Hoffnung

Putin sitzt im Bunker und amüsiert sich, während er den Gipfel verfolgt und den Reden der Teilnehmer zuhört. Er hat nicht die geringste Angst. Er schaufelt das Grab für Russland und dessen Bürger immer tiefer. Die meisten Russen freuen sich darüber.

«Was kümmert uns euer Friedensgipfel», sagen sie. «Wir drücken auf den Knopf, und die Welt hört auf zu existieren!»

Das ist ein rein russischer Witz, der auf einem Wortspiel beruht: Im Russischen sind «Frieden» und «Welt» das gleiche Wort.

Im Abschlusscommuniqué gab es andere, aus meiner Sicht viel wichtigere Momente. Zum Beispiel das Folgende:

«Der anhaltende Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine . . .»

Es ist sehr wichtig, dass die Dinge beim richtigen Namen genannt werden. Niemand spricht hier von «beiden Konfliktparteien» oder so und setzt damit den Aggressor mit dem Opfer der Aggression gleich.

«Dieses Gipfeltreffen baut auf den vorangegangenen Diskussionen auf, die auf der Grundlage der ukrainischen Friedensformel und anderer Friedensvorschläge stattgefunden haben, die im Einklang mit dem Völkerrecht, einschliesslich der Uno-Charta, stehen.»

Das bedeutet, dass Chinas Friedensplan zurückgewiesen wird, ebenso die afrikanische Friedensinitiative zur Ukraine, die einst von Putin unterstützt wurde, und auch jeder andere Friedensunsinn, der gegen das Völkerrecht verstösst.

«Wir bekräftigen unsere Verpflichtung, auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit eines Staates zu verzichten, sowie die Grundsätze der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität aller Staaten, einschliesslich der Ukraine, innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen . . .»

Aus der diplomatischen in die normale Sprache übersetzt, bedeutet dies, dass niemand von irgendwelchen territorialen Zugeständnissen sprechen wird und niemand die Ukraine zwingen wird, eine Art neuer Minsker Vereinbarungen zu unterzeichnen.

Was heisst, dass der Weg, der bereits geebnet wurde, in die richtige Richtung führt. Und das ist für uns Anlass zur Hoffnung.

Russland hat heute vier Bomben auf das Zentrum von Charkiw abgeworfen, die auf ein Krankenhaus zielten (was einen Verstoss gegen die Genfer Konventionen darstellt), aber ein fünfstöckiges bewohntes Wohnhaus trafen. Nicht nur die Ukraine, sondern auch Charkiw wird jeden Tag kleiner, und einige der hier in der Stadt lebenden Menschen werden den nächsten Friedensgipfel nicht mehr erleben.

Sergei Gerasimow lebt als Schriftsteller in der Grossstadt Charkiw, die nach wie vor von den Russen beschossen wird. – Aus dem Englischen von A. Bn.

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