Freitag, November 22

Gerade jetzt im Winter ist Richmond Park am Rand von London der perfekte Ort für einen ausgiebigen Spaziergang. Auf sanften Hügeln fallen malerisch grasende Hirsche ins Auge. Das Besondere hier sind aber die Bäume.

Majestätisch steht die alte Eiche auf einer leichten Anhöhe. Ihre knöchernen Äste recken sich gekrümmt und verwinkelt in den Winterhimmel. Wie eine eigenwillige Skulptur wächst sie in gebührendem Abstand zu anderen, ebenso mächtigen Bäumen. Jeder von ihnen scheint einen besonderen Charakter zu haben. Ein Spaziergang hier hat etwas Seltsames, denn immer wieder stösst man auf solch ungewöhnlich hochbetagte Baumriesen. Ihre Existenz ist eng mit der Historie des aussergewöhnlichen Parks verbunden, in dem sie wachsen.

Richmond Park ist ein zehn Quadratkilometer grosses Naturschutzgebiet am Rand von London. Seine Geschichte begann im frühen 17. Jahrhundert mit einer Laune des Königs. Charles I. flüchtete vor der Pest in seinen Palast in Richmond und war begeistert von der Umgebung. Auf sanften Hügeln wechselten Waldstücke mit Grasland, dazwischen lagen Tümpel, und hin und wieder erspähte man einen prächtigen Hirsch. Als passionierter Jäger erklärte der König das Gebiet kurzerhand zu seinem Revier, liess ringsum eine Mauer errichten und stockte das Wild auf.

Die Anwohner waren aufgebracht, denn seit je hatten sie auf dem Gelände Brennholz gesammelt. Mithilfe von Leitern kletterten sie schliesslich in den Park, doch der Zutritt für das Volk blieb lange Zeit ein Streitpunkt. Es dauerte bis 1872, als ein Gesetz erlassen wurde, das die Nutzung als öffentlichen Park festschrieb.

Der kontroverse Besitzanspruch des Königshauses hatte jedoch einen interessanten Nebeneffekt: Richmond Park war bereits eine Art Naturschutzgebiet, bevor sich das Konzept der «Natur» überhaupt entwickelte. Veränderungen durch die Industrialisierung fanden nämlich nur jenseits der Parkmauern statt. Die Landschaft in Richmond Park ist heute noch fast exakt so, wie Charles I. sie vor knapp drei Jahrhunderten kannte.

Mittlerweile dient der Park mit seiner einzigartigen Anzahl hochbetagter Bäume auch der Forschung. Die Parkverwaltung wurde zum Vorreiter für die Entwicklung von Praktiken zum Wohl der Artenvielfalt. Totholz wird nicht mehr weggeräumt, morsche Äste werden nicht mehr abgesägt, denn sterbend sind Bäume oft ökologisch wertvoller als lebend, vor allem für Insekten.

Eingegriffen wird hier aber sehr wohl, und zwar mit der Schrotflinte. Die Rot- und Damwildherden, die seit den Zeiten von Charles I. hier grasen, dürfen nicht zu gross werden, sonst richten sie Schaden an. In adäquaten Zahlen sind die grossen Pflanzenfresser jedoch das, was man in der modernen Ökologie «Ökosystem-Ingenieure» nennt. Sie fressen unzählige Baumkeimlinge und erhalten so ein besonders fragiles Biotop, die sauren Magerwiesen.

Streift man durch die grandiosen Weiten des Parks, kommt man unwillkürlich durch diese woanders äusserst rar gewordenen Lebensräume. Wer genau hinsieht, dem werden auf den Wiesen Ameisenhaufen auffallen, unglaubliche 400 000 von ihnen gibt es in Richmond Park, einige sind sogar mehr als 200 Jahre alt. Sie gehören Gelben Wiesenameisen, die ebenso wichtig sind für das Funktionieren dieses Biotops wie die Hirsche.

All das muss man aber gar nicht wissen, um Richmond Park geniessen zu können. Es ist der perfekte Ort für einen ausgiebigen Spaziergang, vor allem im Winter, wenn die Bäume kahl sind. Gruppen malerisch grasender Hirsche fallen dann ins Auge und verleihen der Szenerie eine royale Note. Von breiten Wegen oder schmalen Trampelpfaden bieten sich immer neue, atemberaubende Panoramen. Kein Besuch des Parks ist allerdings komplett, ohne eine kleine, versteckte Anhöhe bestiegen zu haben. In einer Sichtachse, die zwischen den alten Bäumen des Parks verläuft, ist von dort die Kuppel der Kathedrale von St Paul’s zu erkennen, dem Wahrzeichen der Londoner City. Man kann das kaum glauben, denn in Richmond Park wähnt man sich wesentlich weiter vom Zentrum der Metropole entfernt.

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