Samstag, Oktober 5

Im Gespräch erklärt der iranisch-deutsche Politologe Ali Fathollah-Nejad, warum sich Teheran zu einem Angriff auf Israel gezwungen sah – und weshalb sich die Islamische Republik nun in einem strategischen Dilemma befindet.

Herr Fathollah-Nejad, welche Strategie steckt hinter dem iranischen Raketenangriff auf Israel?

Es gab einen immensen Druck auf die Islamische Republik Iran, auf die Aktionen der Israeli zu reagieren. Hochrangige Kommandeure der sogenannten Achse des Widerstands, aber auch der iranischen Revolutionswächter wurden getötet. Schon nach der gezielten Tötung des Hamas-Chefs Ismail Haniya hatte Teheran eine harsche Vergeltung angekündigt – die ist ausgeblieben. Doch nun haben Israels Vorgehen gegen den Hizbullah, die Tötung des Generalsekretärs Hassan Nasrallah und die Ausschaltung fast der gesamten Führungsriege das Fass zum Überlaufen gebracht. Selbst in der arabischen Welt fragte man sich, ob Iran den Hizbullah fallengelassen habe. Teheran hatte also ein immenses Glaubwürdigkeitsproblem bei seinen Unterstützern. Es musste reagieren – auch um zu vermeiden, dass Israel zukünftig noch mehr Figuren innerhalb und ausserhalb Irans treffen könnte.

Wer hat denn die Entscheidung zu diesem Raketenangriff getroffen?

Die Regionalpolitik Irans wird vom Machtzentrum der Islamischen Republik bestimmt. Dieses besteht aus dem Obersten Führer Ali Khamenei, seinem «Hof» – einer Art Parallelregierung – sowie den Revolutionswächtern. Die Entscheidungen in strategisch wichtigen Bereichen der Sicherheits- und Aussenpolitik werden oft auch im sogenannten Obersten Nationalen Sicherheitsrat gefällt, der verschiedene Fraktionen der Elite umfasst. Auch der Raketenangriff gegen Israel war das Resultat einer solchen Entscheidung dieses Sicherheitsrates.

Offenbar hatte Irans Präsident Pezeshkian zu Zurückhaltung aufgerufen. Wie beurteilen Sie diese Meinungsverschiedenheiten?

In manchen westlichen Medien gibt es die Tendenz, die Relevanz des iranischen Präsidenten masslos zu übertreiben. Er gehört nicht zum Machtkern der Islamischen Republik. Vielmehr soll er diesem ein freundliches Gesicht nach aussen bescheren. Ob es innerhalb des Sicherheitsrates Meinungsverschiedenheiten gibt, kann man von aussen nicht durchschauen. Mit Blick auf die Aussenpolitik gibt es allerdings ein hohes Mass an Konsens. Aber natürlich gibt es auch Diskussionen. Iran steckt in einem grossen strategischen Dilemma.

Inwiefern?

Der neue iranische Präsident Masud Pezeshkian hat deutlich gemacht, dass er eine Verständigung mit dem Westen anstrebt, damit die Sanktionen gelockert werden – denn die wirtschaftliche Lage in Iran ist desolat. Diese Mission wird auch vom Machtkern unterstützt. Eine kriegerische Auseinandersetzung mit Israel würde dem natürlich zuwiderlaufen. Iran befindet sich also in einem grossstrategischen Dilemma zwischen dem Streben nach Verständigung und seiner Regionalpolitik. Letztere besteht in der Unterstützung der Achse des Widerstands, die nicht nur eine Machtprojektion Teherans ist. Die regionale Stärke Irans dient auch als Verhandlungsmasse gegenüber dem Westen. Doch nach der Ausschaltung von Nasrallah haben sich die Bedingungen geändert. Iran kann es sich kaum leisten, den Hizbullah militärisch zu verlieren – und stand deshalb unter Druck, darauf zu reagieren.

Ist das Kalkül der iranischen Führung mit dem Raketenangriff auf Israel denn aufgegangen?

Insgesamt sehe ich das iranische Regime in einer grossen Bredouille: Einerseits will man Stärke zeigen. Andererseits ist es mit immensen Risiken verbunden, sich auf eine Spirale einzulassen, die einen grossen Krieg zur Folge haben könnte. Zuletzt hiess es, dass Teheran via Katar den USA mitgeteilt habe, dass es keine Ausweitung des regionalen Krieges wolle. Parallel drohte Teheran damit, seine «unilaterale» Zurückhaltung nunmehr aufgeben zu wollen. Das zeigt sehr gut, in welch misslicher Lage sich Teheran befindet. Denn man rechnet nun mit einer deutlich stärkeren Reaktion der Israeli als nach dem ersten direkten iranischen Angriff auf Israel im April – auch deshalb, weil die iranische Seite diesmal modernere Waffen benutzt hat.

Nun wartet die ganze Welt auf die Reaktion der Israeli. Welche Ziele könnten sie denn in Iran angreifen?

Ich gehe davon aus, dass es eine sehr enge Koordination zwischen Israel und den USA gibt. Ohne gelbes oder grünes Licht aus Washington sind einige mögliche Aktionen Israels nicht denkbar.

Also keine Bombardierung von iranischen Atomanlagen? Die Unterstützung für einen solchen Schlag hat US-Präsident Biden ja schon ausgeschlossen.

Die wichtigen iranischen Atomanlagen sind tief in den Bergen und im Untergrund versteckt. Eine militärische Aktion ist also schwierig. Man müsste bunkerbrechende Bomben benutzen. Die Frage ist, ob das dann auch gelingen wird. Da gibt es unterschiedliche Meinungen – ganz abgesehen von den radioaktiven Schäden, die dabei entstehen könnten. Ich halte andere Optionen für wahrscheinlicher: zum Beispiel einen Beschuss der Militäranlagen der Revolutionswächter. Und auch die iranischen Ölanlagen sind in der Diskussion. Ein Angriff darauf könnte die iranische Wirtschaft noch weiter schwächen und auch die Haupteinnahmequelle des Regimes.

Khamenei hat Israel bereits vor einer Reaktion gewarnt – man werde dann noch härter zurückschlagen. Aber ist Iran für eine fortgesetzte Konfrontation gewappnet?

Ein grosser Krieg ist für Iran mit immensen Risiken verbunden. Schon nach dem israelischen Attentat auf den Hamas-Chef Haniya machte sich diese Sorge im Regime bemerkbar. Da hiess es: «Wir dürfen nicht in die Falle von Netanyahu tappen und uns in einen grossen Krieg verwickeln lassen.» Natürlich hat Iran asymmetrische Möglichkeiten, mit seinen verbündeten Milizen in der Achse des Widerstands sehr viel Unruhe zu stiften. Aber was die konventionellen militärischen Fähigkeiten betrifft, ist Israel der Islamischen Republik weit überlegen. Ausserdem haben die israelischen Geheimdienste womöglich auch die iranischen Machtzentren massiv infiltriert. Es stellt sich zudem die Frage, ob Israel auch die Kommunikationsgeräte der Revolutionswächter sabotiert hat.

Auch finanziell wäre ein solcher Krieg wohl eine Belastung.

Ja, die Staatskassen sind leerer als gedacht. Ein längerer Krieg würde sehr viel kosten. Das kann sich Iran eigentlich nicht leisten. Und ausserdem gibt es dafür auch keinen Rückhalt in der Bevölkerung.

Wie blicken denn die Iranerinnen und Iraner auf einen drohenden grossen Krieg? Unterstützen sie ihr Regime im Vorgehen gegen Israel?

Es gibt eine immense Kluft zwischen Staat und Gesellschaft in Iran. Sie ist bei allen wichtigen Pfeilern der iranischen Politik zu beobachten: bei den Kleidervorschriften für Frauen, aber auch bei der Feindschaft gegenüber Israel und Amerika. Die grosse Mehrheit der iranischen Bevölkerung steht dem regionalen Abenteurertum des Regimes ablehnend gegenüber: sich als regionale Grossmacht zu stilisieren, statt sich um die innenpolitischen Probleme der Iraner zu kümmern. Ein grosser Krieg von aussen und ein gleichzeitiger Aufstand von innen wären das Albtraum-Szenario des Regimes. Mit anderen Worten: Wenn Infrastruktur des Regimes beschädigt werden sollte und die Bevölkerung dies ausnutzt, um ihrem Unmut freien Lauf zu lassen, wären die Sicherheitskräfte überlastet und würden sich angreifbar machen. Auch wären in solch einem Szenario Risse innerhalb des Sicherheitsapparates nicht ausgeschlossen.

Das klingt so, als sei der Raketenangriff auf Israel letztlich gar nicht im Interesse der iranischen Führung gewesen – wenn man an die möglichen Folgen denkt.

Es war eine Wahl zwischen Pest und Cholera, ein riskantes Manöver also. Aber die Schmach durch diese israelischen Aktionen – die massive Schwächung des Hizbullah und die Ausschaltung seiner Führungsriege, vor allem der Schlüsselfigur Nasrallah – war zu gross geworden. Das war wirklich eine Zäsur für die iranische Regionalpolitik. Auch wollte man die Abschreckung gegenüber Israel wiederherstellen. Daraus kann sich aber eine unkontrollierbare Eskalationsspirale entwickeln – wie gesagt mit grossen Risiken auch für das Regime. So ist die strategische Verunsicherung in Teheran allenthalben zu spüren.

Ali Fathollah-Nejad, deutsch-iranischer Politikwissenschafter, forscht zu Iran, dem Nahen und Mittleren Osten, westlicher Aussenpolitik und postunipolarer Weltordnung. Er lehrt unter anderem an der Hertie School in Berlin internationale Sicherheit und Nahostpolitik.

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