Samstag, November 23

Die Zentralbanken haben mit ihrer langjährigen Geldschwemme eine Blase bei allen Geldanlagen geschaffen, sagt der Historiker Edward Chancellor. Aus dieser «everything bubble» entweiche mit den höheren Zinsen langsam die Luft. Der Prozess hat hohe Risiken.

Edward Chancellor geht mit den Zentralbanken hart ins Gericht. Seit Jahren warnt der renommierte britische Wirtschaftshistoriker und Bestsellerautor davor, dass sich wegen der Geldschwemme der Notenbanken an den Finanzmärkten eine «everything bubble» entwickelt habe – eine Blase sämtlicher Geldanlagen. Geschaffen worden sei diese von den ultraniedrigen bis negativen Zinsen. Bei höheren Zinsen drohe sie zu platzen.

In den vergangenen Monaten haben die Zentralbanken die Leitzinsen stark heraufgesetzt. Der grosse Crash an den Finanzmärkten ist bisher aber ausgeblieben. Im Gespräch zeigt sich auch Chancellor überrascht darüber, dass es in den letzten Monaten nicht mehr Unfälle im Finanzsystem gegeben hat. «Wenn die Zinsen in der Geschichte manipuliert und aus politischen Gründen auf zu niedrige Niveaus gedrückt wurden, waren immer Krisen und Katastrophen das Resultat», sagt der Wirtschaftshistoriker.

Der Crash ist bisher ausgeblieben

Laut Chancellor sind die Zinsen historisch gesehen aber nicht hoch. «Sie sind bestenfalls auf dem Weg hin zu normalen Niveaus», sagt er. Man dürfe nicht vergessen, dass der jüngste Anstieg von einem aussergewöhnlich tiefen Stand erfolgt ist – schliesslich waren die Zinsen vor nicht allzu langer Zeit vielerorts sogar noch negativ.

Die höheren Zinsen haben auch durchaus Opfer gefordert. Chancellor nennt hier die Silicon Valley Bank und andere amerikanische Regionalbanken. «Mit den Einbrüchen der Immobilienpreise in vielen Ländern dürften weitere Banken in Schwierigkeiten kommen», sagt er. Er beobachte beispielsweise mit Sorge, dass einige schwedische Banken stark im Bereich Geschäftsimmobilien engagiert seien. Zudem dürften Unternehmen in anderen Branchen aufgrund der höheren Zinsen in Bedrängnis geraten. Als Beispiel nennt er den hochverschuldeten britischen Versorger Thames Water, der auf Finanzspritzen seiner Investoren angewiesen war.

Edward Chancellor

Edward Chancellor ist ein britischer Wirtschaftshistoriker und Autor, der für die Finanzinstitute Lazard und GMO tätig war. Sein Buch «Devil Take the Hindmost: A History of Financial Speculation» wurde von der «New York Times» als Buch des Jahres ausgezeichnet. 2002 erschien sein Werk «The Price of Time – The Real Story of Interest». In diesem zieht Chancellor einen weiten Bogen über 5000 Jahre und die Geschichte des Zinses. Der Kontakt mit Chancellor kam über die CFA Society Switzerland, einen Berufsverband von Finanzexperten, zustande.

Der Wirtschaftshistoriker Chancellor geht davon aus, dass die höheren Zinsen ihre Wirkung noch nicht ganz entfaltet haben. «Es hat bereits erhebliche Erschütterungen gegeben, aber noch kein Erdbeben», sagt er. Einer der Gründe hierfür sei die starke Verfassung der amerikanischen Wirtschaft, wobei allerdings die massiven Fiskalausgaben der Regierung unter Präsident Joe Biden eine wichtige Rolle gespielt hätten. Erst am Freitag hatte das Arbeitsministerium starke Daten vom amerikanischen Arbeitsmarkt publiziert. Ausserhalb der Landwirtschaft kamen im November 199 000 Stellen hinzu und damit mehr als von Ökonomen erwartet.

«Wenn diese Effekte auslaufen, könnte es noch zu massiven ökonomischen und finanziellen Turbulenzen kommen», sagt Chancellor. Er erinnert an den Verlauf der Finanzkrise, die mit dem Kollaps der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 ihren Höhepunkt erreichte. Begonnen habe die Krise aber bereits im Jahr 2006, als es erste Anzeichen für sinkende Immobilienpreise in den USA gegeben habe, sagt er.

«Momentan werden die Risiken heruntergespielt»

Der Wirtschaftshistoriker rechnet damit, dass die Zinsen schon bald wieder sinken werden. Dafür spreche auch die hohe Verschuldung weltweit. «Für viele Staaten wird es schwierig werden, ihre hohen Schulden zu finanzieren», sagt Chancellor. Deshalb hätten Regierungen ein grosses Interesse an niedrigeren Zinsen.

Wie das Institute of International Finance (IIF) im September mitgeteilt hat, sind die weltweiten Schulden in der ersten Hälfte dieses Jahres um 10 Billionen Dollar auf rekordhohe 307 Billionen Dollar gestiegen. Nach Rückgängen in sieben aufeinander folgenden Quartalen stieg zudem das Verhältnis der globalen Schulden zum Welt-Bruttoinlandprodukt (BIP) wieder an, und zwar gegenüber demselben Vorjahresquartal um 2 Prozentpunkte auf 336 Prozent.

Auch die geopolitischen Risiken würden an den Finanzmärkten derzeit vernachlässigt – trotz den Brandherden im Nahen Osten und in der Ukraine. «Momentan werden die Risiken heruntergespielt», sagt Chancellor. Ohnehin schätzten viele Akteure an den Finanzmärkten die Risiken von Vermögensanlagen nicht mehr richtig ein. Dies liege daran, dass die Zentralbanken in den vergangenen Jahrzehnten immer eingesprungen seien, wenn sich grössere Probleme in der Wirtschaft manifestiert hätten.

Teure Immobilien in Grossbritannien

«Finanzielle Risiken sind an den Märkten so lange falsch bewertet worden, dass viele Akteure selbstgefällig geworden sind», sagt Chancellor. So seien beispielsweise Immobilien in Grossbritannien schon so lange so teuer, dass sich die Menschen an die hohen Preise und die entsprechend nötige Verschuldung beim Kauf einfach gewöhnt hätten.

«Heutzutage wird der Zins in der Politik vor allem als Mittel gesehen, um die Inflation zu kontrollieren», sagt Chancellor. Vernachlässigt würden seine anderen Funktionen: Es braucht ihn für die Allokation von Kapital, und ohne ihn ist es nicht möglich, den Wert von Investitionen richtig einzuschätzen. Als «Belohnung für Nicht-Konsum» setze er Anreize für das Sparen. Zudem hindert er Investoren daran, exzessive Risiken einzugehen. Aus Sicht von Chancellor ist der Zins eine der ältesten Institutionen der Menschheitsgeschichte und absolut elementar für das Funktionieren einer Marktwirtschaft.

«Everything bubble» verliert Luft

«Die höheren Zinsen haben aber dafür gesorgt, dass die ‹everything bubble› angestochen worden ist», sagt Chancellor. Dies sei etwa im Jahr 2022 zu beobachten gewesen, als Aktien und Anleihen starke Verluste verbuchten. 2023 erlitten Anleihenkurse weitere Verluste, während Aktien in den USA und vielen anderen Ländern wieder deutlich zulegten.

So liegt der amerikanische Leitindex S&P 500 gegenüber Anfang Jahr mit rund 20 Prozent im Plus. Chancellor weist hier darauf hin, dass die grossen Technologieaktien von Microsoft, Amazon, Apple, Nvidia, Meta oder Alphabet für einen grossen Teil der Gewinne verantwortlich waren. Bei diesen Titeln sieht Chancellor weiterhin eine Blase bei den Bewertungen.

Gemessen am Shiller-KGV seien amerikanische Aktien immer noch hoch bewertet, sagt er. Der Nobelpreisträger Robert Shiller hat die Kennzahl entwickelt, sie setzt die Kurse am amerikanischen Aktienmarkt in Relation zum durchschnittlichen inflationsbereinigten Gewinn der Unternehmen in den letzten zehn Jahren. Derzeit liegt das Shiller-KGV bei 30,8 Punkten und auf erhöhtem Niveau. Ihren Höchststand erreicht die Kennzahl zu Zeiten des Dotcom-Booms Ende der 1990er Jahre mit Werten von über 40.

Die hohen Aktienkurse sorgten dafür, dass sich die Vermögen der privaten Haushalte in den USA auf einem hohen Stand befänden, sagt Chancellor. «Ein grosser Teil der Vermögen in den USA ist Blasen-Wohlstand, er wurde wurde von den ultraniedrigen Zinsen geschaffen.» Es sei davon auszugehen, dass es hier noch zu Anpassungen kommen werde.

Höhere Zinsen drohen bei Hypotheken

Auch am Immobilienmarkt zeigten sich die Spuren der ultraexpansiven Geldpolitik. Als Beispiel nennt Chancellor sein Heimatland Grossbritannien. Aufgrund der niedrigen Hypothekarzinsen hätten sich Immobilienkäufer dort viel stärker verschuldet als in der Vergangenheit. «Nun sind sie verletzlicher, was höhere Hypothekarzinsen angeht.» Viele von ihnen hätten Hypotheken abgeschlossen, bei denen der Zins nur für eine kurze Laufzeit fix sei, beispielsweise für zwei Jahre. Nach Ablauf der Frist drohten den Immobilienkäufern dann höhere Zinszahlungen. Dies könne dazu führen, dass sich manche ihre Liegenschaft dann nicht mehr leisten könnten und sie verkaufen müssten.

«Die Immobilienpreise in Grossbritannien sehen vor diesem Hintergrund sehr teuer aus», sagt Chancellor. In den USA hätten die Immobilienbesitzer länger laufende Hypotheken als in Grossbritannien. Hier sei indessen damit zu rechnen, dass die Aktivität am Immobilienmarkt nachlässt. «Angesichts der höheren Hypothekarzinsen können sich viele einen Immobilienkauf nicht mehr leisten.»

Hundertjährige Staatsanleihe von Österreich im Fokus

Aus der ehemaligen grossen Anleihen-Blase ist laut Chancellor hingegen bereits einige Luft entwichen. Als Beispiel dafür nennt er die viel zitierte hundertjährige österreichische Staatsanleihe, die im Jahr 2017 emittiert wurde. Bei ihrer Emission waren die Investoren aufgrund der ultraniedrigen Zinsen händeringend auf der Suche nach Rendite und wählten immer längere Laufzeiten. Der österreichische Staat nutzte dies damals aus und begab die genannte Anleihe.

Aufgrund der ultralangen Laufzeit reagiert das Papier besonders empfindlich auf Veränderungen bei den Zinsen – sein Kurs hat in den vergangenen Monaten massiv nachgegeben. Stieg dieser nach der Ausgabe der Papiere stark an und notierte im März 2020 auf ein Höchst von 237 Prozent, so fiel er 2022 massiv bis auf einen Tiefstwert von knapp unter 60 Prozent. Derzeit notiert er bei 72 Prozent. Der Nennwert einer Anleihe liegt bei 100 Prozent. Am Anleihemarkt legen Renditen zu, wenn die Kurse fallen – und andersherum.

Chancellor geht davon aus, dass die Renditen am Bond-Markt höher bleiben beziehungsweise steigen. Dies hänge auch mit der Entwicklung der Inflation zusammen. Er rechnet für die kommenden Jahre mit weiteren Teuerungsschüben. «Die Inflation wird weiterhin wellenartig steigen, anstatt auf das 2-Prozent-Ziel vieler Notenbanken zurückzugehen», sagt er.

Chancen für Anleger bei Anleihen

Für Investoren sieht der Wirtschaftshistoriker auch im derzeitigen Umfeld durchaus Chancen. Chancellor sieht gute Anlagemöglichkeiten am Anleihenmarkt, vor allem bei inflationsgeschützten Anleihen in Grossbritannien und den USA. Auch bei Value-Aktien aus Europa, Grossbritannien und Japan gebe es Renditechancen. Value-Titel sind bei Anlegern oft wenig beliebt und folglich günstig bewertet. Zudem erhalten die Anleger bei diesen Titeln oft hohe Dividenden.

Auch bei Schwellenländer-Aktien sieht Chancellor Chancen, wenn man vom chinesischen Markt absehe. Der Wirtschaftshistoriker verweist auf die dortige Immobilienkrise und die «enorme Immobilienblase», die sich im Reich der Mitte gebildet habe und aus der momentan die Luft entweiche.

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