Mittwoch, Oktober 9

Seit dem Hamas-Massaker hat die Judenfeindlichkeit in Österreich drastisch zugenommen. Das zeigt sich etwa an Wiener Schulen. Oft stehen die Jugendlichen unter Einfluss islamistischer Influencer.

Seit dem Terrorakt der Hamas am 7. Oktober hat Adam regelmässig Diskussionen mit seiner Mutter. Sie hält es für gefährlich, dass der 16-Jährige die Kippa auch im Alltag trägt. Wenn er im jüdischen Viertel im 2. Bezirk Wiens unterwegs sei, sprächen ihn auch immer wieder Mitglieder der jüdischen Gemeinde an und rieten ihm, die Kopfbedeckung sicherheitshalber unter einer Kappe zu verstecken, erzählt der Jugendliche. Oder sie wendeten sich deswegen direkt an seine Eltern.

In den besonders aufgeladenen Wochen nach dem Massaker trug Adam, der eigentlich anders heisst, tatsächlich eine Weile Caps oder Mützen. Inzwischen ist er aber mit der Kippa wieder als Jude erkennbar. Für riskant hält er das nicht. Wo er wann hingeht, überlegt er aber schon. «Abends würde ich nicht allein nach Favoriten gehen», meint Adam in Anspielung auf den migrantisch geprägten Stadtteil, der in den vergangenen Monaten mit Jugend- und Bandenkriminalität Schlagzeilen machte.

«Eine Explosion antisemitischer Vorfälle»

Der Teenager, der sich selbst als religiös bezeichnet, ist Judenhass gewohnt. Schon als Kind erlebte er, dass wegen seiner Religion einem anderen Buben vom Vater verboten wurde, mit ihm zu spielen. Mit dem Gaza-Krieg sind die Anfeindungen aber viel häufiger geworden. Meistens werde ihm hinterhergerufen, erzählt Adam. Tätlich angegriffen wurde er glücklicherweise noch nie.

Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), Oskar Deutsch, spricht sogar von einer «noch nie da gewesenen Explosion antisemitischer Vorfälle» in Österreich. Seit 2008 veröffentlicht die IKG den Antisemitismusbericht, und mit fast 1200 wurde im letzten Jahr eine rekordhohe Zahl von Vorfällen registriert.

Allerdings gebe es eine Zeit vor dem 7. Oktober und eine Zeit danach, wie Deutsch bei der Präsentation des neusten Berichts erklärte. Bis und mit September bewegten sich die Werte im langjährigen Durchschnitt, bevor sie sich nach dem Hamas-Überfall mehr als verfünffachten auf durchschnittlich acht gemeldete Vorfälle pro Tag – bei einer mutmasslich hohen Dunkelziffer. Dazu zählen verschmierte Wände, Drohungen, antisemitische Parolen an Palästina-Kundgebungen und heruntergerissene Israel-Flaggen. In Wien wurde im letzten Herbst die Scheibe einer koscheren Metzgerei eingeschlagen und ein Brandanschlag auf den jüdischen Teil des Zentralfriedhofs verübt.

Vor dem Hintergrund der österreichischen Geschichte ist das Entsetzen in der Politik jeweils gross. Die konservativ-grüne Regierung stellt sich bedingungslos an die Seite Israels, nach dem Hamas-Massaker liess sie sogar die israelische Fahne auf dem Kanzleramt hissen. Sie hat den Kampf gegen Antisemitismus zu einer Priorität gemacht. Als erstes EU-Land beschloss Österreich dafür 2021 eine nationale Strategie.

Dennoch ergab eine kürzlich präsentierte und noch vor dem 7. Oktober durchgeführte Studie der EU-Grundrechteagentur, dass fast ein Drittel der Juden und Jüdinnen in Österreich aus Sicherheitsgründen darauf verzichtet, in der Öffentlichkeit durch Symbole erkennbar zu sein. 76 Prozent geben an, die Judenfeindlichkeit habe in den letzten fünf Jahren zugenommen.

«Hipster-Islamisten» beeinflussen die Jugend auf Tiktok

Es kann nicht erstaunen, dass sich das auch an den Schulen zeigt – insbesondere in Wien, wo Musliminnen und Muslime mit 35 Prozent mittlerweile die grösste religiöse Gruppe bilden. Schon vor dem Hamas-Überfall zeigte eine Untersuchung des österreichischen Parlaments, dass Antisemitismus bei türkisch- und arabischsprachigen Jugendlichen besonders stark verbreitet ist. Sie bekommen von der Familie, aus den zu Hause konsumierten Medien oder in den sozialen Netzwerken oft eine einseitige Sicht auf den Nahostkonflikt vermittelt.

In dieser sind die Palästinenser ausschliesslich Opfer und die Israeli Täter. Die Lehrerin einer vierten Klasse in der Wiener Innenstadt erzählt, dass auf der im Klassenzimmer hängenden Landkarte Israel übermalt worden sei. Andere Lehrer berichten von Schmierereien auf den Schultoiletten oder im Gang gezeigtem Hitlergruss. Adam wird an der Handelsakademie, die er besucht, oft «Free Palestine» zugerufen. Einmal prangte sogar ein Hakenkreuz an der Wandtafel des Klassenzimmers.

Alltag sind zudem vor allem über Tiktok geteilte Videos, die Israel-Hass und Terrorpropaganda verbreiten. Der Antisemitismusbericht der IKG nennt die Plattform einen Brandbeschleuniger mit «destruktiver und gefährlicher Wirkung». Äusserlich modern erscheinende «Hipster-Salafisten» hätten mit ihrer zeitgemässen Bildsprache eine grosse Attraktivität für junge Menschen, stellt auch Österreichs Dokumentationsstelle Politischer Islam fest. Vor allem Jugendliche im deutschsprachigen Raum seien für diese islamistischen Influencer eine zentrale Zielgruppe.

Aus Angst, sich positionieren zu müssen und die Klasse gegen sich aufzubringen, thematisieren viele Lehrerinnen und Lehrer den Gaza-Krieg gar nicht, obwohl er die Kinder beschäftigt. Einige befürchten sogar tätliche Übergriffe, wie der Lehrergewerkschafter Thomas Krebs gegenüber dem Magazin «Profil» sagte. Dennoch wäre es fatal, zu schweigen. Konflikte aufzuarbeiten, sei Teil des Berufs, erklärt er.

Aber wie? Der Bildungsexperte Daniel Landau hat selbst 25 Jahre unterrichtet und schulte in den vergangenen Monaten Lehrerinnen und Lehrer im Umgang mit dem 7. Oktober in ihren Klassen. Der Krieg sei eine weitere Herausforderung für ohnehin überaus belastete Schulen, meint er. Es herrsche ein akuter Mangel an Lehrkräften, nach wie vor bestehe bei vielen Kindern Aufholbedarf wegen der Pandemie, und sehr viele Wiener Primarschüler sprächen zu Hause nicht Deutsch.

Um zusätzliche Probleme zu vermeiden, scheuten tatsächlich viele das Thema, sagt Landau. Er habe in seinen Schulungen auch verzweifelte Lehrkräfte gehabt, die mit der Situation überfordert gewesen seien. Für ein funktionierendes Zusammenleben sei es aber wichtig, die hiesigen Werte zu vermitteln.

Dazu gehöre, zunächst jeder Verherrlichung oder Relativierung von Gewalt entgegenzutreten. Dann gelte es, die Geschichte und damit Österreichs besondere Position zu erklären. Das müsse aber mit Empathie und Wertschätzung geschehen, zumal einige der Kinder selbst Krieg und Vertreibung erlebt hätten. «Entsetzen über die Lage im Gazastreifen muss man genauso zulassen wie dasjenige über das Hamas-Massaker», sagt der 60-Jährige, dessen Vater 1939 vor den Nazis aus Wien fliehen musste und zeitweise in Israel lebte.

Auch Landau sieht in Tiktok eine grosse Gefahr, da sich über die Plattform massiv islamistische Propaganda an den Schulen verbreite. Er empfiehlt deshalb, zu thematisieren, wie die Algorithmen der sozialen Netzwerke funktionieren. Und schliesslich sei es auch in Ordnung, dass sich Lehrkräfte bei diesem Thema Hilfe holten, findet der Pädagoge. Dafür gibt es ein breites Angebot. Das Bildungsministerium unterstützt etwa Schulbesuche der wenigen noch lebenden Zeitzeugen des Holocausts, an denen einst auch Landaus Vater teilgenommen hatte. Die Stadt Wien bietet zudem Hunderte von schulischen und ausserschulischen Workshops an, in denen auch Judenfeindlichkeit thematisiert wird.

Antisemitische Vorurteile sind oft Folge von Unwissen

Adam engagiert sich auch selbst im Kampf gegen Antisemitismus. Er ist einer von knapp 180 jüdischen Jugendlichen, die seit 2015 im Rahmen des Programms Likrat der Jugendabteilung der IKG unter anderem Schulen besuchen und dort Einblicke in das Judentum geben. Das Dialogprojekt wurde schon vor über zwanzig Jahren vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund lanciert und diesen Frühling gemeinsam mit dem österreichischen Pendant vom Parlament in Wien mit dem Simon-Wiesenthal-Preis ausgezeichnet. Sogenannte Likratinos und Likratinas werden ein Jahr lang ausgebildet, um dann Gleichaltrigen eine für diese oft völlig unbekannte Welt zu vermitteln.

In den Zusammentreffen werden die jüdischen Jugendlichen ganz direkt mit Stereotypen über ihre Religionsgemeinschaft konfrontiert. Der 17-jährige Rafael wurde bei Schulbesuchen öfter gefragt, ob es stimme, dass Juden keine Steuern zahlen müssten. Überhaupt herrsche sehr oft die Vorstellung vor, sie kontrollierten die Finanzwelt. Rafael entkräftet dann nicht nur diese Vorurteile, sondern erklärt auch, warum sie vor Jahrhunderten entstanden sind, als für Christen ein Zinsverbot galt.

«Oft ist schlicht Unwissen und nicht Böswilligkeit der Grund für solche Aussagen», sagt Adam. Dies stützt auch die Untersuchung des österreichischen Parlaments: Antisemitische Tendenzen sind verbreiteter bei Menschen, die wenig über das Judentum und Israel wissen. Die Likratinos und Likratinas erzählen deshalb über jüdisches Essen und Feiertage, wie sie die Regeln des Sabbat einhalten und welche Ausprägungen an Frömmigkeit es gibt.

Häufig würden banale Fragen gestellt, erzählt Adam. «Wozu die Kippa sei, zum Beispiel.» Manchmal sind sie aber auch abstrus. Rafael wurde in einer Klasse einmal gefragt, ob Juden tatsächlich Hörner hätten. Ein Likratino nahm dann einfach seine Kopfbedeckung ab, anstatt zu antworten. Sie hätten alle gelacht.

Um Politik geht es dagegen eher selten bei den Schulbesuchen. Meistens seien die Kinder und Jugendlichen schüchtern, sagt Adam. Er ist aber auf Anfeindungen vorbereitet und erklärt jeweils, dass es auch in der jüdischen Gemeinde und selbst in Israel die unterschiedlichsten Haltungen zum Gaza-Krieg gebe. Viele nähmen Anteil am Leid der Palästinenser. «Juden und Araber sind sich ja eigentlich nahe», meint Rafael. In den Klassen stosse er jeweils auf Erstaunen, wenn er hebräische Wörter nenne, die ähnlich lauteten wie die arabischen. Schalom und Salam etwa für Frieden.

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