Mittwoch, Oktober 2

Ein Arzt ist vom Obergericht wegen Schändung zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt worden. Viel einschneidender für ihn ist allerdings ein obligatorisches lebenslängliches Tätigkeitsverbot.

Schon die Umstände, die unbestritten sind, würden auf ein «unübliches, vertrauensvolles Verhältnis» zwischen dem Hausarzt und seiner Patientin hinweisen, wie es der vorsitzende Oberrichter bei der mündlichen Urteilseröffnung ausdrückt:

Die Konsultation in der Praxis im August 2020 fand nämlich um 19 Uhr 30 – nach den offiziellen Praxisöffnungszeiten – statt, als sich keine anderen Personen in der Praxis befanden. Bei der Besprechung im Behandlungsraum tranken die beiden zusammen Tee. Auch Wein soll der Arzt seiner Patientin zuvor angeboten haben.

Und am Schluss überreichte er ihr unbestrittenermassen zwei Hunderternoten in bar als «Rückerstattung» des 10-Prozent-Selbstbehalts ihrer Krankenkasse. Den Termin hatte er weder dokumentiert noch verrechnet.

Die Frau hatte den Hausarzt aufgrund von starken Kopfschmerzen aufgesucht. Der Mediziner soll die Patientin während der Konsultation dann gefragt haben, ob er ihren Nacken massieren könne. In der Anklageschrift steht, dass die beiden zusammen in ein separates Behandlungszimmer gingen, Zitat: «wo er ihr sagte, sie solle ihren BH ausziehen, er werde jetzt seine Arztrolle ablegen und das Folgende als Freund für sie machen, nicht, dass sie ihn anzeigen würde».

Während der anschliessenden Massage soll der Arzt die Patientin dann ohne deren Einverständnis im Intimbereich berührt haben. Die überraschte Frau sei in eine Schockstarre verfallen und habe sich nicht wehren können. Später soll er sie auch noch an den nackten Brüsten angefasst haben, als sie vor ihm stand.

Beschuldigter in kurzen Hosen

Das Bezirksgericht Winterthur verurteilte den Arzt, der heute Mitte vierzig ist, im Dezember 2022 wegen Schändung und sexueller Belästigung zu einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen à je 120 Franken und 2000 Franken Busse.

Es wurde ihm lebenslänglich jede berufliche oder organisierte ausserberufliche Tätigkeit im Gesundheitsbereich mit direktem Patientenkontakt untersagt. Dagegen ging der Mann vor Obergericht in Berufung.

Ungewöhnlich ist das Auftreten des Beschuldigten vor den Oberrichtern: Er trägt kurze Hosen, und seine nackten Füsse stecken in Jesussandalen. Er stellt sich selbst als Opfer dar, berichtet von grossem Stress, gesundheitlichen Problemen und Umsatzeinbussen aufgrund des Strafverfahrens. Seine Ehefrau wisse noch nichts vom Prozess.

Ein Berufsverbot wäre wie ein Todesurteil für ihn, erklärt er. Er identifiziere sich als Arzt und wolle der Gesellschaft ein Maximum zurückgeben. Wenn er ein Berufsverbot erhalte für eine Sache, «die nicht stattgefunden hat», müsse er die Konsequenzen ziehen und werde einem Staat, «der mich köpft», keine Steuern mehr bezahlen.

Auch im vorinstanzlichen Urteil stand, dass er sich durchgängig als «Opfer seiner Hilfsbereitschaft» dargestellt habe und der Privatklägerin vorwirft, zu wenig klar kommuniziert zu haben.

Zu den eigentlichen Tatvorwürfen macht der Beschuldigte vor Obergericht keine Angaben mehr. Es sei niederschmetternd, dass man ihm so etwas vorwerfe. Er würde sich nie an einer wehrlosen Person vergreifen, erklärt er. «Das hat sich einfach nicht zugetragen.»

Laut dem vorinstanzlichen Urteil stellt er sich auf den Standpunkt, es habe sich von Anfang an um eine Ganzkörper-Entspannungsmassage gehandelt. Von einer blossen Nackenmassage – wie von der Privatklägerin behauptet – sei nie die Rede gewesen. Er habe den Intimbereich und die Brüste nicht berührt. Er habe der Frau nur helfen wollen, weil sie sich eine Massage nicht habe leisten können.

Kein Handlungsspielraum für das Gericht beim Berufsverbot

Sein Verteidiger beantragt einen vollumfänglichen Freispruch. Er stellt zahlreiche Beweisanträge, welche zum Ziel haben, die Glaubwürdigkeit der Frau zu torpedieren. Es seien Akten der KESB und anderer Strafuntersuchungen beizuziehen. Die Frau habe psychische Probleme, die auf frühere Erlebnisse zurückzuführen seien. Sie habe unter massiven Übergriffen ihres Vaters gelitten. Ihre Aussagen könnten auf Autosuggestion oder Projektionen beruhen.

Sie habe nach der Strafanzeige 240 000 Franken Schadenersatz und Genugtuung verlangt, worin ein finanzielles Motiv für die Falschanschuldigung liegen könne. Ihre Aussagen seien widersprüchlich und die Beweiswürdigung der Vorinstanz sei willkürlich.

Das Obergericht lehnt alle Beweisanträge ab und bestätigt schliesslich nach einer längeren Urteilsberatung das vorinstanzliche Urteil. Der beschuldigte Arzt wird wiederum wegen Schändung und sexueller Belästigung zu einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 120 Franken bei einer Probezeit von zwei Jahren und 2000 Franken Busse verurteilt. Die Patientin erhält rund 1000 Franken Schadenersatz und 3000 Franken Genugtuung zugesprochen.

Die Schilderungen der Frau seien glaubhaft. Ihre Aussagen seien frei von unnötigen Belastungen und wirkten nicht einstudiert. Ein Hinweis auf ein finanzielles Motiv ergebe sich nicht. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts sei klar. Wenn eine Patientin auf dem Behandlungstisch beim Arzt bei ungewollten Handlungen im Intimbereich nicht sehe, was passiere, handle es sich um Schändung, erklärt der vorsitzende Richter.

Das Tätigkeitsverbot sei die Folge davon. Da habe das Gericht gar keinen Ermessensspielraum. Der Gesetzgeber habe eine derart strikte Lösung gewollt. Das Gericht sei zur Verhängung des Tätigkeitsverbots gezwungen. Es sei ein Automatismus. Eine Härtefallregelung wie beim obligatorischen Landesverweis gebe es nicht.

SB230247 vom 10. 7. 2024, noch nicht rechtskräftig.

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