Mittwoch, Dezember 4

Die Geschichte eines ungewöhnlichen Geschenks.

Wäre alles normal gelaufen, dann hätte Ernst Suter heute sein Haus nicht mehr. Suter, der zeit seines Lebens gearbeitet hat, wäre wohl ein Sozialfall. Mit Sicherheit wäre er hoch verschuldet.

Denn Suters Zürcher Wohngemeinde hatte ihn, den Hilfsarbeiter, jahrelang besteuert, als hätte er einen Bundesratslohn. Und Suter zahlte jahrelang. Dem Frieden zuliebe, wie er sagt. Bis er finanziell am Ende war.

Aber Suter hat sein Haus noch. Weil die Bewohnerinnen und Bewohner seines Dorfes bereit waren, ihm ein Geschenk zu machen, wie man es selten sieht – eine Viertelmillion Franken.

Zehn Jahre ist das her. Wenn Ernst Suter heute daran zurückdenkt, sagt er: «Mich erstaunt, dass es damals zu meinen Gunsten ausging.»

Die Geschichte, wie Ernst Suter zu seinem Geld kam, ist fast so verrückt wie jene, warum er es überhaupt verloren hat.

Ein Stapel voller ungeöffneter Briefe

Sie beginnt in den nuller Jahren. Suter ist damals Mitte dreissig, ein Hilfsarbeiter, angestellt beim Schlachthof Hinwil. Er gilt als fleissig. Nach der Arbeit sieht man ihn oft im eigenen Wald bei Holzarbeiten.

Suter stammt aus Dürnten, einem Dorf im Zürcher Oberland am Fusse des Bachtels. 7500 Einwohnerinnen und Einwohner, bäuerlich geprägt, heute in erster Linie Wohngemeinde von Leuten, die auswärts arbeiten. Die Familie Suter ist hier schon lange ansässig, sie besitzt viel Land. Land, das im Zeitalter der Einzonungen wertvoll geworden ist.

Ernst Suter ist Legastheniker. Als Kind ist er ein schlechter Schüler. Als Erwachsener gilt er im Dorf als Einzelgänger. Als einer, den man schätzt, der aber seine eigenen Wege geht. Suter redet nicht viel. Deshalb wissen nicht einmal seine Mutter und seine Geschwister von dem Problem, das er mit sich herumträgt: Zeit seines Lebens hat Suter keine einzige Steuererklärung ausgefüllt.

Niemand ahnt, dass in dem alten Bauernhaus in Oberdürnten eine Zeitbombe tickt. Dort stapeln sich die Briefe vom Steueramt, ungeöffnet. Weil er keine Steuererklärung einreicht, schätzt ihn das Steueramt ein. Und schraubt diesen Betrag jedes Jahr in die Höhe.

Zuerst sind es Tausende, dann Zehntausende von Franken. Dies unter der Annahme, dass sich der Eingeschätzte schon wehren würde, wenn die Einschätzung zu hoch ausgefallen wäre. Es ist ein übliches Vorgehen. Ein Automatismus, der nicht damit rechnet, dass es Leute wie Ernst Suter gibt.

Suter hat ein schlechtes Gewissen. Darum zahlt er Jahr für Jahr, was die Gemeinde von ihm fordert. Später wird er sagen, er habe eigentlich gewusst, dass es nicht gut ausgehen könne.

Eines Tages, im Herbst 2013, fällt einem Mitarbeiter auf dem Betreibungsamt ein wortkarger Mann am Schalter auf. Er legt Bündel mit grossen Banknoten auf den Tisch. Dem Betreibungsbeamten kommt es seltsam vor, dass ein einfacher Arbeiter so viele Steuern zahlen muss. Er kontaktiert eine Bekannte seiner Frau, die Treuhänderin ist, an. Sie solle einmal bei Suter nach dem Rechten schauen. Barbara Schnyder heisst sie.

Sie beginnt mit Aufräumen in Suters altem Bauernhaus. Und erkennt rasch das Ausmass des Schlamassels.

Das Steueramt fordert über hunderttausend Franken

Suter bringt einen Hilfsarbeiterlohn nach Hause. Doch das Steueramt schätzt sein Jahreseinkommen auf 480 000 Franken. Die Steuerrechnung beträgt 123 777 Franken und 15 Rappen. Das kann er unmöglich bezahlen.

Schnyder gelingt es, die aktuelle Steuerrechnung anzufechten. Sie sinkt um über 120 000 Franken auf 3300 Franken. Aber das viele Geld, das er in den Jahren davor bezahlt hat, ist weg. Weil er die jeweils gesetzte Einsprachefrist ungenutzt hat verstreichen lassen, ist das Verdikt endgültig.

Schnyder kontaktiert Steueranwälte. Sie sagen ihr, das Steuerrecht sei strikt. Ein Mörder habe mehr Gnade zu erwarten als ein Steuerzahler mit verpasster Einsprachefrist.

Schnyder kämpft trotzdem für Suter. Heute sagt sie: «Jedes Mal, wenn ich den Fall für eine Weile ruhen liess, packte er mich immer wieder von neuem. Ich fand es so ungerecht.» Im Geschäftsleben sei es üblich, dass man zu viel bezahltes Geld zurückerhalte. Die Erkenntnis, dass es bei den Steuern anders sei, habe sie schockiert. «Der Staat bereichert sich ungerechtfertigt.»

Sie schreibt Bundesrat Ueli Maurer, der wie sie aus Hinwil stammt, einer Nachbargemeinde Dürntens. Maurer will helfen. Aber alles, was er ihr rät, hat Schnyder bereits versucht. Es bleibt als letzte Möglichkeit der Gang an die Öffentlichkeit. Obwohl Schnyder das Rampenlicht nicht liebt – und Ernst Suter schon gar nicht.

Der «Beobachter» macht aus dem Fall im Herbst 2014 einen Dokumentarfilm. Das Echo ist riesig.

Am grössten ist die Empörung in Dürnten selbst.

Denn die Dürntner wissen, dass die Gemeinde Ernst Suter ein grosses Stück Land abgekauft hat. Darauf steht heute ein Mehrzweckgebäude. Das Geld, das die Gemeinde Suter für sein Land bezahlte, holt sie per Steuerrechnung wieder von ihm zurück – so erscheint es vielen. Von Abzocke ist die Rede.

Beim Landverkauf stand Suter in engem Kontakt mit Gemeindevertretern. Dass die Gemeinde nun nicht wissen will, wer Ernst Suter ist, erscheint den Leuten als unglaubwürdig.

Dürntner Bürgerinnen und Bürger gründen die «IG Ernst Suter». Die meisten Mitglieder kennen Ernst Suter nicht persönlich. Es geht ihnen um die Sache.

«Verantwortlich sind Sie!»

Dürnten wird damals vom Gemeindepräsidenten Hubert Rüegg, FDP, geführt. Distanziert und von sich selbst überzeugt – so beschreiben ihn Zeitgenossen. Romeo Marinoni, damals als Präsident der lokalen CVP eine wichtige Stimme im Dorf, sagt heute über ihn: «Was er sagte, galt. Und fertig.» Sein Führungsstil habe vielen im Dorf missfallen, und das lange vor dem Fall Suter.

Als der Fall publik wird, schlägt dem Gemeindepräsidenten Hass entgegen. Er kann in der Dorfbäckerei kein Gipfeli mehr kaufen, ohne angesprochen oder beschimpft zu werden.

Aber Rüegg weicht keinen Zentimeter von seinem Standpunkt ab. Er sieht die Gemeinde im Recht und Suter im Unrecht. Einmal kommentiert er sein Vorgehen vor Journalisten so: «Qui s’excuse, s’accuse.» Wer sich entschuldigt, der klagt sich an.

Und Rüegg hat juristisch gesehen recht. Die Gemeinde hat keine Möglichkeit, an den Steuereinschätzungsentscheidungen der Vergangenheit zu rütteln.

Dann jedoch erscheint ein Artikel im «Zürcher Oberländer», in dem ein Mitarbeiter des kantonalen Gemeindeamts zu den Möglichkeiten einer Schenkung befragt wird.

Engagierte Bürger greifen die Idee auf: Man solle Suter das Geld kurzerhand spenden.

Der Gemeindepräsident lehnt dies kategorisch ab.

An der Budgetgemeindeversammlung vom 6. Dezember 2014 fällen die Stimmberechtigten ihren Entscheid. 400 Leute kommen in die Mehrzweckhalle Blatt, viermal so viel wie üblich. Der Gemeindepräsident ermahnt die Anwesenden, auf Applaus zu verzichten, wenn ihnen Voten gefielen, denn dies verzerre die Meinungsbildung.

Hubert Rüegg mahnt, die Schenkung werde zu Steuererhöhungen führen. Und sagt: «Sind wir ehrlichen Steuerzahler verantwortlich für diejenigen, die keine Steuererklärung ausfüllen?»

«Verantwortlich sind Sie!», schimpft ein Votant zurück. «Sie haben das Geld Ernst Suter böswillig weggenommen.» Rüegg will erneut das Wort ergreifen, da fährt ihm ein Bürger übers Maul. «Jetzt wird ab­gestimmt, da gibt es keine Wortmeldungen mehr – auch nicht vom Gemeindepräsidenten.» Kurz darauf ist die Schenkung von 250 000 Franken Tatsache.

Barbara Schnyder erinnert sich an den Wirbel von damals, an unzählige Medienanfragen, eine sogar vom ZDF. Doch da habe sie abgesagt: «Ich wollte nicht, dass die Schweiz in einem schlechten Licht dasteht.»

Einmal, nach einer Wanderung, sei sie in einem Restaurant in Näfels eingekehrt, da habe man sie erkannt. Die Leute seien aufgestanden und hätten geklatscht.

Doch versöhnt ist Schnyder nur halbwegs. Ein Einsehen auf den Steuerämtern habe sie seit dem Fall Suter nicht festgestellt. Allein auf ihrem Pult sind in diesen zehn Jahren rund dreissig vergleichbare Fälle gelandet, bei denen es um die Existenz ging.

Für manche Steuerämter sei sie seit dem Fall Suter ein rotes Tuch, sagt Schnyder. In einer Zürcher Seegemeinde sei der Leiter einer Steuerbehörde um ein Haar handgreiflich gegen sie geworden. Auf ihre Initiative hin hat der Kanton mehrere Steuereinschätzungen überprüft. Schnyder sagt, sie habe bisher noch bei jeder Einsprache recht erhalten.

Oft stehe am Ursprung des Versäumnisses eine Lebenskrise. Und die Betroffenen schämten sich über ihr Unwissen. Auf den Steuerämtern würde sie oft von oben herab behandelt. Doch für den Staat sei nichts gewonnen, wenn man die Leute zu Sozialfällen mache. «Es müsste nicht dazu kommen, wenn Steueramtsmitarbeiter rechtzeitig das Telefon zur Hand nehmen und sich erkundigen würden, was eigentlich los ist.»

Schnyder betont, dass es auch tolle Steuerämter gebe. In Dürnten sei es heute ebenfalls besser. Dort habe sie der neue Gemeindeschreiber gebeten, sich zu melden, «wenn etwas sei». Auch der Steueramtsleiter ist nicht mehr derselbe. Und der Präsident Hubert Rüegg trat nach dem Fall Suter nicht mehr zur Wiederwahl an. Er ist vor einigen Jahren verstorben. Sein Nachfolger, ein Parteiloser, gilt als volksnah.

Das Geld auf dem Konto

Mitte November 2024 in Bassersdorf, Kanton Zürich. Eine staubige Strasse führt in ein Industriegebiet, Container sind unmittelbar am Waldrand aufgetürmt, ein Materiallager für Bauelemente. In einem leeren Container brummt eine Kaffeemaschine, zwei Stühle stehen bereit. Hier arbeitet Ernst Suter.

Suter ist noch immer kein Vielredner. Er sagt, er staune heute noch, wie alles ausgegangen sei. Und er sei allen dankbar, die ihm geholfen hätten. Das geschenkte Geld von damals liege grösstenteils noch auf seinem Bankkonto. Höchstens für Renovationen am Haus nehme er davon.

Suter trägt leuchtend orange Arbeitshosen und einen grünen Pullover. Er ist seit fünf Jahren als Allrounder für eine Firma tätig, die Konstruktionen für den Brückenbau erstellt. Er wirkt zufrieden. Die Steuern erledigt heute ein Treuhänder für ihn.

Suter ist noch immer ein Arbeiter. Und er wohnt noch immer im Haus seiner Grosseltern in Oberdürnten. In jenem Haus, das Barbara Schnyder und die Dürntner für ihn gerettet haben.

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