Sonntag, September 8


Gartenbesuch

Den meisten Autofahrern wird der Backsteinturm beim Vorbeifahren schon aufgefallen sein. Er gehört zum Painshill Garden und steht symbolisch für die unverdrossene Zuversicht seines Gründers Charles Hamilton.

Der schlanke Backsteinturm mit seinen mittelalterlichen Zinnen passt eher zu Rapunzel als an ein Autobahnkreuz südwestlich von London. Im Vorbeifahren sieht man ihn plötzlich auf einer leichten Anhöhe gleich neben dem Standstreifen stehen. Den meisten Autofahrern wird der Turm schon einmal aufgefallen sein, aber wahrscheinlich kennen die wenigsten von ihnen seine faszinierende Geschichte.

Der Turm gehört zu Painshill, einem der ältesten englischen Landschaftsgärten. Der Park ist das Lebenswerk von Charles Hamilton. 1704 wurde er als Sohn eines irischen Grafen geboren. Wie es sich für Männer seines Standes gehörte, brach er nach dem Studium zur Grand Tour, der klassischen Bildungsreise, auf. In Rom lernte er die Landschaftsgemälde von Claude Lorrain kennen. Diese waren bei den englischen Touristen beliebt, denn sie lieferten eine exakte Vorlage für eine ideale Landschaft, wie die damals neue Philosophie der Aufklärung sie sich vorstellte.

Nach seiner Rückkehr aus Italien begann Hamilton, diese Vision Realität werden zu lassen. Das war für ein Mitglied der Aristokratie im England des 18. Jahrhunderts nichts Besonderes. Aber Hamilton war das 14. Kind eines Adeligen mittleren Ranges, und das in einem Land, in dem traditionell der Erstgeborene Alleinerbe war. Es war also keine ideale Ausgangsbasis für finanzielle Unabhängigkeit, zumindest nicht für gigantische Ausgaben, wie ein 100 Hektaren grosser Landschaftsgarten sie erforderte.

Charles Hamilton nahm das anscheinend nicht als Hindernis wahr. 1738 kaufte er mit geliehenem Geld Land, durch das sich ein kleiner Fluss zog, und begann sogleich, diesen zu einem 5,5 Hektaren grossen See zu stauen. Hierzu entwarf er selbst eine hydraulische Apparatur, die das Wasser 5 Meter in die Höhe hob. Hamilton liess antike Tempel, eine chinesische Brücke, ein türkisches Zelt, den gotischen Turm und viele andere Schmuckbauten errichten.

Das waren die Fokuspunkte seines Landschaftsgemäldes. Die Vielfalt der Stile demonstrierte Weltgewandtheit und kunstgeschichtliches Wissen des Gartenbesitzers. Dann «malte» Hamilton den Rest mit Bäumen, Sträuchern und Rasenflächen aus. Hier bediente er sich wieder weltweit und pflanzte neu importierte Arten, vor allem aus Nordamerika. Das Resultat war eine Idylle, eine Landschaft, so natürlich wie das Land jenseits des Parks, nur noch schöner, interessanter, aufregender.

Was zufällig aussah, war natürlich präzise arrangiert, eine Aneinanderreihung von Tableaus, um ganz bestimmte Emotionen bei Besuchern zu erzeugen. Der Park bot einen Rundweg durch ein detailliert choreografiertes Erlebnisprogramm – auch heute noch. Nichtsahnend folgt man dem Weg durch eine Felsspalte, und plötzlich steht man in einer märchenhaft funkelnden Grotte. Diese schauderhaft schöne Welt wurde erst vor kurzem restauriert, wie alles hier in Painshill.

Charles Hamiltons Traum endete nämlich 1773 im Bankrott. Sein Park wurde damals verkauft, später aufgeteilt, und schliesslich verschwand er fast ganz. Eine Bürgerinitiative verhinderte in den 1970er Jahren, dass auch noch das Land direkt um den See zu Bauland wurde. Der Landkreis kaufte, was von Painshill übrig war, und überführte es in eine Stiftung, die den Landschaftsgarten seither wiederherstellt. Das Ergebnis ist nicht nur bei der Grotte eindrucksvoll.

Allerdings sieht man dem Park sein schweres Schicksal an, denn noch immer beschneidet die moderne Welt Hamiltons Landschaftsgemälde auf rabiate Art. Bei dem gotischen Turm wird das am deutlichsten.

Gerade wird das Autobahnkreuz erweitert. Konnte man den Turm bis vor kurzem von der Strasse aus nur schemenhaft zwischen dichten Tannen sehen, so steht er nun nur noch notdürftig verdeckt fast direkt neben der Fahrbahn. Es bleibt zu hoffen, dass der Park nicht noch einmal ganz verschwindet. Noch überdauert er wie ein Symbol für die unverdrossene Zuversicht, mit der Charles Hamilton diesen besonderen Ort entgegen allen Widrigkeiten schuf.

Exit mobile version