Mittwoch, Januar 8

Ein ungewöhnliches Verfahren vor dem Zürcher Bezirksgericht.

Seit Mai 2022 befindet sich ein heute 63-jähriger Schweizer Informatiker in Haft. Der Strafprozess gegen ihn platzte dreimal kurzfristig wegen eines Verteidigerwechsels und gesundheitlicher Probleme des Beschuldigten. Im Mai 2024 ging das Bezirksgericht Zürich auf Nummer sicher und liess den Mann, begleitet von zwei Sanitäterinnen und zwei Polizisten, auf einer Transportliege in den Gerichtssaal rollen. Der Mann verfolgte die Verhandlung liegend, verweigerte aber jede Aussage.

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Der Prozess musste damals unterbrochen werden, weil eine lange Verhandlung dem Beschuldigten nicht zumutbar sei. Der Beschuldigte lehnte den Vorschlag des Gerichts ab, sich von der weiteren Verhandlung dispensieren zu lassen. Er wolle hören, was die Parteien zu sagen hätten.

Mehr als ein halbes Jahr später wird der Prozess nun mit den Plädoyers fortgesetzt. Wieder wird der Informatiker von der Sanität ins Gerichtsgebäude gerollt. Diesmal verfolgt er das Geschehen aber nicht mehr direkt im Gerichtssaal, sondern über Videoschaltung in einem anderen Raum.

Ausgangspunkt einer Kette von unerfreulichen Ereignissen ist eine Strafanzeige seiner ehemaligen Lebenspartnerin. Der Vorwurf: Im Februar 2021 soll der Tessiner sie im Streit zweimal auf Italienisch mit dem Tod bedroht haben. Aneinandergeraten waren die beiden wegen einer Zimmerpflanze in der gemeinsamen Zürcher Wohnung.

Faustschläge ins Gesicht der Staatsanwältin

Im Mai 2022 hatte der Mann dann einen Termin bei der Zürcher Staatsanwaltschaft. Dort verstaute er seine Strafakten in einer Aktentasche und wollte damit gehen. Die zuständige Staatsanwältin forderte ihn mehrfach auf, dies zu unterlassen. Laut Anklage stiess der Mann die Staatsanwältin daraufhin zu Boden und traktierte sie während etwa zwanzig Sekunden mit heftigen Faustschlägen ins Gesicht.

Aufgrund der Schreie eilte eine Polizistin ins Büro. Der Beschuldigte soll auch sie zu Boden gestossen und – immer gemäss Anklage – mehrfach mit Fäusten traktiert haben. Durch einen Notausgang konnte der Mann zunächst flüchten.

Draussen versuchten ihn drei weitere Polizisten zu stoppen. Dabei soll der Informatiker nach einer entsicherten, schussbereiten Dienstwaffe eines der Beamten gegriffen haben.

Im Januar 2024 soll der Beschuldigte im Gefängnis zweimal mit einer Aluminiumkrücke gegen den Kopf eines Aufsehers geschlagen haben.

Der Staatsanwalt beantragt eine Freiheitsstrafe von 39 Monaten wegen versuchter schwerer Körperverletzung, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, Gefährdung des Lebens und weiterer Delikte; hinzu kommt die Anordnung einer stationären Behandlung zur Behandlung psychischer Störungen im Sinne von Artikel 59 des Strafgesetzbuches, im Volksmund «kleine Verwahrung» genannt.

Der Beschuldigte hatte allerdings in der Strafuntersuchung die Mitwirkung an einem psychiatrischen Gutachten verweigert. Der Gutachter kam zu dem Schluss, dass eine psychische Störung naheliegend sei. Ohne die Mitwirkung des Beschuldigten und den Beizug früherer Krankenakten, für die kein Einverständnis vorliege, könne er aber keine zuverlässige Diagnose stellen.

Verteidiger verlangt Straflosigkeit

Der Verteidiger benennt den heutigen Gesundheitszustand seines Mandanten als Spätfolgen des angeblich brutalen Vorgehens der Polizisten bei der Verhaftung im Mai 2022. Jedenfalls müsse dies «in dubio pro reo» angenommen werden. Sein Mandant könne nur drei Minuten sitzen. Ein MRI habe im Dezember 2023 einen Bandscheibenvorfall, zwei Bandscheibenwölbungen und weitere Befunde zutage gefördert.

Der Beschuldigte sei schon genug bestraft, leide auch heute noch schwer. Deshalb müsse selbst bei einer Verurteilung von einer Strafe abgesehen werden, im Sinne von Artikel 54 des Strafgesetzbuches. Der Anwalt verlangt 300 Franken für jeden Tag Überhaft als Genugtuung und zusätzlich 500 Franken pro Hafttag als Erwerbsausfall.

Dass der Beschuldigte die Staatsanwältin mit Faustschlägen traktiert habe, sei zwar unbestritten. Es seien aber höchstens «mittelstarke Schläge» gewesen. Das Opfer habe nur Blutergüsse und Schwellungen im Gesicht erlitten. Das sei keine schwere Körperverletzung.

Von allen anderen Vorwürfen sei der Mann freizusprechen. Schläge gegen die Polizistin habe es nicht gegeben. Die Beamtin sei ihm vielmehr selber überraschend in den Weg gesprungen. Bei der Auseinandersetzung mit den übrigen drei Polizisten habe der Beschuldigte Pfeffergel im Auge gehabt, praktisch nichts gesehen und verzweifelt versucht, sich abzustützen, um das Gleichgewicht zu halten. Da sei er wohl unabsichtlich an die Waffe gekommen.

Im Übrigen seien die Vorwürfe seiner ehemaligen Lebenspartnerin alle frei erfunden. Sie habe ihn falsch angeschuldigt. Das Motiv dafür sei finanzieller Natur. Da keine psychische Störung diagnostiziert worden sei, könne auch keine stationäre Massnahme angeordnet werden.

Das Urteil wird für nächste Woche erwartet.

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