Montag, September 30

Geschichte einer Eskalation.

Mitten in der Nacht erhält Aaron Singer (Name geändert) eine Nachricht von der Vermieterin seines Ferienappartements in Zürich. Es ist der 26. Juli, 2 Uhr 22, und die Frau, die sich Anna nennt, schreibt ihm auf Englisch eine Whatsapp-Nachricht. Es gehe um seine Buchung für den nächsten Sonntag.

Sie habe eine Frage, bevor er reise: «Was passiert in Gaza? Wie kann Ihre Regierung Tausende unschuldige Palästinenser töten?»

Aaron Singer weiss nicht, wie ihm geschieht. Tags zuvor hat der israelisch-schweizerische Doppelbürger über die Online-Buchungsplattform booking.com die Unterkunft gebucht. Wie immer, wenn er ins Ausland reisen will.

Die Reise nach Zürich hat Tradition. Singer ist in der Schweiz aufgewachsen, jedes Jahr besucht er die alte Heimat. Diesen Sommer will er mit Familie und Enkeln von Israel in die Schweiz in die Ferien fliegen. Nie hatte er zuvor Probleme bei der Buchung, nie war seine Herkunft ein Thema. Doch dieses Mal ist es anders. «Ich war ziemlich empört. So etwas ist mir noch nie passiert», sagt Singer.

Für ihn sei sofort klar gewesen: «Bei so jemanden will ich nicht bleiben.» Was er da noch nicht weiss: Anna ist die Geschäftsführerin des Appartement-Anbieters.

«Man kann nicht mehr schweigen»

Der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober und der Einmarsch der israelischen Armee in Gaza haben das Leben von Jüdinnen und Juden verändert. Weltweit. In der Schweiz. In Zürich.

Die Zahl der antisemitischen Vorfälle ist seither sprunghaft angestiegen. Es sind Schmierereien, verbale Attacken, aber auch physische Gewalt. Der schlimmste Vorfall ereignete sich Anfang März. Damals stach ein 15-jähriger Teenager, der sich zur Terrormiliz Islamischer Staat bekannte, in Zürich auf einen orthodoxen Juden ein und verletzte diesen schwer.

Und vor wenigen Tagen versuchte ein psychisch verwirrter Mann, die Synagoge in Zürich Wiedikon in Brand zu setzen. Er goss vor dem Gotteshaus Benzin aus, konnte jedoch vom Sicherheitsdienst der Synagoge gestoppt werden.

Die Schweiz galt für Juden immer als sicherer Hafen, doch jetzt fragen sich viele: Wie lange noch?

Das ergeht auch Aaron Singer so. Er wählt eine eigene Strategie.

Er überlegt sich, was er tun soll. «Konkret wollte ich zwei Dinge», sagt er. «Mein Geld zurück. Und dass das Unternehmen bei Booking rausfliegt.»

Singer geht es aber noch um etwas anderes. Um etwas Prinzipielles. Er sagt: «Wir Juden müssen stark sein, sonst könnten sich schlimme Dinge wie der Holocaust wiederholen.» Es gebe Vorkommnisse, gegen die man sich wehren müsse. «Man kann nicht mehr schweigen.»

Die Strategie: Provokation

Nach der seltsamen Nachricht seiner Vermieterin nimmt Singer mit einer jüdischen Organisation Kontakt auf, die ihm einen Anwalt vermittelt. Dieser schlägt ihm eine Strategie vor: Provokation. Singer sagt: «Er meinte, ich solle die Person so fest ärgern wie möglich.»

Sieben Stunden später antwortet er Anna. Er schreibt auf Deutsch:

«Unschuldige jüdische Zivilisten wurden von Hamas-Terroristen abgeschlachtet. Ich bin ein israelischer Soldat in Gaza und tötete während des Krieges Dutzende von Terroristen mit Blut an den Händen. Ich bin jetzt im Norden Israels als Soldat, um auch gegen die Hizbullah zu kämpfen, die ständig die nördlichen Siedlungen bombardieren und dabei unschuldige Zivilisten verletzen und töten.»

Es ist ein Bluff. Singer ist 58 Jahre alt und schon lange kein Soldat mehr. Früher kämpfte er jedoch tatsächlich. In Jenin im Westjordanland. Er wisse, wie es sich anfühle, wenn die israelische Armee auf Bombardierungen verzichte und stattdessen die Infanteristen ins Feld schicke, erzählt er. Er sei mit seiner Einheit in einen Hinterhalt geraten, 13 Kameraden hätten bei den Kämpfen ihr Leben verloren. Die Realität in den palästinensischen Gebieten werde bis heute in vielen westlichen Filmen und Medien falsch wiedergegeben.

Er findet deshalb die gewählte Strategie legitim, wie er sagt. Schliesslich sei er zuerst von der Vermieterin angegangen worden. Er versichert, die Aussage, er sei ein Soldat im Krieg, sei die einzige Übertreibung gewesen, die er geschrieben habe.

Die Provokation verfehlt ihre Wirkung nicht. In den nächsten Stunden eskaliert der Chat mit der Vermieterin vollends. Der Verlauf liegt der NZZ vor.

Fünf Minuten später antwortet Anna auf die Provokation. Der Ton wird gehässiger. «Was ihr in Gaza tut, ist kriminell. Es macht mich krank, wenn ich daran denke, dass solche Leute zu uns kommen. Bleibt, wo ihr seid. Die Welt wird die Stimme gegen Israel erheben.»

«Ich würde gerne sehen, wie Ihr Land reagieren würde, wenn Terroristen grundlos unschuldige Menschen angreifen und abschlachten», hält ihr Singer entgegen. Hier gehe es um einen Krieg der demokratischen Zivilisation gegen das pure Böse.

Das wiederum lässt Anna nicht gelten. Sie schreibt: «Ihr Volk hat das Land des palästinensischen Volkes gestohlen und jetzt tötet ihr alle bis auf den letzten. Euer Volk ist in die Fussstapfen von Hitler getreten.» Ob Singer tatsächlich glaube, dass ein Mörder etwas bei ihr zu suchen habe?

Irgendwann reicht es Singer. Er verlange eine klare Antwort von ihr, schreibt er Anna. «Respektieren Sie mich als stolze jüdische Person oder nicht?»

Die Antwort: «Wenn Sie sich dafür entschuldigen, was in Gaza passiert, dann würde ich Sie als Menschen betrachten. Aber sie haben kein Erbarmen mit ihnen, Sie sind schlimmer als Tiere.»

Nach fünf Stunden endet der Schlagabtausch mit der Stornierung der Buchung.

Bei den Schweizer Israel-Freunden sorgt der Vorfall für Besorgnis. Ihm habe es die Sprache verschlagen, als er von dem Vorfall gehört habe, sagt Walter Blum, Zentralsekretär der Gesellschaft Schweiz-Israel. Blum spricht von einer neuen Dimension. «Ein Hotelbetrieb in Zürich, der so mit einem Gast umspringt, das ist unfassbar. Und es ist nicht tolerierbar.»

So ein Vorfall müsse auch die Stadtbehörden hellhörig werden lassen, sagt Blum. «Der Stadtrat sollte dem Antisemitismus endlich unmissverständlich entgegentreten.» Zürich sei nicht so tolerant und weltoffen, wie viele Politiker vorgäben.

«Ich habe in dem Moment sehr emotional reagiert»

Die zentrale Frage lautet: Weshalb lässt sich die Anbieterin der Ferienappartements zu solch einer Aktion hinreissen? Die Wohnungen werden von einer Gesellschaft mit Sitz in Zürich an Gäste vermietet. Gegenüber der NZZ bestätigt die Geschäftsführerin, dass sie selbst unter dem Namen Anna den Chat mit Aaron Singer geführt habe.

Sie sagt: «Ich habe in dem Moment sehr emotional reagiert. Wir sind Menschen, wir haben Emotionen. Als ich ihm schrieb, war ich sehr traurig.» Ihr sei bewusst, dass es sich um ein heikles Thema handle. «Das Gespräch eskalierte. Aber das gilt für beide Seiten.»

Sie habe ihn ursprünglich aber nicht angreifen wollen, sondern nur ihr Missfallen über die Regierung kundgetan. «Wenn ich einen Palästinenser sehe, würde ich auch ihm sagen: ‹Hört auf mit dem Töten.›»

Die Geschäftsführerin beteuert, mit Antisemitismus habe ihr Vorgehen nichts zu tun, sie kenne das Wort nicht einmal. «Ich habe kein Problem mit Menschen aus Israel, aber ich bin gegen das Vorgehen der israelischen Regierung. Was die Hamas gemacht hat, war Terror. Aber dass daraufhin Zehntausende von Palästinensern ihr Leben lassen müssen, geht nicht.»

Die Geschäftsführerin des Appartement-Anbieters erklärt ihr Handeln mit ihrer eigenen Herkunft. «In Vietnam hatten wir 100 Jahre Krieg. Die Chinesen waren da, die Franzosen, die Amerikaner. Millionen von Menschen haben wegen des Kriegs in meiner Heimat ihr Leben verloren. Meine Grosseltern waren bei den Vietcong, mein Grossvater wurde getötet.»

Sie sagt: «Krieg ist nie eine Lösung.»

Der Vorfall hat für die Geschäftsführerin Folgen. Nach knapp zwei Wochen wird sie von einer israelischen Handynummer mit Whatsapp-Nachrichten belästigt. Der Absender ist anonym, Aaron Singer kann sich auch nicht erklären, wer dahinterstecken könnte.

Auch das Unternehmen spürt die Konsequenzen. Das Reiseunternehmen Booking hat die Unterkunft von seiner Plattform entfernt. Auf Anfrage schreibt Booking, man dulde keine Diskriminierung. «Solche Fälle sind zwar sehr selten, aber wenn wir darauf aufmerksam gemacht werden, gehen wir dem immer umgehend nach und können Unterkünfte von unserer Plattform entfernen – so wie wir es in diesem Fall getan haben.»

Die Vermieterin nimmt den Hinauswurf hin. Wäre es ihr nur um das Geld gegangen, hätte sie geschwiegen, sagt sie. Aber sie könne auch mit ein paar tausend Franken weniger im Monat leben.

Das Ganze hinter sich gelassen

Aaron Singer und seine Familie übernachten schliesslich in einer anderen Wohnung in Zürich. Das Geld habe er zurückerstattet bekommen, sagt er.

Anzeige hat Singer hingegen nicht erstattet. Er habe in der Angelegenheit nicht mit vollem Namen hinstehen wollen. Seine Arbeit führt den Doppelbürger oft nach Zürich. Zu heikel, findet er – auch angesichts der aufgeheizten Stimmung. Zudem hätte eine Anzeige wohl nur wenig Aussicht auf Erfolg gehabt.

Singer hat das Ganze hinter sich gelassen. Diese Woche ist er wieder nach Israel gereist.

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