Samstag, Oktober 5

Der Hobbychauffeur wäre bei einem Schuldspruch «ruiniert», sagt sein Anwalt.

Im März 2020 verscheucht die Covid-Pandemie die Menschen von Europas Strassen. Drei Tage nachdem der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» verfügt hat, entnehmen die Ärzte am Universitätsspital Zürich einem hirntoten 9-jährigen Kind eine Niere. Die Eltern haben sich bereit erklärt, die Niere zu spenden. Es ist die Nacht auf Donnerstag, 19. März, um 2 Uhr 23 in der Früh.

Die eigentliche Destination der Niere wäre Spanien gewesen. Doch das Land verweigert wegen der Covid-Situation die Einfuhr.

Deshalb geht der rettende Anruf aus Zürich mitten in der Nacht nach Genua. Dort liegt ein 13-Jähriger schwer krank im Spital.

Keine zwei Stunden später reibt sich in der italienischen Hafenstadt ein Mann den Schlaf aus den Augen. Er setzt sich ans Steuer und prescht bald über die leeren Autobahnen im von der Pandemie schwer gezeichneten Norditalien.

Nach zehn Stunden liegt die Niere auf dem Operationstisch

Auch jenseits der Landesgrenze in der Schweiz rast er weiter. Er löst nicht weniger als fünf Radarfallen aus. Doch das ist ihm egal. Zehn Stunden später liegt die Niere in Genua auf dem Operationstisch. Da ist es 13 Uhr.

Der Chauffeur ist eigentlich Bauarbeiter von Beruf. Seit zwanzig Jahren transportiert er daneben ehrenamtlich Organe für eine gemeinnützige Organisation. Dazu benutzt er ein italienisches Ambulanzfahrzeug. Die verlorenen Arbeitsstunden auf der Baustelle holt er jeweils am Samstag nach.

Die Fahrt vom März 2020 ist seine erste ins Ausland. Dafür droht ihm nun, vier Jahre später, in der Schweiz eine Strafe.

Angeklagt ist er wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln. Der Staatsanwalt fordert 16 Monate Freiheitsstrafe und eine Busse von 2000 Franken. Dies zwar lediglich auf Bewährung – aber für den Mann geht es trotzdem um viel.

Als Bauarbeiter verdient er 1200 Euro im Monat und hat hohe Schulden, die in Zusammenhang mit einer Geschäftsgründung entstanden sind. Bei einem Schuldspruch kommen hohe Kosten auf ihn zu. «Dann ist er ruiniert», sagt sein Anwalt.

Die Verhandlung findet Anfang Juli am Bezirksgericht Zürich statt. Vor Gericht macht der 42-Jährige «bella figura», wie die Italiener zu sagen pflegen: Krawatte, blitzsaubere Turnschuhe, Glatze und akkurat gestutzter Unterlippenbart.

Der Gerichtsvorsitzende will von ihm wissen, ob er nach wie vor geständig sei. Natürlich, sagt der Mann sofort. Aber er sei überzeugt gewesen, korrekt zu handeln. Keinen Moment lang sei es ihm in den Sinn gekommen, dass er womöglich das Schweizer Gesetz missachte.

Es ist fraglos ein wilder Ritt, den er unternimmt, eine rasante Fahrt mit Blaulicht und Martinshorn. Sein Navigationsgerät spielt ihm einen Streich, als es ihn nicht durch den Gotthard lotst, sondern zum Furka- Autoverlad ins Wallis dirigiert. Ein weiteres Mal vertut er sich, als er von Zug nach Zürich den Weg via Biberbrugg wählt.

Bei Bennau fährt er ein erstes Mal in eine Radarfalle. In der Stadt Zürich erwischt es ihn auf der Seestrasse. Dort blocht er mit 106 statt der erlaubten 50 Kilometer pro Stunde.

Im Unispital wird er bereits erwartet. Er stürzt einen Kaffee hinunter und bricht nach «drei, vier Minuten» wieder auf, wie er sagt. Später hält er noch einmal: Er tankt an der Raststätte «San Gottardo Sud» und besucht die Toilette.

Auf der Rückfahrt wird er offenbar zunehmend nervös. Er drückt aufs Gaspedal. Weitere drei Male wird er entlang der Gotthardstrecke mit zum Teil stark überhöhter Geschwindigkeit geblitzt.

«Zehn Stunden ohne Unterbrechung am Steuer, ist das professionell?», will der vorsitzende Richter von ihm wissen. «Nein», antwortet der Mann. Er habe sich wohl selbst gefährdet. Andere aber nicht, betont er: Es habe ja so gut wie keine Autos auf den Strassen gehabt.

Die fehlende Ruhezeit ist jedoch nicht das Thema der Verhandlung. Es geht vielmehr um die Frage, wie schnell ein italienisches Ambulanzfahrzeug auf Schweizer Autobahnen unterwegs sein darf. Der Staatsanwalt sagt: «Niemand darf einfach so von Italien kommend mit Blaulicht und Sirene durch die Schweiz rasen.»

Klar ist: Ambulanzfahrzeuge geniessen bei Geschwindigkeitsübertretungen Straffreiheit. Gemäss Swisstransplant, der in der Schweiz massgebenden Organisation, fallen auch die Fahrzeuge mit Zweck Organtransplantation in diese Kategorie.

Das Gesetz unterscheidet grundsätzlich auch nicht zwischen in- und ausländischen Ambulanzfahrzeugen, wie das Bundesamt für Strassen auf Anfrage der NZZ bestätigt.

Straffreiheit – aber mit Bedingungen

Die Straffreiheit ist aber an Bedingungen geknüpft. Der Fahrer muss Warnsignale abgeben und «alle Sorgfalt walten» lassen, wie es im Gesetz heisst. Swisstransplant spricht in einer internen Weisung weiter von «Ausnahmefällen, bei denen Blaulicht eingesetzt werden kann»: wenn der Verlust von Spenderorganen droht, spezielle Verkehrssituationen herrschen oder wenn der Zustand des Empfängers kritisch ist.

Für den Staatsanwalt liegen im vorliegenden Fall keine Umstände vor, die ein zu schnelles Fahren rechtfertigen würden. Es habe keine Notlage bestanden. Ein Mensch könne auch mit einer statt zwei Nieren überleben.

Der Staatsanwalt verweist auf die Angaben von Swisstransplant, wonach die maximale Transportzeit für eine Niere 20 Stunden beträgt. Der Chauffeur habe also mehr als genügend Zeit gehabt und hätte nicht so schnell fahren müssen. Man könne folglich nicht von besonderen Gründen sprechen. «Es war nicht das Ziel, ein Leben zu retten. Er musste einen Transport durchführen. Mehr nicht.»

Zudem habe der Mann die Fahrt nicht ordnungsgemäss angemeldet. Und dies sei zwingende Voraussetzung für eine solche Ambulanzfahrt.

Der Verteidiger kontert. Er weist auf die «ausserordentliche Lage» von damals hin. Aufgrund von Covid sei der übliche Transport auf dem Luftweg nicht möglich gewesen. Nur schon das Testen der Flugzeugbesatzung hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen.

Stattdessen habe Swisstransplant den italienischen Behörden mitgeteilt, sie müssten den Transport selbst an die Hand nehmen. Und der Mann habe die Fahrt sehr wohl angemeldet, wenn auch in Italien.

Dass die Transplantation absolut dringlich gewesen sei, sei ebenfalls gut belegt. Der italienische Teenager habe seit drei Jahren mit nur noch einer Niere gelebt. Am 19. März habe er sich in sehr schlechtem Zustand befunden.

Der Anwalt sagt: «Mein Mandant ging davon aus, dass der Jugendliche in Genua sterben würde.» Er fordert einen vollumfänglichen Freispruch.

Am Ende der Verhandlung tritt der Beschuldigte nochmals ans Rednerpult. Er sagt: «Das Wichtigste ist, dass der Junge überlebt hat. Es geht ihm gut. Aber ich hätte nie erwartet, dass das Ganze ein solches Ausmass annimmt.» Er hoffe, dass am Ende nicht die guten Beziehungen zwischen der Schweiz und Italien beeinträchtigt würden.

Wie der Fall ausgeht, ist noch offen. Das Urteil wird Ende Juli erwartet.

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